Die Impfgegner und der Antisemitismus

Manchmal stößt man beim Stöbern in vergessenen, alten Schriften zufällig auf Stellen, die in überraschender Weise die Gegenwart erhellen. So geschah es mir, als ich jüngst das Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) von Eugen Dühring las. Der heute vergessene Mann war ein pseudowissenschaftlicher Scharlatan, der allerdings zeitweise mit seinen ökonomischen und philosophischen Schriften einigen Einfluss besonders auf die entstehende Sozialdemokratie ausübte. Friedrich Engels fühlte sich immerhin veranlasst, eine 300 Seiten starke Kampfschrift gegen Dühring zu verfassen – die als eine der schönsten polemischen Schriften in deutscher Sprache im Gegensatz zu den Werken Dührings noch heute einen Wert besitzt.

Originell war Eugen Dühring selbst einzig in seinem Judenhass: Er war der radikalste deutsche Antisemit des 19. Jahrhunderts. Sein bis zum Wahnwitz gesteigerter Hass gegen die Juden kommt dem von Adolf Hitler nahe. Seine Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage gehört zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus. Als Mittel zur „Entjudung“ der Welt empfahl Dühring eine „systematische Agitation gegen den Judeneinfluss“, die „Einschränkung, Einpferchung und Abschliessung“ der Juden, ihre Entrechtung und Enteignung durch „Ausnahmegesetzgebung“ und schließlich in der fünften (!) Auflage der Schrift im Jahre 1900 die „Vernichtung des Judenvolkes“.

In diesem Klassiker des deutschen Antisemitismus finden wir nun die folgende Passage, in der die angeborene Neigung der Juden, „aus allen Canälen der Menschheit Geld herauszusaugen“, mit dem gesetzlichen „Impfzwang“ in Verbindung gebracht wird:

Der ärztliche Beruf ist wohl unter allen gelehrten Geschäftszweigen nächst der Literaten am stärksten von Juden besetzt. Die künstliche Beschaffung einer Menge von Nachfragen nach ärztlichen Diensten ist ein Gesichtspunkt, dessen Bethätigung immer ungenirter geworden ist. Socialökonomisch betrachtet, also auch von dem Impfaberglauben selbst abgesehen, ist der Impfzwang immer ein Mittel, durch welches dem ärztlichen Gewerbe eine unfreiwillige Kundschaft zugeführt wird. So etwas ist mehr als Monopol; es ist ein Zwangs- und Bannrecht und weniger unschuldig als die mittelalterlichen, die sich doch nur auf so etwas wie Brauen und Mahlen, aber doch nicht bis in unser Blut hinein erstreckten. Die Juden sind es aber auch hier gewesen, die durch die gesammte Presse und durch ihre Leute und Genossen im Reichstage das Zwangsrecht als selbstverständlich befürwortet, dem Streben der Aerzte überall den Stempel blosser Geschäftlichkeit aufgedrückt und die Besteuerung der Gesellschaft durch Aufnöthigung ärztlicher Dienste zum Princip gemacht haben.

Man versteht vielleicht schon nach der Lektüre dieses kleinen Abschnittes, wieso Friedrich Nietzsche seinen Zeitgenossen Eugen Dühring unter die „Menschen des Ressentiment“ einreihte und einmal ziemlich ungehalten als „das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten“, bezeichnete. Aber kommt uns die ganze Argumentation nicht auch merkwürdig aktuell vor? Völlig wirkungslose, ja womöglich schädliche Impfungen werden der gutgläubigen Bevölkerung aufgezwungen – von Ärzten, Journalisten und Politikern, denen es gar nicht um die Gesundheit, sondern einzig um den Profit geht. Der tapfere, politisch inkorrekte Eugen Dühring aber enthüllt den Schwindel, prangert die große Verschwörung an und ruft die Deutschen auf zum Widerstand gegen den Impfzwang.

