Rigaer Straße, 19 Uhr

Kurz hinter der Kreuzung mit der Samariterstraße ist die Rigaer Straße seit einigen Tagen vollständig abgesperrt, um eine Großbaustelle zu sichern. Der Schutz von Passanten, Bauarbeitern und Polizisten ist nach Ansicht der Stadt nicht anders zu gewährleisten. Ab und zu laufen und fahren noch Menschen ahnungslos in die Sackgasse, stoppen verdutzt am Zaun und kehren dann missmutig um. Eine sehbehinderte Frau fragt, ob es hier nicht doch noch irgendeinen Weg gebe, aber es ist kein Durchkommen. Ein großes Schild hinterm Bauzaun kündigt an, hier entstünden in Kürze ein neuer Lidl-Markt, Mietwohnungen und eine Kita. Auf einem Verkehrsschild vor dem Bauzaun hat jemand eine andere Botschaft hinterlassen: „Hier entsteht nichts Gutes“.

Kurz vor 19 Uhr versammeln sich wie jeden Tag um diese Zeit Menschen, die Krach schlagen wollen aus Protest gegen das Bauprojekt. Es verkörpert die Gentrifizierung, die das ganze Samariter-Viertel in den letzten Jahren stark verändert hat; beinahe ein Dutzend neue Blöcke, vor allem mit noblen Eigentumswohnungen, haben fast alle alten Baulücken gestopft. Zwei hippiesk anmutende Familien mit kleinen Kindern sind gekommen, dazu einige junge Leute. Sie haben in ihren Rucksäcken Büchsen und Töpfe als Schlagwerk dabei, die Stimmung ist fröhlich. Eine Frau trägt einen grünen Stoffbeutel, auf dem „Refugees Welcome“ steht.

Hinterm Bauzaun taucht ein älterer Mann in kariertem Hemd auf, wahrscheinlich ein Mitarbeiter der zuständigen Bau- oder Sicherheitsfirma: „Ihr seid ja wieder pünktlich da!“ – „Komm doch rüber auf die richtige Seite!“, ruft eine junge Frau. Die beiden streiten unaufgeregt ein wenig herum. „Ihr wisst schon, dass einige eurer Freunde meine Mitarbeiter nachts mit Flaschen beworfen haben?“, fragt der Mann hinterm Zaun. „Dafür habe ich absolut kein Verständnis!“ Er bekommt keine Antwort. „Wundert mich ja, dass der Zaun überhaupt noch steht“, sagt die junge Frau. „Ach, der stand auch schon ein paar Mal nicht mehr“, erwidert einer der anderen Demonstranten lachend. „Den Zaun stellen wir ganz schnell wieder auf, keine Angst“, sagt der Arbeiter hinterm Zaun.

Das Gespräch endet, denn es ist nun 19 Uhr, Zeit für den Krach. Der Besitzer des indischen Restaurants kommt während des Lärms vor die Tür, mit dem Ausdruck der Verzweiflung im Gesicht: „Es nervt! Muss das denn sein?! Jeden Tag dasselbe! Jeden Tag!“ Offensichtlich hat er Angst, dass der Lärm seine Gäste vertreibt, die ohnehin wohl schon spärlicher in die neue Sackgasse finden. Die Protestierer, alles junge Deutsche, beachten den Inder nicht. Um 19:10 Uhr endet das Charivari pünktlich, wie es begonnen hat. Die Instrumente werden eingepackt, die kleine Gruppe löst sich schnell auf. Am nächsten Morgen, so steht zu vermuten, wird hinterm Zaun weitergebaut. Und am Abend wird wieder Krach gemacht.

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