Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Gelegentlich hört man, der extreme Antisemitismus sei bloß eine persönliche Macke Hitlers gewesen, habe jedenfalls zum Erfolg des Nationalsozialismus nicht entscheidend beigetragen. Tatsächlich war der Antisemitismus aber das Zentrum von Hitlers Weltanschauung. Die propagandistisch so erfolgreiche Verknüpfung von nationalistischer und sozialistischer Rhetorik wurde erst möglich durch die ausgrenzende Verunglimpfung des marxistischen und anarchistischen Internationalismus als „jüdisch“. Auch hätte Hitler die Gunst des deutschen Mittelstandes nicht erringen können, wäre es ihm durch den Antisemitismus nicht möglich gewesen, zugleich gegen den „jüdischen“ Bolschewismus der Arbeiter und gegen den „jüdischen“ Kapitalismus der Eliten zu agitieren. Aber auch noch in den kleinsten Fragen diente „der Jude“ Hitler immer wieder dazu, Argumentationslücken zu stopfen, Widersprüche zu verkleistern und unsichtbare Ursachen dingfest zu machen. Stets war für Hitler der Jude „Schlüssel zur Lösung des ganzen Rätsels“.

Dies zeigt sich auch in seiner Stellungnahme zum Föderalismus. Diese urdeutsche Tradition musste Hitler in doppelter Hinsicht verdächtig sein: Zum einen widersprachen die traditionellen regionalen Identitäten seinem völkischen Nationalismus, der nur noch Deutsche kannte. Zum anderen konnte eine totale Herrschaft, wie sie Hitler plante, natürlich auch keine föderalistische Gewaltenteilung dulden. Nach 1933 wurden denn auch die Länder rasch entmachtet. Um seinen – historisch betrachtet sehr undeutschen – Zentralismus zu rechtfertigen, denunzierte er den Föderalismus als jüdische Taktik zur Zersetzung der deutschen Nation. So heißt es über die Abneigung der Bayern gegenüber dem preußisch dominierten Reich:

Mochte ruhig Bayern gegen Preußen und Preußen gegen Bayern streiten, je mehr desto besser! Der heißeste Kampf der beiden bedeutete für den Juden den sichersten Frieden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war damit vollständig abgelenkt von der internationalen Völkermade, man schien sie vergessen zu haben.

Noch heute machen Faschisten, die im Volk stets eine Einheit sehen müssen, für Entzweiungen dieses Volkes gerne eine kleine, bösartige, fremde Minderheit verantwortlich. Auch bei vielen Bürgern, die den Parteienstreit verabscheuen und sich nach Harmonie sehnen, stoßen solche Erklärungen auf Zustimmung. Nicht ungeschickt setzte Hitler den jüdischen Popanz ein, um sich als Versöhner der zerstrittenen Deutschen zu präsentieren. Er wandte sich auf diese Weise nicht nur „gegen die wahnwitzige Verhetzung der deutschen Stämme untereinander“, sondern auch gegen den Streit der Konfessionen, der ebenfalls vom Juden angeheizt werde, um die Deutschen zu entzweien:

Der Jude hat jedenfalls das gewollte Ziel erreicht: Katholiken und Protestanten führen miteinander einen fröhlichen Krieg und der Todfeind der arischen Menschheit und des gesamten Christentums lacht sich ins Fäustchen.

Auf diese Weise stilisierte sich Hitler einmal mehr zum Erlöser in der Nachfolge Christi. Hitlers Mission beschränkte sich allerdings auf die Errettung des Ariers. Wer über gefestigte Nerven verfügt, gönne sich die volle Dröhnung:

Man halte sich die Verwüstungen vor Augen, welche die jüdische Bastardisierung jeden Tag an unserem Volke anrichtet, und man bedenke, daß diese Blutvergiftung nur nach Jahrhunderten oder überhaupt nicht mehr aus unserem Volkskörper entfernt werden kann; man bedenke weiter, wie diese rassische Zersetzung die letzten arischen Werte unseres deutschen Volkes herunterzieht, ja oft vernichtet, so daß unsere Kraft als kulturtragende Nation ersichtlich mehr und mehr im Rückgang begriffen ist und wir der Gefahr anheimfallen, wenigstens in unseren Großstädten dorthin zu kommen, wo Süditalien heute bereits ist. Diese Verpestung unseres Blutes, an der Hunderttausende unseres Volkes wie blind vorübergehen, wird aber vom Juden heute planmäßig betrieben. Planmäßig schänden diese schwarzen Völkerparasiten unsere unerfahrenen jungen blonden Mädchen und zerstören dadurch etwas, was auf dieser Welt nicht mehr ersetzt werden kann. Beide, jawohl, beide christliche Konfessionen sehen dieser Entweihung und Zerstörung eines durch Gottes Gnade der Erde gegebenen edlen und einzigartigen Lebewesens gleichgültig zu. Für die Zukunft der Erde liegt aber die Bedeutung nicht darin, ob die Protestanten die Katholiken oder die Katholiken die Protestanten besiegen, sondern darin, ob der arische Mensch ihr erhalten bleibt oder ausstirbt. Dennoch kämpfen die beiden Konfessionen heute nicht etwa gegen den Vernichter dieses Menschen, sondern suchen sich selbst gegenseitig zu vernichten. Gerade der völkisch Eingestellte hätte die heilige Verpflichtung, jeder in seiner eigenen Konfession dafür zu sorgen, daß man nicht nur immer äußerlich von Gottes Willen redet, sondern auch tatsächlich Gottes Willen erfülle und Gottes Werk nicht schänden lasse.

Eine recht eigentümliche Vision der Ökumene! In Taizé stießen diese Pläne heute wohl nicht auf ungeteilte Zustimmung. In den dreißiger Jahren begeisterten sie in Deutschland aber doch Millionen von Christen, insbesondere Protestanten, deren Glaube schon so hohl geworden war, dass er sich leicht mit völkischer Ideologie auffüllen ließ. Den Leuten, die nicht mehr so recht an Gott glauben konnten, präsentierte Hitler immerhin noch einen Satan, den Juden, und sich selbst als weltlichen Erlöser. Dabei konnte er an die judenfeindlichen Traditionen des Christentums anschließen und so den Eindruck eines fundamentalen Bruches ohne große Mühe vermeiden. Folgte er denn nicht, als er 1938 die Synagogen anzünden ließ, nur dem entsprechenden Vorschlag Martin Luthers?

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Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

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