Sizilianischer Frühling (2): Die Mitte der Welt

Auch im Paradies ist Krise. Ich sehe es nicht nur an den geschlossenen Geschäften, die mit dem Schild Affittasi offensichtlich schon lange vergeblich nach neuen Mietern suchen. Auch die Besitzerin einer Osteria in Caltanissetta erzählt, sie merke, wie die Leute immer weniger Geld ausgäben. Am deutlichsten sieht man es aber an den sizilianischen Katzen. Diese Katzen sind klein und mager und überhaupt nicht zutraulich. Nähert man sich ihnen, laufen sie ängstlich davon. Offenbar müssen sie sich auf den Straßen durch Jagd selbst ernähren, werden von den Leuten nicht gefüttert, sondern davongejagt. In einem Amphitheater, in dem einst die Römer sich an blutigen Gladiatorenkämpfen ergötzten, schaue ich eine Viertelstunde lang dem Kampf zwischen einer Katze und einigen Tauben zu. Die Katze schleicht sich immer wieder an den Schwarm heran, doch die Tauben sind aufmerksam und flattern ein paar Meter weiter, bevor ihr Feind zum Sprung ansetzen kann. Hartnäckig verfolgt die Katze den Schwarm durch das ganze Theater, bis die Vögel schließlich ganz davonfliegen. Der Beobachter zieht aus diesem Schauspiel die Lehre: Wo gehungert wird, da ist es mit dem Frieden vorbei.
Auf Sizilien scheint aber – wenigstens dem fremden Betrachter – der Frieden noch intakt. Obwohl auf der Insel wenig mehr als Obst und Gemüse produziert wird, kommen doch die Einwohner irgendwie zurecht. Fast alle Sizilianer, so lese ich, arbeiten im Dienstleistungssektor. Und wirklich hat man das Gefühl, dass hier jeder jedem etwas verkauft. Einheimische Bauern bieten geröstete Artischocken und Ziegenkäse an, Afrikaner Feuerzeuge und Plastikspielzeug. Aber in deutschen Zeitungen liest man: „Der Süden Italiens stirbt!“ Wenn das wahr sein sollte, dann handelt es sich wenigstens um einen sehr sanften und schönen Tod. Falls das Abendland demnächst untergeht, möge es sich an Sizilien ein Beispiel nehmen. Vielleicht haben die Sizilianer über Jahrhunderte der Entbehrung aber auch einfach gelernt, trotz widrigster Umstände zu überleben und dabei nicht einmal die Freude am Dasein zu verlieren. Auch in diesem Fall könnte Europa von Sizilien einiges lernen.

Im Museo dello Sbarco in Catania wird die Geschichte der Landung der alliierten Truppen auf Sizilien im Jahr 1943 erzählt. An der Südküste Siziliens begann die Invasion, die rasch zur Eroberung der Insel führte. Auf die Niederlage, welche die italienischen Truppen trotz der Unterstützung durch deutsche Soldaten erlitten, folgten bald die Absetzung Mussolinis und die Kapitulation Italiens. Die Sizilianer begrüßten die Engländer und Amerikaner 1943 mehrheitlich begeistert als Befreier. Im Süden Italiens hatte der italienische Faschismus von Anfang an weniger Anhänger gehabt als im Norden, wo sein eigentliches Zentrum lag. Die norditalienischen Faschisten sind den Sizilianern noch heute böse, am liebsten würden sie sich vom Süden Italiens ganz trennen. Die Süditaliener sind für diese Rassisten ohnehin schon halbe Afrikaner. Die Einwohner des Südens erwidern solche Vorwürfe gelassen. Ein Pizzabäcker aus Bari versicherte mir einmal, das wirkliche Italien fange südlich von Neapel erst an.
Die Italiener haben den Faschismus erfunden, aber sie haben ihn nie mit dem ernsthaften Irrsinn der Deutschen praktiziert. Die Deutschen starben und töteten für ihren Adolf bis zum bitteren Ende, die Italiener haben stattdessen ihren Benito vorher entlassen und erschossen. Sie vergaßen nie ganz, dass ihr Duce auch ein Schauspieler war, ein Großsprecher und Scharlatan. Sieht man Aufnahmen von Mussolinis Reden, erblickt man einen Clown, lächerlicher noch als Adolf Hitler. Doch über einen Clown, der über die Gewalt des Staates verfügt, wagt keiner mehr zu lachen. Faschismus ist lächerlich und braucht die Macht, um überhaupt ernst genommen zu werden. Das heißt aber auch: Menschen sind keineswegs bloß deswegen schon harmlos, weil sie lächerlich wirken. Nur die Gewalt fehlt ihnen noch. Als Mussolini mit der Niederlage von Sizilien seine Rolle ausgespielt hatte, pfiffen die Italiener ihn von der Bühne. Nur ein Weilchen noch deklamierte er im Norden vor seinen treuesten Bewunderern weiter. Die Deutschen hingegen spielten in Hitlers blutiger Wagneroper trotz aller Katastrophen die Nibelungentreue brav bis zum totalen Untergang. Es gilt wohl doch Adornos Wort: „Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“

