Reise durch Polen

Der einzige Nachteil, den ein Urlaub in Polen hat, ist die Tatsache, dass man keinen Ort findet, in dem man nicht auf Spuren deutscher Verbrechen stößt. Aber das gilt ja am Ende für so ziemlich ganz Europa. Käme man damit nicht zurecht, bliebe einem bloß noch die Wahl, gleich ganz zu Hause zu bleiben.

Der Berlin-Warschau-Express ist so gut wie leer am Montagmorgen. Einige wenige Polen und eine Gruppe junger Franzosen sitzen im Großraumabteil. Erst hinter Frankfurt, jenseits der Oder auf polnischer Seite, füllt sich der Waggon langsam. Hier hält der Zug auch in kleineren Städten. In einer von ihnen, die Kutno heißt, steigen die Franzosen mit schweren Rucksäcken aus. Was mag es hier Interessantes geben? Die Landschaft in der Mitte Polens ist flach wie ein Teller und ebenso eintönig wie die Brandenburger Steppe auf der anderen Seite der Grenze. Der Zug jagt schnell über die schnurgerade Strecke. Erst als wir in den ersten Bahnhof in Warschau einfahren sollen, quält sich der Zug im Schritttempo über halb verwachsene Gleise zwischen Kleingärten hindurch. Nur knapp erreichen wir trotz Verspätung noch den Anschluss nach Krakau.

Seit ich meine Liebe für Zugrestaurants entdeckt habe, begreife ich nicht mehr, wieso ich Bahnreisen nicht schon immer so verbracht habe: im halbleeren Speisewagen mit einem schönes Glas Bier in der Hand ungestört auf die vorbeiziehende Landschaft schauen und sich so in einen angenehmen Halbschlaf versetzen lassen. Mögen doch die Ahnungslosen sich in Abteile quetschen und durch die Gänge drängeln!

In der Rangliste der mir sehr sympathischen Städte steht Krakau sehr weit oben, rangelt um den Spitzenplatz mit Lissabon. Ein großer Teil der herrlichen alten Häuser ist überraschenderweise auch zwanzig Jahre nach dem Ende des Sozialismus noch unsaniert, ganz anders als in Prag, wo die Altstadt inzwischen einer Puppenstube gleicht. Grau und trist wirken die bröckelnden Wände trotzdem nicht, denn an alle Häuser hat man bunte Werbeschilder und Leuchtreklame geklebt. Im jüdischen Viertel treiben sich wunderbar viele junge Menschen aus der ganzen Welt herum. Juden wohnen im jüdischen Viertel aber so gut wie keine mehr. Überall in der Stadt werben Plakate vielsprachig für Ausflüge: „Book here! Buchen Sie hier! Auschwitz, Ghetto, Schindlers Factory!“ In der alten Synagoge kann man Spuren einer ausgelöschten Kultur betrachten. Nebenan gibt es einige Restaurants, die jüdische Küche für Touristen anbieten. Da kann der deutsche Studienrat mit einem leicht überhöhten Trinkgeld seine Beklemmung wenigstens etwas mildern.

Mit einer Gruppe von Mediävisten bin ich vor Jahren schon einmal in der alten polnischen Hauptstadt gewesen. Als Vorwand hatte uns damals eine berühmte mittelalterliche Handschrift gedient, außerdem trieben uns die Dozenten in ein Dutzend katholische Kirchen. Besser in Erinnerung geblieben ist mir aber der vorzügliche Geschmack der Biermarke Warka Strong. Auch die Burg namens Wawel, die über der Stadt thront, hatten wir damals schon besucht. In der Kathedrale der Burg sind viele polnische Könige begraben. Sie werden dort von Menschen besichtigt, die sich für tote Könige interessieren. Auf der Spitze der Burg weht die polnische Flagge, auch drinnen findet man viele Fahnen, Adler, Schwerter und anderen patriotischen Krimskrams. Man lächelt unwillkürlich über diesen ein bisschen kindischen Nationalismus, aber sollte vielleicht bedenken, dass die Polen über Jahrhunderte gar keinen Staat hatten und nun ein bisschen was nachholen müssen.