Sind nun etwa alle heutigen Impfgegner Antisemiten? Gewiss nicht. Die radikale Impfgegnerschaft tritt heute vor allem als romantischer Antikapitalismus und esoterische Wissenschaftsverachtung auf. Die meisten wohlmeinenden Impfgegner dürften gar nicht wissen, in welcher schändlichen und gefährlichen Tradition sie stehen. (Die sogenannte „Germanische Neue Medizin“ allerdings führt den Kampf gegen das Impfen durchaus offen antisemitisch.) Gelegentlich mag es durchaus auch Fälle berechtigter Kritik an bestimmten Impfungen geben, die von Pharmaunternehmen aus materiellem Interesse propagiert werden, obwohl der Nutzen zweifelhaft ist. So etwas kommt vor im Kapitalismus. Aber die Wahnidee, als beruhte das Impfen überhaupt auf einem Aberglauben und nicht im Gegenteil die radikale Impfgegnerschaft, die entspringt zweifellos der antisemitischen Tradition. Das gilt auch für die damit eng zusammenhängende fixe Idee, Betrügerärzte, Lügenpresse und Volksverräter hätten sich in einer großen Verschwörung zusammengetan, um das Blut der wehrlosen Deutschen zu vergiften und auszusaugen. Wenn auf diese Verbindungen hier hingewiesen wird, dann nicht, um eine Gruppe von Menschen pauschal als antisemitisch zu verdammen, sondern um auf die Virulenz gefährlicher Denkmuster aufmerksam zu machen, gegen die nur Aufklärung immunisieren kann.

In gewisser Weise beginnt die Aufklärung mit dem Kampf für das Impfen. Das Impfen verkörperte gleichsam das Ideal der Aufklärung: Wissenschaftliche Erkenntnis besiegt den religiösen Aberglauben und verbessert dabei praktisch das Leben der Menschen. Kein Geringerer als Voltaire setzte sich für das Impfen schon in seiner frühen Schrift Philosophische Briefe (1733) ein. Voltaire empfahl den Franzosen in dem Essay Über die Pockenimpfung, die in England – natürlich noch in recht primitiver Form – praktizierte Kinderimpfung zu übernehmen, mit der „Tausenden von Menschen das Leben gerettet“ werden könne. Die Franzosen seiner Zeit wehrten dieses Ansinnen bis dahin nicht nur aus abergläubischer Furcht ab, sie fühlten sich sogar den englischen „Narren“ überlegen, die „ihre Kinder mit Pocken anstecken, um sie zu hindern, welche zu haben“. (Nicht verschwiegen werden darf allerdings, dass auch Voltaire ein ziemlicher Judenhasser war, auf den sich in dieser Hinsicht auch Dühring berufen konnte – ein trauriges Beispiel für die Dialektik der Aufklärung.)

Wer gegen das Impfen kämpft, der verlässt die lichte Seite der europäischen Aufklärung. Und gesellt sich – willentlich oder unwillentlich – in den Schatten zu Kameraden von höchst fragwürdigem Charakter.

***

Literaturhinweise:

Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort. Karlsruhe und Leipzig: H. Reuther, 1881, Zitat S. 19f.

Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. 3., durchges. und verm. Aufl. 1894. In: MEW, Bd. 20, S. 1-303.

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York: de Gruyter, 1980, Bd. 5 (2. Aufl. 1988), S. 245-412, Zitat S. 370.

Voltaire: Über die Pockenimpfung. In: Philosophische Briefe. Hg. und übersetzt von Rudolf von Bitter. Frankfurt am Main u.a.: Ullstein, 1985, 11. Brief, S. 43-46, Zitate S. 43 und 46.

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Kommentare
  1. Reinhard

    Jessas, diese impfdiskussion wird ja immer absdruser. Da willst du einfach nur absolut stichhaltige, garantiert neutrale, glaubwürduge Beweise dafür, daß Impfung wirklich das ist, was die Befürworter versprechen (wirkungsvoll, unschädlich) und dann liest du diesen Artikel und mußt feststellen: „scheiße, ich bin Nazi!“ Nicht Papst, nicht Deutschland, sondern Nazi. Gehst gegen Nazis auf die Straße und bist selber einer. Schön, daß es Menschen wie Michael Bittner gibt, die selbst denkenden Zeitgenossen ohne jeglichen Populismus die Welt mit ihren Zusammenhänge so schön einfach erklären. Danke Michael, danke…

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