Weder rechts noch links

Ab und an bimmelt bei manchem deutschen Bürger abends das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ein junger Mensch, der im Auftrag eines Soziologieprofessors oder eines Institutes zur Marktforschung um Meinungen bittet. Hat der Bürger gute Laune und nicht gerade Bratkartoffeln auf dem Herd stehen, dann erbarmt er sich und schenkt dem jungen Menschen ein paar Meinungen. Gefragt wird bei solchen Gelegenheiten oft: „Wenn Sie Ihren ökonomischen Status beschreiben sollten, zu welcher Gruppe würden Sie sich zählen: zur Oberschicht, zur Unterschicht oder zur Mittelschicht?“ Oder der neugierige Anrufer fragt: „Wenn Sie Ihre politische Haltung auf einer Skala einordnen müssten, wo sähen Sie sich selbst: links, in der Mitte oder rechts?“

Verlässlich lautet die Antwort der meisten Deutschen auf solcherlei Fragen: „Ich bin Mitte!“ Alles andere würde auch verwundern. Die Mitte gilt dem braven Bürger als sicherer Ort. Wer zu hoch hinaus will oder zu tief abrutscht, der gefährdet nach allgemeiner Auffassung sich selbst. Keiner möchte gern außen am Rand stehen, denn Außenseiter gelten als verdächtig. Man klebt ihnen Zettel auf den Rücken und Kaugummi ins Haar. Man nennt sie Extremisten. Sicherer ist’s auf jeden Fall, sich selbst zur Mitte zu bekennen, ganz unabhängig davon, was man wirklich denkt oder tut. Die Tugend liegt nun einmal in der Mitte.

Die Meinungsforscher raufen sich aber natürlich die Haare, wenn alle Menschen das Gleiche meinen. Sie leben ja davon, Unterschiede festzustellen. Darum behelfen sie sich inzwischen dadurch, dass sie die Mitte noch einmal aufteilen: in eine linke Mitte und eine rechte Mitte, eine obere Mitte und eine untere Mitte. Die beliebteste Antwort der Bürger ist dann allerdings, wenig überraschend: die mittlere Mitte. Mittelfristig wird man wohl noch in die Mitte der mittleren Mitte vordringen.

Politiker, die um Stimmen kämpfen, müssen auf die Vorlieben der Wähler Rücksicht nehmen. Dem Mittelstand gilt darum natürlich die größte Sorge aller Parteien. Und die meisten Parteien beanspruchen für sich, die Mitte des politischen Spektrums auszumachen. Doch es kann nur einen geben! Wenn eine Partei schon die Mitte besetzt hat, dann muss die nächste behaupten, sie verkörpere die „neue Mitte“, die übernächste überrascht mit der Erkenntnis, die „wahre Mitte“ werde allein von ihr repräsentiert, bevor die überübernächste dann die „geheime Mitte“ entdeckt – und so weiter ins Unendliche.

Solche politischen Manöver sind harmlos und werden von den meisten Bürgern auch durchschaut. Gefährlich hingegen ist die derzeit herrschende Mode politischer Bewegungen, sich selbst als „weder rechts noch links“ auszugeben. Dass damit etwas nicht stimmen kann, könnte schon einleuchten, wenn man bedenkt, wie diese Formel sehr früh von den Faschisten als Slogan gebraucht wurde. Sie waren die ersten modernen Politiker, die von sich behaupteten, das ganze Volk allein verkörpern zu können. Darum weigerten sie sich, eine bestimmte Position im politischen Feld einzunehmen, um stattdessen das ganze Feld zu erobern. Tatsächlich kann es aber keine einzelne Partei geben, die den Volkswillen allein ausspricht. Denn das Volk besteht aus Menschen mit verschiedenen, nicht selten gegensätzlichen Interessen und Ansichten; es hat keinen einheitlichen Willen. Die einzige Möglichkeit, eine ganze Nation wirklich zu vereinigen, besteht darin, Krieg gegen Fremde zu führen. Es mögen andere Völker sein oder Mitbürger, die zu Fremden erklärt werden. Deswegen sind die Faschisten so besessen vom Krieg. Nur er verleiht ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft den Anschein von Gültigkeit. Der Schriftsteller Ernst Jünger, ein verdienstreicher Vorkämpfer des „deutschen Faschismus“, brachte es in jungen Jahren recht eindringlich auf den Punkt:

Für den Nationalisten gibt es kein rechts und links, für ihn gibt es nur die Idee der Nation und das, was ihr schaden kann und ausgerottet werden muss.

Wäre es nur so, dass heutzutage bloß die Faschisten unserer Zeit sich der alten Formel bedienten! Das wäre nicht überraschend und ließe sich verkraften. Aber leider ahmen diese Strategie auch einige Bewegungen nach, die beanspruchen, die Demokratie zu erneuern.

Es ist nicht nur Marine le Pen, die für sich beansprucht, „ni de droite, ni de gauche“ zu sein; ihr liberaler Konkurrent Emmanuel Macron machte es ebenso. Er ist gewiss kein Faschist. Aber in ihm verkörpert sich eine andere Strömung unpolitischen Denkens, die für die Demokratie ebenfalls nichts Gutes bringt. Es ist der neoliberale Glaube an die technokratische Optimierbarkeit der Gesellschaft. Politischer Streit erscheint aus dieser Sicht nur als Störfaktor, der das reibungslose Funktionieren der Staatsmaschine beeinträchtigt. Es war die Ideologie der Alternativlosigkeit, die der Scharlatan Macron recht keck selbst im Ton des Populisten vortrug, um den rechten und linken Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nach seiner Wahl zeigt sich nun deutlich: Die angekündigte politische Revolution bleibt aus. Die satte Mehrheit dient nur dazu, einen recht mittelmäßigen Wirtschaftsliberalismus durchregieren zu lassen. Eine ordentliche Portion Nationalgetöse darf dabei nicht fehlen.

