Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Der poetische Titel dieses Abschnitts lässt uns die Leiden des jungen Hitlers erwarten. Und tatsächlich finden wir alle Zutaten für einen Künstlerroman. Wir lernen ein von der Gesellschaft verkanntes Genie kennen, das – ganz auf sich allein gestellt in der Metropole Wien – darbt und sich kümmerlich zuerst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Kunstmaler nährt, dabei aber doch nie den Traum aus den Augen verliert, eines Tages „Baumeister“ zu werden. In seiner spärlichen Freizeit macht sich der Künstler überdies noch mit der deutschen Literatur vertraut und studiert die politischen Verhältnisse, sodass sich seine „Weltanschauung“ bereits endgültig formen und festigen kann.

Diese poetische Selbststilisierung des Protagonisten steht jedoch im Widerspruch zu einigen überlieferten Tatsachen. Der junge Hitler führte in Wien, nach zwei gescheiterten Bewerbungen an der Kunstakademie, ein völlig perspektivloses Leben. Für eine Karriere als Architekt fehlten ihm alle Voraussetzungen. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass Hitler wirklich zeitweise auf dem „Bau“ gearbeitet hat, denn er war schwächlich und überdies faul. Tatsächlich führte er wohl, solange das ererbte und geliehene Geld reichte, das Leben eines Taugenichts. Danach rutschte er in die Armut, zeitweise vielleicht gar in die Obdachlosigkeit, bevor er in einem „Männerheim“ Asyl und ein leidliches Auskommen als Postkartenmaler fand. Aus dem Sohn eines respektablen Beamten war – nach bürgerlichen Maßstäben – ein Versager geworden. Er war nicht nur in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht aufgestiegen, sondern sogar tief abgerutscht, aus dem Kleinbürgertum ins Lumpenproletariat. Erst nachträglich konnte er dieser Katastrophe mit Mühe einen Sinn geben:

Das danke ich der damaligen Zeit, daß ich hart geworden bin und hart sein kann. Und mehr noch als dieses preise ich sie dafür, daß sie mich losriß von der Hohlheit des gemächlichen Lebens, daß sie das Muttersöhnchen aus den weichen Daunen zog und nun Frau Sorge zur neuen Mutter gab, daß sie den Widerstrebenden hineinwarf in die Welt des Elends und der Armut und ihn so die beiden kennen lernen ließ, für die er später kämpfen sollte.

Ob Hitler sich wirklich schon in Wien eine umfassende Weltanschauung zulegte, ist sehr zweifelhaft. Er erklärt dem Leser:

Ich las damals unendlich viel und zwar gründlich. […] In wenigen Jahren schuf ich mir damit die Grundlagen eines Wissens, von denen ich auch heute noch zehre. […] In dieser Zeit bildete sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich einst mir so schuf, nur weniges hinzuzulernen gemußt, zu ändern brauchte ich nichts.

Was die Lektüre angeht, wären die Versicherungen des Autors gewiss noch glaubhafter, führte er auch nur ein einziges gelesenes Buch namentlich auf. Im politischen Feld stand der junge Hitler vermutlich auch nicht als Beteiligter, sondern eher als verwirrter und isolierter Zuschauer neben dem Kampf der Parteien und Nationalitäten, mit dem Wien damals den kommenden Weltkrieg und die folgende Revolution vorwegnahm. Die Sozialdemokraten konkurrierten mit den starken protofaschistischen Gruppen der „Christlich-Sozialen“ und der „Alldeutschen“, zugleich wurde im Vielvölkerstaat des Habsburgerreiches schon ein Kampf der Nationalismen ausgefochten wie später in ganz Europa.

Auch wenn die äußeren Begebenheiten der politischen Erweckung, von der Hitler erzählt, erfunden sein sollten, bleibt die Geschichte doch psychologisch interessant. Wie Hitler wurden ja Millionen deklassierte oder verängstigte Bürgersöhne nach dem Ersten Weltkrieg zu Faschisten. Und soziale Abstiegsangst nährt auch in unseren Tagen die neofaschistischen Bewegungen in der westlichen Welt. Ausgangspunkt von Hitlers Entwicklung war das eigene Scheitern. „Fünf Jahre Elend und Jammer“ erlebte er in Wien. Erst diese persönliche Erfahrung brachte ihn dazu, sich um die „soziale Frage“ zu kümmern. Hitler schildert das Milieu der Unterschicht durchaus eindrücklich, wenn auch mehr mit Ekel als mit Mitgefühl. Er gelangt sogar zu der Einsicht, die Armen seien nicht selbst schuld an ihrer Lage, sondern meist „Opfer schlechter Verhältnisse“. Damit entschuldigte er allerdings zugleich auch sein eigenes Versagen. Warum schloss er sich nun aber nicht den Gewerkschaften oder den Sozialdemokraten an? Hitler behauptet, er habe sich durch Diskussionen und Lektüre marxistischer Schriften und Zeitungen ein Urteil gebildet. Tatsächlich war es wohl der Standesdünkel, der Hitler von einer Verbrüderung mit seinen Leidensgenossen abhielt. Hitler mochte materiell ein Prolet sein, ideell fühlte er sich noch immer dem Bürgertum zugehörig:

Ich weiß nicht, was mich nun zu dieser Zeit am meisten entsetzte: das wirtschaftliche Elend meiner damaligen Mitgefährten, die sittliche und moralische Rohheit oder der Tiefstand ihrer geistigen Kultur.

