Gespaltenes Bewusstsein

Hat die CDU in Sachsen mehr noch als anderswo Wähler an die Rechtspopulisten verloren, weil die Konservativen nicht mehr konservativ genug waren? Diese Erklärung mancher Ratgeber ist gewiss nicht ganz falsch. Aber reicht sie allein aus? Weil ich gern vom Wissen von Experten profitiere, habe ich den griechischen Philosophen Panajotis Kondylis konsultiert, den wohl besten Kenner der Geschichte des Konservativismus. Er stellte bei jenen modernen Rechten, die sich „Konservative“ nennen, ein gespaltenes Bewusstsein fest: Sie haben sich nach dem Ende von Monarchie und Feudalismus zwar mit dem Kapitalismus angefreundet, kaum aber mit der liberalen Gesellschaft und dem Sozialstaat. Sie begrüßen das Wachstum und den globalen Wettbewerb, wehren sich aber gegen den sozialen Wandel, der von diesen Prozessen ausgelöst wird. Sie entfesseln den Markt und klagen dann darüber, dass auch alte Sitten und Grenzen gesprengt werden.

Mit solchen Illusionen wurde seit der Wende in Sachsen Politik gemacht. Die Konservativen schickten die Sachsen hinaus auf den Weltmarkt, gaben ihnen aber zugleich das Versprechen, fremde Einwanderer zuhause brauche man nicht. Sie freuten sich über arabische Investoren und dekretierten, der Islam gehöre nicht zu Sachsen. Sie priesen die Schönheit der heimatlichen Landschaft, aber ließen sie wegbaggern, wenn unter ihr Kohle zu holen war. Sie lobten das gesunde Landleben, während die kranken Leute auf dem Land verzweifelten, weil sie keinen Arzt mehr fanden. Sie forderten mit Donnerworten Recht und Ordnung und strichen Stellen bei der Polizei. Sie salbaderten sonntags vom Erhalt der abendländischen Kultur, während sie an den Universitäten die Kulturwissenschaften aushungerten. Sie lobten die Bürgertugend, aber vernachlässigten die politische Bildung, als wäre das Leitbild der Erziehung in Sachsen nicht der mündige Bürger, sondern der Fachidiot. Sie verlangten von Müttern, mehr Kinder auf die Welt zu bringen, waren aber unfähig, genügend Erzieher und Lehrer für diese Kinder einzustellen.

Zurzeit platzt so manche Heuchelei und die Leute sind unzufrieden. Aber einige Lügen waren auch gemütlich. Darum schauen sich viele Sachsen nach unverbrauchten Illusionisten um. Und siehe da: Es stehen schon welche bereit!

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

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Kommentare
  1. Frans Bonhomme

    Guten Abend!

    Das mag zutreffen auf den alten, miefigen Konservatismus sächsischer Prägung, aber es entsteht gerade auch ein junger, frischer, liberaler, internationaler Neo-Konservatismus*, der in den Startlöchern steht, falls dem Bürger das Pendel dann doch mal zu weit nach Links ausschlägt. Ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv!

    Neo Rauch schriebt jetzt mal sinngemäss in Die Zeit, er und sein Lehrer würden heutzutage an der Hochschule sofort von den Political Correctness Eiferern** „verhaftet“ werden.

    *nein, das ist kein Widerspruch :-)
    ** welche selbst ein Korrektiv zu einer früheren Bewegung zu weit nach „rechts“ darstellen

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  2. Michael Bittner

    Reklamephrasen wie „jung und frisch“ verraten schon, dass es sich bei diesem Neokonservatismus vor allem um eine neue Marketingstrategie handelt, eine neue Verpackung für eine alte Sache. In der Tat sieht man bei den Rechten unter dem Namen „Konservatismus“ nichts anderes als schon zu Zeiten der Weimarer Republik, zwei teils verbundene, teils konkurrierende Strömungen: einen beinharten Neoliberalismus, der sich traditionalistisch aufputzt, und daneben einen radikalen Nationalismus, der soziale Wohltaten verspricht, um auch den „kleinen Mann“ anzulocken.

    Dass eine Demokratie nur möglich ist, wenn es neben einer Linken auch eine Rechte gibt, wenn also politische Alternativen existieren, ist eine zweifellos richtige, wenn auch etwas banale Einsicht.

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  3. Frans Bonhomme

    „Frisch“ deshalb, weil dieser neu wiederauflebende („jung“) Konservatismus zunächst einmal liberal daherkommt, während die inzwischen gesellschaftlich etablierte Linke zunehmend knöchern-autoritär* agiert (und der „alte“ K. natürlich auch), ganz im Gegensatz zu Zeiten ihrer anti-autoritären Wurzeln. Wobei er teilweise auch noch apolitisch ist, erstmal nur Abwehrreaktionen auf aktuelle, evtl. nur episodische gesellschaftliche Entwicklungen, wie im letzten Kommentar angedeutet, weswegen man vielleicht gar nicht von Konservatismus sprechen sollte. Ja vermutlich würde er, mit zunehmend gesellschaftlicher Durchsetzung, wieder zu dem aktuellen vermieften K. hinaltern. Aber der Punkt ist, und das wollte ich sagen, der K. eben nicht überwunden werden kann, sondern er immer wieder neu entsteht, so wie vielleicht auch Religion nicht überwunden werden kann. Diese Erkenntnis halte ich für nicht trivial. Vielleicht vertritt er eben doch Werte, deren Rechtfertigung eben nicht nur die Tradition ist, sondern die ganz losgelöst von der Tradition einen gesellschaftlichen Wert haben. Bei diesem jungen K. spielen aber auch ganz universelle Werte eine Rolle, wie z.B. Meinungsfreiheit, die sich das politische Establishment zwar noch auf die Fahne schreibt, aber de facto nicht mehr vertritt**.