Lange Zeit war Sizilien für Europa, was Europa für die Welt ist. In der antiken Welt lag Sizilien genau im Zentrum, mitten im Mittelmeer, dem einzigen Ozean dieser Zeit. Die fruchtbare und reiche Insel war umkämpft zwischen allen Völkern, immer wieder eroberten neue Invasoren Sizilien. Doch die Eroberer wurden immer wieder rasch heimisch und vermischten sich mit den Einwohnern, die schon da waren. Auf die Phönizier folgten die Griechen, auf die Griechen die Römer. Auf die Römer folgten die Germanen, die Araber, die Normannen, die Franzosen, die Spanier. Und selbst das Königreich Italien wurde von vielen Sizilianern nach der Vereinigung mit dem Norden noch als Besatzungsmacht empfunden. Zu blutigen Konflikten kam es immer dann, wenn eine neue herrschende Clique die anderen Einwohner völlig zu entrechten versuchte.
All die verschiedenen Völker malten mit am Bild Siziliens, fügten auf der Leinwand neue Figuren und Gebäude hinzu, übermalten Bestehendes, das doch immer weiter durchschimmerte. Die Kathedralen der Insel, von denen fast jedes Städtchen eine besitzt, sind Zeugnisse dieser Geschichte der Verschmelzung. Aus den Wänden der Kathedrale von Syrakus ragen noch heute die Pfeiler eines alten griechischen Tempels hervor. Sie wurden eingemauert, wie auch die alten Götter dem neuen Gott nicht einfach geopfert, sondern einverleibt wurden. Es gibt auch Kirchen, die zur Hälfte aus arabischen, zur anderen Hälfte aus normannischen Bauten gefügt sind. Auf den Feldern wachsen Zitronen und Orangen, die Araber auf die Insel brachten, neben Kartoffeln und Tomaten, die von den Spaniern aus Amerika entwendet wurden. Aber auch die vielgestaltigen Gesichter der Sizilianer tragen Spuren der jahrhundertelangen Vermischung. Der rothaarige Italiener, der in einem Park in Catania mit seiner Freundin streitet, bezeugt vielleicht noch heute die Manneskraft der Normannen. So zeigt Sizilien im Kleinen ein Bild der europäischen Kultur, die ihre Größe gerade der Tatsache verdankt, dass hier, in der Mitte der Welt, mehr als irgendwo sonst, die verschiedensten Völker und Religionen sich über Tausende von Jahren gegenseitig befruchtet haben.

Ich lese in einem mitgebrachten Buch die Worte von Joseph Roth:

Welch eine lächerliche Furcht der Nationen, und sogar der europäisch gesinnten unter den Nationen, diese und jene „Eigenart“ könnte verloren gehn und aus der farbigen Menschheit ein grauer Brei werden! Aber Menschen sind keine Farben und die Welt ist keine Palette! Je mehr Mischung, desto mehr Eigenart! … Das ist die höchste Stufe der „Humanität“.

***

Der erste Teil dieses Reiseberichtes ist in diesem Journal bereits unter dem Titel Erwachen im Süden erschienen.

Literaturhinweis:

Joseph Roth: Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Essays, Reportagen, Feuilletons. Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Nürnberger. Zürich: Diogenes, 2013, Zitat S. 124

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert