Mut zur Courage

Die folgenden – ja, was eigentlich? sagen wir mal: – Reflexionen habe ich am 9. März 2013 bei der Gedenkveranstaltung „Lasst uns das Erinnern nicht vergessen“ zum Jahrestag der Dresdner Bücherverbrennung am 8. März 1933 im Kabarett Breschke & Schuch vorgelesen.

Jedes Jahr im Februar spricht man in Dresden über Zivilcourage. Was ist das überhaupt? Zivilcourage ist im Deutschen ein Fremdwort. Wie kommt es wohl, dass wir uns die Zivilcourage von gleich zwei fremden Völkern, den alten Römern und den neuen Franzosen, ausborgen müssen? Offenbar reicht uns der deutsche Mut nicht, ja nicht einmal die Kühnheit, die Tapferkeit und die Furchtlosigkeit zusammen ergeben Zivilcourage. Erklären kann man sich das wohl so: Die Deutschen zeigten Mut in ihrer Geschichte immer nur auf Befehl. Auf Kommando stürmten sie auf dem Schlachtfeld voran und sprangen dem Erbfeind tapfer an die Gurgel. Aber wieder zu Hause wurde von den Kriegshelden kein Mut mehr verlangt, sondern Gehorsam. Hier galt es, den Anordnungen des Kaisers, Führers oder Staatsratsvorsitzenden Folge zu leisten, ansonsten still zu sein und sich unauffällig zu verhalten. Dass man auch im alltäglichen Leben, also in Zivil, Mut zeigen kann, war den Deutschen so fremd, dass sie seltene Fälle dieser Art Courage nannten. Denn die unerreichten Meister des zivilen Ungehorsams, von den Deutschen drum bewundert und verachtet, sind nun einmal die Franzosen. Was die Deutschen hingegen sehr gut können: über Zivilcourage debattieren und sie energisch von anderen einfordern.

Mit zwei ortsfremden Freunden namens Maik und Sebastian drängelte ich mich einmal in einer Sommernacht durch die Alaunstraße in Dresden. „Was ist denn hier los?“, fragte mich Sebastian. „Ist heute irgendein Fest oder so?“ – „Nein“, erwiderte ich. „Sobald im Frühjahr die Temperaturen den Gefrierpunkt überschreiten, versammelt sich in den Nächten die Jugend der ganzen Stadt hier auf dieser Straße, um das Leben zu feiern. Gelegentlich kommt es zu kleineren Rangeleien, meist aber herrscht eine Atmosphäre des Friedens und der Freude, wie sie nur eine Kombination von maßvollem Alkoholgenuss, schönem Wetter und aufkeimender Sexualität zustande bringt.“ Die beiden nickten anerkennend.
Da geschah vor unseren Augen Folgendes: Zwei junge Männer näherten sich einem anderen jungen Mann, der sich mit Hilfe von zwei Krücken fortbewegte. Sie traten ihm die Krücken weg, sodass er auf die Straße fiel. Dann lachten sie den am Boden Liegenden aus und zückten ihre Mobiltelefone, um den Hilflosen zu filmen. „Das haben die jetzt nicht wirklich gemacht, oder?“, fragte Sebastian. Es ist erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit der Körper reagiert, wenn er in eine solche Ach-du-Scheiße-das-passiert-ja-gerade-wirklich-jetzt-musst-du-es-beweisen-Situation gerät. Die Frequenz der Herzschlags beschleunigt sich augenblicklich auf das Doppelte, ein finsteres Grollen erschallt aus der Magengrube, die Muskeln zucken nervös, der Blick wird starr. „Ihr lasst jetzt sofort den Mann in Ruhe!“, rief Maik und schritt auf einen der beiden Täter zu. „Wieso denn, macht doch Spaß!“, rief der andere und kickte lachend eine Krücke quer über die Straße. Ein Kreis von Gaffern hatte sich inzwischen gebildet. Ich fummelte in meiner Tasche nach dem Telefon, um die Polizei rufen zu können. Wieso grinsten da diese Typen am Straßenrand so dämlich? Filmte da nicht einer mit? Maik fasste den ersten Täter am Hemd und deutete einen linken Schwinger an.