Wir residieren in einem kleinen Hotel am Südufer der Weichsel. Über den Fluss spannt sich in der Nähe unserer Unterkunft eine ziemlich neue, bogenförmige Fußgängerbrücke. Auf ihr kann man einen polnischen Brauch kennen lernen, den ich hiermit als höchst niedlich für die Nachahmung auch in Deutschland empfehle. Am Geländer von Brücken befestigen polnische Paare nämlich kleine Vorhängeschlösser, auf denen die Namen der beiden Liebenden und ein Datum notiert sind. Manchmal wird der Text sogar vorher professionell eingraviert. Ich denke mir die Sache einfach mal so: Zur Hochzeit kaufen sich Mann und Frau ein Schloss, schreiben ihre Namen drauf, schließen es an und werfen den Schlüssel als Zeichen ewiger Treue in den Fluss. Einmal, als wir die Brücke auf dem Weg in die Altstadt passieren, dreht man gerade einen Film. Eine junge, hübsche Frau mit Zigarette in der Schnute rennt vor einer Kamera davon, die sie verfolgt. Vermutlich ist die Krakauer Brücke ein Requisit für polnische Liebesfilme, so ähnlich wie in deutschen Filmen seit Jahren der Berliner Fernsehturm im Hintergrund zu sehen sein muss, wenn zwei sich am Ende endlich küssen. Leider mache ich auch eine etwas ernüchternde Beobachtung: An einigen Stellen ist der Draht des Brückengeländers mit Gewalt aufgetrennt. Es scheint, als hätten die Polen auch für die Scheidung ein passendes Ritual gefunden. Sie tauchen nicht etwa im Fluss nach dem Schlüssel und lösen ihre Liebesfessel gütlich, sondern rücken nachts mit einer Metallschere an und lassen das Schloss, das doch für die Ewigkeit binden sollte, einfach verschwinden.

Meinen Flirt mit dem Vegetarismus muss ich in Polen unterbrechen. Denn so gut wie jedes polnische Gericht enthält Fleisch, genauer gesagt: enthält Fleisch, das wiederum Fleisch enthält, welches mit Würsten gefüllt ist. Schmecken tut’s aber leider nur allzu gut. Rätselhaft bleiben mir die polnischen Kellnerinnen. Es scheint unmöglich, diesen herben Schönheiten auch nur ein mildes Lächeln zu entlocken. Nicht das geringste Zeichen von Freude, Anerkennung oder auch nur Mitleid zeigen sie, wenn man sich höflich ein paar Floskeln auf Polnisch abringt. Wahrscheinlich liegt es an mir. Entgegen gängiger Vorurteile wird man in Polen aber – anders als in Italien oder Spanien – nirgends übers Ohr gehauen. Kein Verkäufer verlangt von Touristen mehr Geld als von Einheimischen. Und sogar, wenn man sich an einem Tresen nur ein Bier abholt, drückt einem der Kellner unaufgefordert eine Quittung in die Hand, so als wollte er beweisen, dass in Polen alles nach europäischer Norm vor sich geht.

Mit dem Bus fahren wir von Krakau in die Waldkarpaten im äußersten Südosten Polens. In diesem einsamen Gebirge soll es Luchse, Wölfe und Bären geben. Es handelt sich also gleichsam um die Lausitz Polens. Alle zwei Stunden hält der Bus für eine Raucherpause an einer Tankstelle oder einem der Busbahnhöfe. Das polnische Radio spielt Refrains, die im Rest Europas leider längst verdrängt sind, zum Beispiel: „A-la-la-la-la-long-a-la-la-la-la-long-a-la-la-la-la-long-long-li-long-long-long!“ In diesem Song geht es offenbar um die Länge irgendeines Gegenstandes, erst eine detaillierte Textanalyse könnte hier nähere Aufschlüsse geben.