    *es scheint sich ja auch die von mir wahrscheinlich des Namensgebers als links assoziierte grüne H. Boell Stiftung mit Nationalismus anfreunden zu können, so lange dieser in der Ukraine stattfindet

    **vgl. konkret das „Netzdurchsetzungsgesetz“, welche den Effekt hat, dass soziale Netzwerke grossflächig Meinungssäusserungen zensieren (und das, in der spanischen Inkarnation des „No Hate Speech Gesetzes“, im übrigen dazu genutzt wird, katalanischen Separatisten den Prozess zu machen, was illustriert, das es ganz und gar unsinnig und eine Fehlentwicklung ist).

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    • Michael Bittner

      Ich denke nicht, dass die ganze Linke verknöchert ist, da gibt es schon viel lebendige Protestbewegung. Ziemlich erstarrt und selbstzufrieden geworden ist allerdings die ökologisch-linksliberale Strömung, die sich mit den Verhältnissen inzwischen so ziemlich angefreundet und abgefunden hat.

      Man kann natürlich „Konservatismus“, wenn man nicht in der Lage ist, ihn konkret inhaltlich zu bestimmen, auch als überzeitliche menschliche Haltung mit lauter famosen Eigenschaften definieren – ob durch eine solche Begriffsspielerei in politischem Sinne irgendetwas klarer wird, bezweifle ich.

      Was die Meinungsfreiheit angeht: Ich muss immer schmunzeln, wenn sich Rechte als Vorkämpfer der Meinungsfreiheit aufspielen, da doch nicht wenige von ihnen auf ihren eigenen Internetseiten jede kritische Stimme nach wenigen Minuten löschen und blockieren. Ganz anders als, nur mal so als Beispiel, der bescheidene Autor dieses Blogs hier.

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  4. Frans Bonhomme

    Diese linke lebendige Protestbewegung, von der Sie schreiben, ist letztendlich inhaltlich genauso wenig festgelegt (in Bezug auf seine zukünftige Entwicklung) wie der K., von dem ich spreche. So wie der K. in chauvinistischen Nationalismus bzw. Turbokapitalismus „enden“ kann, könnten das vorläufige geschichtliche „Ende“ der linken Protestbewegung wieder die bekannten Umerziehungslager für Andersdenkende sein. Die Annahme einer durch „auf der richtigen Seite“ stehenden Gewaltlegitimation, mit (manchmal nicht so) stillschweigender Sympathie bis ins linke bürgerliche Lager hinein, kündet bereits davon.
    Was Duldung anderer Meinungen auf Blogs angeht, möchte ich Ihnen noch sagen, das es wohl etwas ganz anderes ist, wenn ein Blogger wie Sie sein Hausrecht ausübt, als wenn der Staat durch Androhung einer absurd hohen Strafe marktbeherrschende soziale Medien zum Löschen zwingt, unter dem Kalkül, dass die Anstellung einer Armee von Juristen, die jedes Posting liest, für diese prohibitiv hohe Kosten verursachen würde. Außerdem sprach ich nicht speziell von der Löschung rechter Meinungen, es trifft auch Linke, die jetzt aus allen Wolken fallen, dass ein Gesetz, das sie mit Schadenfreude bejubelt haben, nun auf sie selbst angewandt wird. Erinnert mich an den Kommentator neulich auf Coloradio, der die Polizei lobte, weil sie endlich gegen Rechte vorgeht, aber kritisierte, dass die Polizei auch frecherweise gegen die Antifa ermittelt. Da müsste die Polizei seiner Meiner nach noch was verbessern.

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    • Michael Bittner

      Was die Sache mit dem Hausrecht angeht, bin ich ganz Ihrer Meinung. Doch zeigt sich die Doppelmoral vieler (nicht nur rechter) Kämpfer für die Meinungsfreiheit auch in der Schnelligkeit, mit der sie zum Rechtsanwalt rennen, wenn sie selbst einmal von ein paar unangenehmen Worten getroffen wurden. Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie sich da Großmäuler ganz schnell in Jammerlappen verwandeln.

      Das Maas-Gesetz zu den sozialen Medien haben keineswegs alle Linken „mit Schadenfreude bejubelt“, viele warnten vielmehr vor einer Einschränkung der Redefreiheit im Netz und vor der Übertragung von Macht an private Internetunternehmen. Schon ein bisschen Google-Recherche könnte Sie hier zu einem differenzierteren Blick ertüchtigen.

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