Da ging der zweite dazwischen und rief: „Halt! Stopp! Alles okay, Alter! Alles easy! Das war bloß ein Test!“ Wir standen verwirrt. Der Gestürzte erhob sich lachend und trat ganz ohne die Hilfe von Krücken an uns heran. „Wir machen eine Studie über Zivilcourage“, sagte er. „Wir testen das Verhalten der Menschen. Ihr habt echt gut bestanden, alles in bester Ordnung!“ – „Ihr seid doch bescheuert, ihr Arschgeigen!“, erwiderten wir einstimmig. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Zorn rieselte durch unsere Leiber. In der nächsten Kneipe werteten wir das Erlebte aus: Diese Idioten hatten uns zu Versuchskarnickeln gemacht, vermutlich um sich mit dem Testergebnis bei „Verstehen Sie Spaß?“ zu bewerben oder ihren Soziologieprofessor zu beeindrucken. Wir waren in die Hände von deutschen Helden gefallen.

Es gibt freilich auch unter den Deutschen lobenswerte Beispiele für Mut im Alltag. Ich habe einen Freund, der das Maximum dessen verkörpert, was man unter Zivilcourage verstehen kann. Er zieht die Notbremse, wenn im Zug Judenwitze erzählt werden. Er legt sich mit Schaffnern an, die sich weigern, Behinderten beim Ausstieg zu helfen. Er faltet Frührentner zusammen, die sich über den Lärm von spielenden Kindern beschweren. Dieser Mann ist ein Muster des Mutes, ein Prachtexemplar seiner Gattung, und verdient es gewiss, wenn ich ihm hier ein bescheidenes Denkmal setze, indem ich seinen Namen mitteile: Es handelt sich um den Dresdner Dichter Stefan Seyfarth.
Mich selbst hingegen kann ich in Sachen Zivilcourage nicht sonderlich rühmen, was gewiss damit zusammenhängt, dass ich ein Mensch bin, der von Natur aus eher zur Feigheit neigt. Mir fällt nur ein nennenswertes Erlebnis ein: Meine Liebste und ich waren eben aus dem Urlaub zurück, wir standen nachts auf dem Bahnhof des alten Flughafens Berlin-Schönefeld und warteten auf den letzten Zug nach Dresden, der sich verspätete. Eine rote Regionalbahn machte sich derweil zur Abfahrt in die Brandenburgische Steppe bereit. Drei besoffene Jugendliche stolperten über den Bahnsteig in Richtung des Zuges. Einer von ihnen konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und sackte auf den Boden. „Los, steh uff!“, brüllte ihn einer seiner beiden Kumpels an. „Das ist der letzte Zug, den müssen wir kriegen!“ Währenddessen winkte der zweite verzweifelt dem Zugführer, der dem Geschehen mit behaglichem Lächeln aus seinem Fensterchen zusah. Bald verschwand das Gesicht, die Türen schlossen sich und der Zug setzte sich pünktlich in Bewegung. „So eine Scheiße!“, fluchten die beiden Jungs, die sich noch auf den Beinen halten konnten. Ihr Kollege am Boden sah dem abfahrenden Zug gleichgültig hinterher. Wahrscheinlich glaubte er sich durch seine innere Wärme für eine Nacht im Freien ausreichend gewappnet. Seine zwei Freunde schleppten ihn in ein gläsernes Wartehäuschen auf dem Bahnsteig, wo sie auf den Schreck erst einmal drei neue Biere öffneten. Ein offenbar obdachloser alter Trinker saß schon dort und stieß mit den drei Jungs auf eine goldene Zukunft an.
