Die Schuld der Fremden

Bei einem Sonntagsausflug kehrte ich jüngst in einem kleinen Provinzstädtchen in ein Café ein. Einziger anderer Gast war eine alte Frau, die bei Kaffee und Kuchen der Kellnerin ihr Leid klagte. Es ging, wie gewöhnlich bei älteren Leuten, um die Gesundheit. Aber es dauerte nicht lange, bis das dieser Tage unvermeidliche Wort „Ausländer“ fiel. „Ich muss beim Arzt ewig warten!“, klagte die alte Frau. „Aber für die Ausländer haben sie Zeit!“ – „Genau so isses!“, stimmte die Kellnerin nickend ein.

Man kann sich gut vorstellen, wie die alte Frau im Wartezimmer zum ersten Mal im Leben Menschen begegnet war, die fremd aussahen, sich in einer fremden Sprache unterhielten und dann auch noch – früher drankamen. Kann man es ihr verdenken, dass sie sich ärgerte? Und doch frage ich mich: Warum ärgert sich die alte Frau nicht über junge Ärzte, die keine Lust haben, sich auf dem Land niederzulassen? Warum beschwert sie sich nicht über Krankenkassen, die kein Geld ausgeben wollen, um den Ärztemangel in der Provinz zu beenden? Warum protestiert sie nicht gegen Politiker, die es versäumen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung zu organisieren? Aber zurzeit sind in Deutschland eben mal wieder die Fremden an allem schuld. Es gibt nichts, was die Ausländer uns gerade nicht wegnehmen: die Arbeitsplätze und die Renten, die Wohnungen und die Frauen, die Luft zum Atmen und den Sonnenschein.

Ich finde, wir sollten den Flüchtlingen vielmehr herzlich danken. Erst seit sie an unsere Tür klopfen, haben wir plötzlich erkannt, dass es vielleicht doch keine gute Idee ist, Waffen in alle Welt zu liefern und Bürgerkriege in der Fremde anzuheizen. Aber noch mehr haben uns die Flüchtlinge gelehrt: Unsere Politiker merken auf einmal, dass in unseren Großstädten bezahlbare Wohnungen gebaut werden müssten. Und sogar die deutschen Kinder haben Grund, den Flüchtlingskindern zu danken, denn jetzt werden endlich jene Lehrer eingestellt, die schon seit Jahren fehlen.

Die Flüchtlingskrise wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, unser ganzes Land solidarischer zu machen. Aber Solidarität kennen viele Deutsche nur noch, wenn es darum geht, gemeinsam gegen Ausländer zu hetzen. Letztlich zeigt der Fremdenhass nur, wie fremd auch die Einheimischen einander geworden sind.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

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Kommentar
  1. Minus

    Und das Allerschlimmste: Die Flüchtlinge sind auch noch Schuld am Erfolg der AfD!

    Schlage vor, allzu besorgte Bürger in sichere Drittstaaten abzuschieben.

    Antworten

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