Auch die jungen Menschen, die in den letzten Jahren unter Namen wie „Occupy“ gegen Finanzindustrie und Sozialabbau protestierten, beanspruchten für sich nicht selten, „weder rechts noch links“ zu sein. Stolz waren sie auf diese vermeintliche Ideologiefreiheit, die doch oft bloß der Unentschiedenheit entsprang. Die Demonstrationen der Globalisierungskritiker, die keine Linken sein wollten, blieben denn auch ohne Ergebnis. Zorn und Unbehagen wurden geäußert, man sprach von Frieden und Freude und buk sehr viele Eierkuchen. Darüber vergaß man aber, ein Programm zu formulieren, sich auf konkrete Ziele zu einigen und Sprecher zu wählen. Wen wundert’s, dass all diese gut gemeinten Proteste verpufften? Als der Dampf aus dem Kessel war, kochte eben nichts mehr. Man kann die Politik nicht verändern, wenn man nicht bereit ist, politisch zu werden. Politisch zu sein heißt aber eine Position zu beziehen, wenn auch nicht notwendig als Mitglied einer bestimmten Partei. Im Laufe der Zeit mag sich die genaue Bedeutung dessen, was man unter „links“ und „rechts“ versteht, wandeln. Aber gegensätzliche politische Richtungen muss es geben, wenn die Demokratie ihren Sinn behalten soll.

Gerade weil in den letzten Jahren Linke wie Rechte sich der Formel „weder rechts noch links“ bedienten, fanden bisweilen recht gemischte Gesellschaften auf den Straßen zusammen. Dies gilt für die teilweise absonderlichen Leute, die sich zu „Montagsmahnwachen“ versammelten. Aber auch bei den diversen Wutbürgerbewegungen hörte man häufig: „Wir sind weder rechts, noch links, wir sind zu Recht besorgt, das ist alles!!!“ Inmitten des Wirrwarrs kippten einige Linke nach rechts, in dem festen Glauben, ihren Prinzipien treu geblieben zu sein. Wer keine politische Haltung hat, die über ein diffuses Dagegensein hinausgeht, der fühlt sich leicht bei allen wohl, die dagegen sind, aus welchen Gründen auch immer.

Eine öffentliche Bewegung, die behauptet, für alle zu sprechen, ist ein Schwindel. Nur indem man die Solidarität der Volksgemeinschaft beschwört, kann man verhindern, dass dieser Schwindel auffliegt. Es ist kein Zufall, dass einige Bewegungen, die im Namen der Gerechtigkeit gegründet wurden, inzwischen weit häufiger von der Nation sprechen. Ein Populismus, der beansprucht, das ganze Volk zu vereinen, zerfällt beim ersten ernsten Konflikt oder findet im Fremden den vereinigenden Feind.

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Der beste mir bekannte Versuch, den Unterschied zwischen Rechts und Links auf allgemeiner Ebene zu bestimmen, und zwar durch den Begriff der Gleichheit, findet sich in dem schmalen Buch des italienischen Sozialisten Norberto Bobbio: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Auf Deutsch ist es in mehreren Auflagen bei Wagenbach erschienen.

Anregend, wenn auch nicht immer überzeugend fand ich in diesem Zusammenhang auch die Bücher von Chantal Mouffe, etwa: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Heranzuziehen ist auch Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen.

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Kommentare
  1. Tobias Grüterich

    Wenn man bestimmte Safranski-Interviews lobt oder Hans-Joachim Maaz’ Merkelkritik zustimmt, dann schnaubt es im linken Lager, und man muss die Titulierung „herzloser Egoist“ in Kauf nehmen. Wenn man die Bezeichnung „Systempartei“ lächerlich findet oder gar noch hinterfragt, dann schnaubt es im rechten Lager, und man ist ob derlei Reflexion kein „echter Patriot“ mehr.

    Die Symmetrie der Aversionen, die man auslöst (teils ungewollt, teils als amüsierte Empörungsbetätigung), treibt einen selbst in die Mitte – oder besser: in eine draufsichtähnliche Position, die möglicherweise nicht mehr als politisch zu bezeichnen wäre.

    Allenfalls Erdogan kommt das kuriose Verdienst zu, sowohl links- als auch rechtsdrehende Missbilligung hierzulande auszulösen und so die viel beschworene (politische) Spaltung der Gesellschaft zu verringern.

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    • Michael Bittner

      Der Hass, den es in beiden politischen Lagern auslöst, wenn sich einer abwechselnd auf die eine oder andere Seite zu stellen scheint, bestätigt ziemlich gut die Macht des Freund-Feind-Denkens. Das Gleiche gilt für die vereinigende Wirkung eines äußeren Feindes wie Erdogan, dem es als fremdes Feindbild mühelos gelingt, die innenpolitischen Gegnerschaften in Deutschland aufzuheben. Eine unpolitische Draufsicht, die wohl etwas anderes wäre als eine ausgleichende politische Mittelposition, ist wohl nur intellektuellen Außenseitern möglich – so in der Art, wie Panajotis Kondylis sie in „Macht und Entscheidung“ beschrieben hat.

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