Wir harrten unterdessen weiter auf die Ankunft unseres Zuges, die angezeigte Verspätung erhöhte sich alle zehn Minuten um zehn Minuten. „Guck mal, der haut den!“, sagte meine Liebste plötzlich. Und wirklich: Der angesoffenste der drei Teenager versetzte dem Obdachlosen Schläge auf den Kopf. Die anderen Wartenden auf dem Bahnsteig, die das Geschehen so wie wir bemerkt hatten, verkrümelten sich leise. Ich öffnete die Tür des Wartehäuschen und fiel plötzlich ganz instinktiv in die Rolle meines alten Physiklehrers: „Was ist denn hier los?“, rief ich. Augenblicklich zerrten zwei der Jugendlichen den Schläger von dem Alten fort. Einer rannte auf mich zu: „Eh, alles okay, nicht die Polizei rufen, ja? Der schlägt den nicht mehr, versprochen! Der ist bloß besoffen! Alles okay, ja? Sie rufen nicht die Polizei, ja?“ Ich versprach ihm, nicht die Polizei zu rufen, wenn hier keine Scheiße mehr passiere. Der geprügelte Alte lächelte inzwischen wieder so unbeschwert, als ob er im Suff die Schläge für Liebkosungen gehalten hätte. Wir verließen das Wartehäuschen. Die Jugendlichen und der Alte tranken gemeinsam weiter in anscheinend unverwüstlicher Harmonie.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Heldentat minderen Ausmaßes auch vollbracht hätte, wenn meine Liebste nicht dabei gewesen wäre. Eine Freundin berichtete mir einmal von einer Studie, vermutlich erstellt von amerikanischen Wissenschaftlern, nach welcher der Mut eines Menschen messbar zunehme, wenn er von einer liebenden Person berührt wird. Das klingt nicht abseitig, denn jeder dürfte die Wirkung schon einmal verspürt haben, die eine Hand auf der Schulter auslösen kann. Dass Liebe Mut schenkt, ist dabei keine ganz neue Einsicht. In der Armee der griechischen Spartaner waren jene Einheiten für besondere Tapferkeit bekannt, in denen Paare liebender Männer gemeinsam kämpften. Als meine Liebste und ich in unserem Zug nach Dresden saßen, erzählten wir dem Schaffner von dem Vorfall und fragten, ob er nicht zur Sicherheit jemanden dort vorbeischicken könne. „Ich wird das mal melden“, sagte er. Seine Gesichtsmuskulatur modellierte derweil den Satz „Ja, ja, Arschlecken!“

Dem Dresdner Februar verdanke ich auch eines der deprimierendsten Erlebnisse meines Lebens. Mein schon erwähnter Freund und Kollege Stefan Seyfarth und ich hatten die schlechte Idee gehabt, nach einer Lesung in Leipzig am 14. Februar mit dem Regionalexpress zurück nach Dresden zu fahren. Im Leipziger Hauptbahnhof machte sich schon vor dem Bahnsteig ein Block von einhundert schwarz vermummten Gestalten bemerkbar. Polizisten in Kampfmontur bewachen die Türen des Zuges. Waren es Antifaschisten oder Neonazis, die da auf die Reise zur Demonstration in die Landeshauptstadt warteten? Wir konnten uns nicht sicher sein, bekanntlich haben sie sogenannten autonomen Nationalisten in den letzten Jahren ihr Äußeres immer mehr ihren Gegnern angepasst, tragen Palästinensertücher und Che-Guevara-Shirts. Dass die Rechten den Linken ihren Stil entwenden, ist übrigens kein neues Phänomen. Die frühe Skinhead-Kultur in England war bekanntlich auch eine proletarische Spielart des Punk, bevor rechte Hooligans das Outfit okkupierten. Die Rechten müssen sich notwendigerweise immer bei den Linken bedienen, wenn sie sich in der Opposition befinden und sich als Rebellen gerieren wollen. Eine eigene revolutionäre Tradition haben sie ja nicht, sie kennen nur die Macht und den Gehorsam in Uniform. Die grobschlächtigen Gesichter verrieten trotz aller schwarzen Tarnung die braunen Kameraden letztlich doch.