Wie sich später herausstellen wird, habe ich zielsicher den unangenehmsten Ort in den Waldkarpaten als unser Domizil ausgesucht. Er liegt zwar unmittelbar am Fuß der höchsten Berge, besteht aber ausschließlich aus einigen Hotels, einem Restaurant und einer Bergwacht. Da in Polen die Ferienzeit noch nicht zu Ende ist, sind alle Unterkünfte überfüllt. Mit Mühe finden wir noch ein Zimmer in der billigsten Absteige des Ortes. Der Boden unseres Zimmers gibt an manchen Stellen nach. Der junge Mann an der Rezeption schaut zunächst überrascht, als wir nach Bettwäsche fragen, holt uns dann aber netterweise doch Bettzeug mit Pferdemotiven, vermutlich aus seinen eigenen Beständen.

Während unseres Aufenthalts im Gebirge merke ich wieder einmal, dass ich überhaupt kein Naturbursche bin, sondern ein Großstädter, der versehentlich im Körper eines Dorflümmels geboren wurde. Die Wasserversorgung in unserer Unterkunft ist in mehrerlei Hinsicht unregelmäßig. Am ersten Tag kommt nur kochend heißes Wasser aus den Hähnen. Der junge Mann an der Rezeption meint, dass es vielleicht nachts etwas besser werden könnte. Am Tag darauf ist das Wasser dann zwar wieder lauwarm, stinkt aber aufs Erbärmlichste nach Schwefel, respektive: faulen Eiern. Während meine Liebste, die Erfahrungen als Globetrotterin in Südamerika hat, sich unbeeindruckt mit Hilfe einer Flasche Mineralwasser duscht, bekomme ich zunehmend schlechte Laune. Dazu trägt auch bei, dass sich die Tür jenes Örtchens, das man hier füglich nur als Scheißhaus bezeichnen kann, nicht nur nicht abschließen, sondern noch nicht einmal zumachen lässt. Ich verdränge die Notdurft bis zum Frühstück im benachbarten Restaurant. Dort ist alles hochmodern und schick. Es gibt auf der Toilette sogar einen Bewegungssensor, der das Licht einschaltet. Sitzt man aber auf der Schüssel, schaltet sich das Licht automatisch nach drei Sekunden wieder aus und es wird stockdunkel. Wieder hell wird es nur, wenn ich den Arm ganz nach oben recke und bewege. So sitze ich denn zehn Minuten im ständigen Wechsel von Tag und Nacht und winke beim Scheißen. Die Moral von der Geschichte: Die Moderne hat ihre Tücken wie die Steinzeit ihre Unannehmlichkeiten.

Die Wanderungen auf die Gipfel der Bergkarpaten führen zunächst durch dichten Wald. Ist man zwei Stunden aufwärts geschnauft, tritt man plötzlich hinaus auf eine Lichtung. Nun hat man die waldlosen Gipfelwiesen erreicht, von denen aus man die ganze, herrliche Landschaft überblicken kann. Auf den Wanderwegen sind so viele Menschen unterwegs wie in einer Einkaufsstraße. Schon nach wenigen Stunden sind wir so geübt darin, auf Polnisch „Guten Tag!“ zu sagen, dass wir für Einheimische gehalten und nach dem Weg gefragt werden. Dann freilich bleiben wir notgedrungen sprachlos. Nur manchmal verwechselt meine Liebste die Worte für „Hallo!“ und „Danke!“. Die polnischen Wanderer schauen dann etwas verdutzt, weil sie nicht genau wissen, wofür ihnen gerade gedankt wird. Aber solange man nicht versehentlich mit „Arschloch!“ oder „Blitzkrieg!“ grüßt, geht das wohl in Ordnung.

Wir reisen weiter nach Lublin, der Metropole des Ostens. In der wunderschönen, noch halb verfallenen Altstadt finden wir ein Quartier. In die Fenster von leer stehenden Häusern haben Künstler alte Fotos von früheren Bewohnern geklebt. Wenn man durch die Gassen läuft, kann man ungefähr erahnen, was für eine faszinierende Vielvölkerstadt hier vor dem Krieg existiert haben muss. Vom jüdischen Viertel existieren in Lublin nicht einmal mehr die Häuser, denn die Deutschen haben sie während der Besatzungszeit planmäßig abgerissen. In dem kleinen Teatr NN, das seine Heimat in einem alten Stadttor hat, haben junge Polen eine Ausstellung über das ausgelöschte jüdische Leben eingerichtet und ein Archiv angelegt, in dem die Namen und Geschichten der Bewohner der vernichteten Viertel gesammelt werden.