Die Arbeiterbewegung erweckte beim verkrachten Bürgersohn nicht Hoffnung, sondern Angst:

Mit welch anderen Gefühlen starrte ich nun in die endlosen Viererreihen einer eines Tages stattfindenden Massendemonstration Wiener Arbeiter. Fast zwei Stunden lang stand ich so da und beobachtete mit angehaltenem Atem den ungeheuren menschlichen Drachenwurm, der sich da langsam vorbeiwälzte. In banger Gedrücktheit verließ ich endlich den Platz und wanderte heimwärts.

Der junge Hitler steht daneben, zwei Stunden lang ohne Luft zu holen, und schaut zu, bevor er endlich nach Hause geht und sich die Schlafmütze über den Kopf zieht. In dieser Unfähigkeit zur Solidarisierung, dem Bedürfnis, in der verachteten Masse nicht zu versinken, sondern über sie hinauszuragen, liegt der Grund, warum Hitler ein „Sonderling“ blieb. Zur Gemeinschaft musste Hitler gezwungen werden und wurde es, nämlich durch den Krieg, der ihm später zu einem wirklichen Erweckungserlebnis wurde.

Schon in Wien will der Autor Hitler „Marxismus und Judentum“ als Grundübel durchschaut haben. Tatsächlich spiegeln die Passagen zu diesen beiden Themen aber die ausgebildete nationalsozialistische Ideologie Anfang der zwanziger Jahre. Gleichwohl lohnt sich ein genauer Blick, stellen diese Ausführungen doch auch Hitlers Antwort auf die „soziale Frage“ dar, die ihn in so große Angst versetzt hatte. Der Sozialismus war für Hitler jedenfalls keine Antwort, sondern ein nicht minder bedrohliches Phänomen:

Man lehnte da alles ab: die Nation, als eine Erfindung der „kapitalistischen“ (wie oft mußte ich nur allein dieses Wort hören) Klassen; das Vaterland, als Instrument der Bourgeoisie zur Ausbeutung der Arbeiterschaft; die Autorität des Gesetzes, als Mittel zur Unterdrückung des Proletariats; die Schule, als Institut zur Züchtung des Sklavenmaterials sowohl als aber auch der Sklavenhalter; die Religion, als Verblödung des zur Ausbeutung bestimmten Volkes; die Moral, als Zeichen dummer Schafsgeduld usw. Es gab da aber rein gar nichts, was so nicht in den Kot oder Schmutz einer entsetzlichen Tiefe gezogen wurde.

Ganz entsetzliche Schauergedanken in der Tat! Geradezu revolutionär! Welche Antwort bietet nun aber Hitler? Er propagiert nicht weniger als „[t]iefstes soziales Verantwortungsgefühl zur Herstellung besserer Grundlagen unserer Entwicklung“, ja darüber hinaus fordert er gar die „Beseitigung […] grundsätzlicher Mängel in der Organisation unseres Wirtschafts- und Kulturlebens“! Phrasenhafte Formulierungen wie diese könnten gut auch in einem CDU- oder SPD-Parteiprogramm unserer Tage stehen. Der Leser ist überrascht: Hitlers sozialpolitische Ideen waren in keiner Weise revolutionär, sondern kreuzbrav und spießbürgerlich. Von den Unternehmern verlangte er moralisches Verhalten, vom Bürgertum, auf „allgemein menschlich berechtigte Forderungen“ der Arbeiter einzugehen – Versöhnung statt Klassenkampf.

Die „soziale Frage“ war für Hitler eigentlich eine nationale. Sein Ideal war nicht die Gerechtigkeit, sondern das „Volk“. Dass den Arbeitern durch die Armut die „nationale Begeisterung“ abhanden kam, dass sie dem Volk „verloren“ gingen, das war es, was ihn eigentlich bekümmerte. Wie schade war es doch um das „kerngesunde Blut“, das auch in den deutschen Arbeitern floss! Ihre Lage sollte nicht verbessert werden, um sie zu verbessern, sondern um die Einheit der Volksgemeinschaft wiederherzustellen:

Die Frage der „Nationalisierung“ eines Volkes ist mit in erster Linie eine Frage der Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse als Fundament einer Erziehungsmöglichkeit des einzelnen. Denn nur wer durch Erziehung und Schule die kulturelle, wirtschaftliche, vor allem aber politische Größe des eigenen Vaterlandes kennen lernt, vermag und wird auch jenen inneren Stolz gewinnen, Angehöriger eines solchen Volkes sein zu dürfen. Und kämpfen kann ich nur für etwas, das ich liebe, lieben nur, was ich achte, und achten, was ich mindestens kenne.

Nicht aus Mitleid und nicht aus Gerechtigkeitsgefühl forderte Hitler, die Lage der Arbeiter zu verbessern. Er wollte sie national gesinnt und kampftauglich machen, wie ein General, der seinen Soldaten am Tag vor der Schlacht jovial eine Extraportion Kesselgulasch genehmigt. Die Politologin Barbara Zehnpfennig meint, die Ideologie Hitlers sollte nicht nationalsozialistisch, sondern „sozialnationalistisch“ genannt werden. Sozialnationalismus: ein Begriff, der auch die neofaschistischen Bewegungen der Gegenwart bestens beschreibt.

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Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

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