Wir setzten uns in den Zug und hofften darauf, dass die Polizisten diese Horde wenigstens in separate Waggons sperren würden. Das taten sie denn auch: unter anderem in unseren. Noch unangenehmer als für uns war das gewiss für die Gruppe russischer Kinder, die neben uns Platz genommen hatten. Mit einem Schlag stürmte die Truppe den Zug, begleitet nur von wenigen gepanzerten Ordnungshütern, die sich an den Türen postierten. Das Kräfteverhältnis betrug ungefähr zweihundert zu zwei, sodass selbst Stefan Seyfarth die Faust in der Tasche ließ. Die nächsten zwei Stunden verbrachten wir in hautnahem Kontakt mit Menschen, die man gern einige hundert Meilen von sich entfernt hätte. Die Luft wurde stickig. Nichts passierte. Das waren nicht mehr die betrunkenen Schläger in Bomberjacken und Springerstiefeln aus den Neunzigern, die uns heute als fast schon komische Figuren erscheinen. Nein, geduldig standen da in den Gängen des Zuges hoch disziplinierte und erschreckend normale Faschisten. Man merkte: Sie hatten Anweisung, auf den Anreise keinen Anlass zur Klage zu geben, um ihr Ziel auch sicher zu erreichen. Ein Anführer lief durch die Reihen und hielt die Kameraden durch Späße und ideologische Schulung bei Laune. Charlotte Knobloch, damals die Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, sehe immer aus, „als wäre sie gerade mit dem Besen gelandet“. Eine ganz eigene Theorie hatte sich der kleine Führer zurechtgelegt: „Ich bin mir sicher, Charlotte Knobloch und Angela Merkel sind ein und dieselbe Person. Oder habt ihr die beiden schon einmal zusammen gesehen?“ Dann hielt er einen Vortrag zum Nahostkonflikt. Das Mitleid eines Nationalsozialisten müsse den Palästinensern im Gaza-Streifen gelten. Deren Raketenabschüsse seien kein Terror, sondern nur Selbstverteidigung gegen die Übermacht die Juden. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ bewiesen ja, dass die Zionisten die Errichtung Israels lange schon geplant hätten. Der Holocaust sei nur ein von den Juden erfundener Vorwand gewesen. Man müsse ja nur bei Wikipedia die Einwohnerzahl Israels nachschlagen und könne sehen, dass die angeblich ermordeten Juden heute dort lebten.
In Coswig nutzten wir die Gelegenheit, um uns aus dem Zug zu drängeln. Hinter uns grinsten die Stärkeren im frohen Bewusstsein ihres Sieges. Sie hatten den Zug für anderthalb Stunden in eine national befreite Zone verwandelt und niemand hatte ihnen das Territorium streitig gemacht. Während sie triumphierten, standen Stefan und ich schweigend auf dem Bahnsteig, nicht einmal als Besiegte, sondern nur als Untätige. Eine Regionalbahn aus Elsterwerda fuhr ein. Wir schluckten kurz, als sich wieder hunderte schwarz vermummte junge Menschen ins Freie ergossen. Aber sogleich erklangen „Antifascista“-Rufe und wir waren erleichtert. Die Antifaschisten stimmten den Schlachtruf „Nazis klatschen, das macht Spaß!“ an, stürmten über die Gleise und stiegen mit uns in die S-Bahn ein. Wir begaben uns ins Fahrradabteil, in dem auch einige Fans von Dynamo Dresden saßen. Ihre Sympathie mit den Antifaschisten hielt sich in Grenzen: „Dieses Zeckenpack! Was sich in Deutschland alles herumtreiben darf!“, brüllte ein Schwarzgelber. „Die sollten diese ganzen beschissenen Demonstrationen alle verbieten!“, ergänzte ein anderer. Er dürfte die Meinung der meisten Dresdner treffend formuliert haben. Stefan und ich verließen den Zug beim Bahnhof Dresden-Neustadt, erschöpft und missmutig. An einem Vormittag hatten wir sämtliche Konfliktparteien Dresdens getroffen – nur Demokraten waren wir nirgends begegnet.