Vor dem Krakauer Tor, durch das sich die Touristen und Einheimischen zum alten Marktplatz von Lublin drängeln, steht jeden Tag eine junge Frau. Sie hält einen Besenstiel in der Hand, an dessen Ende ein Pfeil aus Pappe befestigt ist. Darauf wird für den Sommerschlussverkauf eines Klamottenladens geworben, der keine zehn Meter entfernt ist. Bis zu 70% Rabatt werden auf dem Schild versprochen. Die junge Frau nutzt die Zeit ihrer nicht sehr anspruchsvollen Arbeit dazu, sich weiterzubilden. In der freien Hand hält sie ein Buch, in dem sie aufmerksam liest. Als ich aufmerksam hinschaue, sehe ich, dass es sich um eine Biografie von Adolf Hitler handelt. Was erzählt sie wohl abends ihren Eltern oder ihrem Freund? „Mein Gott, die Arbeit war heute wieder öde! Erst habe ich vier Stunden das Schild gehalten, dann eine Klappstulle gegessen und einen Kaffee getrunken und dann noch einmal vier Stunden das Schild gehalten. Naja, aber immerhin weiß ich jetzt, dass Adolf Hitler gerne Möhren gegessen hat.“

Die Sonne brennt unbarmherzig, während wir das ehemalige Konzentrationslager Majdanek besuchen. Schatten findet man nur in den finsteren Baracken, in denen auch die historischen Ausstellungen untergebracht sind. In einer Vitrine kann man Bücher aus der Bibliothek der SS anschauen, in denen die Männer der Wachmannschaft schmökerten, bevor sie am nächsten Tag wieder Menschen erschlugen, ersäuften, erschossen und verbrannten, um dann mit der Asche der toten Menschen ihren Gemüsegarten zu düngen. Zum Beispiel: Die jüdische Weltpest von Hermann Esser, einem Duzfreund Hitlers. Er arbeitete nach dem Krieg in leitender Position im Bayerischen Reisebüro. Im Juli 1980 gratulierte ihm der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) in seiner Eigenschaft als „Staatsminister a.D.“ offiziell zum 80. Geburtstag. Zum Beispiel: Lord Cohn. Die Verjudung der englischen Oberschicht von Ernst Clam alias Erich Czech. Nach frühen Bestsellern wie Hitler. Eine deutsche Erhebung veröffentlichte er nach dem Krieg Romane unter dem Namen Erich Galdiner. Zum Beispiel: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes von Hans Friedrich Karl Günther, dem führenden Rasseforscher des Dritten Reiches und Vordenker von Euthanasie und Endlösung. Nach dem Krieg veröffentlichte er weiter, so etwa die Schrift Der Begabungsschwund in Europa, in der er vor einer zunehmenden Verdummung der Bevölkerung warnte, weil sich die sittlich Haltlosen unkontrolliert und die Begabten viel zu selten fortpflanzten. Der Untergang des Abendlandes könne nur durch eine überlegte Familienpolitik aufgehalten werden, die von den Tatsachen der Vererbung, Siebung, Auslese und Ausmerze ausgehen müsse.

Während wir in Majdanek unterwegs sind, werden auch mehrere israelische Schulklassen über das Gelände geführt. Zwischen den jüdischen Kindern hindurch drängle ich mich durch die ehemalige Gaskammer, um ins Freie zu kommen. Die Schüler werden nicht nur von Lehrern, sondern auch von Leibwächtern begleitet. An der letzten Station des Rundgangs, dem Mausoleum, halten sie gemeinsam eine Andacht ab und entrollen die Flagge Israels. Nicht weit entfernt befinden sich die Gräben, in denen am 3. November 1943 alle Juden des Lagers, die noch am Leben waren, erschossen wurden. Die Operation trug den Namen „Aktion Erntefest“.

In einem Schaukasten der historischen Ausstellung liegt eine englische Zeitung aus dem Jahr 1944 mit einem der ersten Berichte über das Konzentrationslager nach seiner Befreiung. Der letzte Satz des Artikels lautet: „This camp as it stands to-day, is a grim reminder of that streak of utter inhumanity which is found in every German.”

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