„Verbieten müsste man sowas!“ – Dieser Satz zählt ja überhaupt zu den liebsten Marksprüchen der Deutschen. Die Bücherverbrennung der Faschisten ist in der Geschichte unseres Landes ja leider kein Einzelfall. Wenn aber heute vielfach über eine angebliche neue Zensur geschrien wird, dann scheint mir das unangebracht. Wir leben heute in einer permissiven Gesellschaft. Früher durfte man vieles nicht sagen und eine kleine Anspielung, ein halb versteckter Witz, eine Ironie konnte von der größten Wirkung sein. Heute hingegen darf jeder alles sagen, es bewirkt aber meistens nichts. Menschen, die heutzutage davon reden, die Meinungsfreiheit werde von einer Zensur einer sogenannten political correctness unterdrückt, sind entweder Ignoranten oder heuchlerische Maulhelden. Leider hat die Marketingstrategie dieser Möchtegernverfolgten, die sich selbst als Märtyrer im Kampf gegen eine angebliche Diktatur des Mainstreams inszenieren, beim breiten Publikum unvermindert großen Erfolg. In den Talkshows sitzen Leute, die zur besten Sendezeit Israel kritisieren, und behaupten, man dürfe in Deutschland ja Israel nicht kritisieren. Von den Titelseiten der Zeitungen grinsen immer neue Arschgesichter, die schreiben dürfen, dass Türken dumm, Griechen faul und Zigeuner kriminell sind – und die schreiben, man dürfe in Deutschland so etwas ja nicht schreiben. Jeder Vollidiot fühlt sich berechtigt, den hirnverbranntesten Stuss unter dem Vorwand der politischen Unkorrektheit ins Publikum zu trompeten. Die Journaille nimmt solche gefahrlosen Provokationen natürlich gerne auf, die Öffentlichkeit klatscht Beifall oder empört sich erwartungsgemäß. Sobald ihnen widersprochen wird, jaulen die Maulhelden: „Hilfe! Man will mich unterdrücken!“ Dabei wären sie selbst die ersten, die eine Gelegenheit, ihre Gegner mundtot zu machen, ohne Zögern nutzten. Karl Marx schreibt irgendwo, die bürgerliche Gesellschaft habe die Religionsfreiheit gar nicht verwirklicht, denn anders als das Wort verspreche, sei die Gesellschaft ja gar nicht frei von Religion. Gelegentlich muss ich unwillkürlich Ähnliches über die Pressefreiheit denken.
Ich möchte damit jedoch nicht einer Einschränkung der Meinungsfreiheit das Wort reden. Zum Abschluss meine unmaßgeblichen Gedanken zu dieser Frage. Zunächst einmal führt schon das Wort „Meinungsfreiheit“ in die Irre, denn Meinungen befinden sich in Köpfen und lassen sich naturgemäß gar nicht unterdrücken. Man sollte also von Redefreiheit sprechen, denn es kann nur um die Äußerung von Meinungen gehen. Eine Rede aber ist eine Handlung. Und Taten können durch das Gesetz verboten werden, wenn sie die Rechte von Menschen verletzen. Es spricht also prinzipiell nichts dagegen, wenn zum Beispiel bestimmte Lügen verboten werden. Trotzdem hat auch das Modell einer völligen Redefreiheit, wie sie in den USA praktiziert wird, einen gewissen Reiz. Es spricht für ein großes Vertrauen in den Sieg der Vernunft im öffentlichen Diskurs, wenn man selbst Beleidigungen, Lügen und Hasspropaganda nicht verbietet. Jedenfalls denke ich, man sollte die Grenzen der Redefreiheit lieber zu weit als zu eng stecken. Das gleiche Prinzip scheint mir auch für den Umgang mit Nazis richtig. Es spricht nichts dagegen, Organisationen wie die NPD, sofern sie nachgewiesenermaßen Straftaten begünstigen, zu verbieten. Aber ich möchte denen, die fordern, man solle Naziaufmärsche gesetzlich untersagen, widersprechen. Ich bin dafür, dass die Nazis marschieren, denn dann kann man sie sehen und nachzählen. Freilich ist es dann stets auch legitim, ihnen den öffentlichen Raum durch passiven Widerstand streitig zu machen. Wer auf diese Weise zivilen Ungehorsam übt, der möge aber bitte auch die juristischen Konsequenzen standhaft hinnehmen. Wenn man sich schon als Rebell betätigen will, dann sollte man doch bitte vor Gericht nicht rumjammern und seine Unschuld beteuern, sondern beherzt wie Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer ausrufen: „Ein Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht Ihrer Strafen. Und nun verurteilen Sie mich!“

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