In der Linie 21

Ich stieg in die Straßenbahn und zog mir die Mütze vom Kopf. Die Gläser meiner Brille beschlugen, wie immer im Winter beim Schritt aus der Kälte ins Warme. Ich stolperte halb erblindet einige Schritte durch die Bahn und suchte nach einem Platz. Dann merkte ich, dass ich schon vorn bei der Fahrerkabine angekommen war.
Hinter mir murmelte es: „Der is nich von hier!“
Ich drehte wieder um und ließ mich auf einen freien Sitz fallen, an dem ich zuerst vorbeigelaufen war. Mir schräg gegenüber saß eine alte Frau und schaute mich neugierig an. In ihrer linken Hand hielt sie eine halbleere Bierflasche. Sie beugte sich hinunter zu ihrem Hund, einem hübschen Tier mit zottigem Fell. Sein Haar war zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß, farblich geteilt gerade über dem Gesicht.
„Der is nich von hier“, sprach die Frau zu ihrem Hund. „Dit merkt man gleich, wie der rumläuft und sich umschaut. Dit is keen Berliner.“
Die Alte streichelte ihr Tier, das mich trotz der Warnung seines Frauchens weiter freundlich anschaute.
„Nahmd!“, sagte die Frau und blickte nun auch mich an. Beim Sprechen entblößte sie die wenigen Zähne, die sich noch in ihrem Mund befanden.
„Hallo“, erwiderte ich.
„Ick bin die Verena. Und dit is der Benny“, sagte die Alte und deutete auf ihren Hund. „Und wer bist du?“
„Micha.“
„Was? Michel? Wie der ausm Kinderbuch?“
„Nein, Micha.“
„Ach so, Michael. Jut. Sach ma! Wo kommstn du her? Du bist doch keen Berliner, oder? Ick darf dich doch duzen?“
„Na klar“, sagte ich. „Ich komme ursprünglich aus der Lausitz, aus der Nähe von Görlitz.“
„Siehste, hab ick doch gleich jemerkt, dass du keen Berliner bist. Da hab ick ne Witterung für. Hier, dis sind Berliner!“
Die Alte drehte sich um zu einer Mutter mit ihrem Sohn, die gerade ein Ticket aus dem Fahrscheinautomaten zogen.
„Dit sind Berliner, dit hör ick gleich anner Stümme!“
Mutter und Sohn beeilten sich, um schnellstmöglich das Weite zu suchen.
„Lausitz! Wie lange fährt man da bis hin?“, fragte die Alte.
„So zwei Stunden ungefähr“, sagte ich. „Aber eigentlich wohne ich gleich hier um die Ecke. Seit sechs Jahren. Also bin ich ja inzwischen auch fast ein Berliner, oder?“
„Ach so, biste hergezogen, wa? Ick bin ja würklich Berlinerin. Hier jeboren! Ooch meine Eltern schon und meine Großeltern. Ne richtje Berlinerin! Wie viele richtje Berliner kennst du eingtlich?“
„Gebürtige Berliner? Das sind wirklich nicht so sehr viele.“
„Siehste! Wusst ick doch! Gibt jar keene richtjen Berliner mehr in Berlin! Die sind alle abjehauen!“
Die alte Frau war vom Reden unmerklich ins Schreien geraten. Zwei junge Männer, die in unserer Nähe saßen, erhoben sich, liefen in der Straßenbahn nach hinten und setzten sich dort wieder hin. Benny, der Hund, schaute seine Herrin etwas verwirrt an.
„Tschuldjung! Ick mein, nüscht jejen dich, aber is doch so! Es wohn doch nur noch Fremde in Berlin! Die ham Jeld! Deswejen steigen ooch die Mieten überall. Und die richtjen Berliner, die könn sich keene Wohnung mehr leisten. Die müssen wegziehen, damit die Fremden Platz ham. Berlin ohne Berliner!“
„Aber sind denn nicht schon immer Fremde nach Berlin gekommen?“, fragte ich vorsichtig. „Bestand Berlin nicht schon immer aus Zugezogenen?“
„Nee! Wir Berliner sind die Urpreußen! Wir warn schon immer hier! Wir sind keene Fremden! Erst recht keene Sachsen!“
Die Straßenbahn bog quietschend um die Ecke und bremste an einer Haltestelle.
„Ich muss jetzt leider raus, umsteigen“, sagte ich. „Schönen Abend noch!“
„Ja, dir ooch!“, antwortete die alte Frau und sah jetzt traurig aus. „War würklich nett, mit dir zu reden! Es redet ja sonst keiner mehr mit eim.“
Ich stieg aus, überquerte die Straße, wartete auf die M8, die mich nach Berlin-Mitte bringen sollte, und dachte nach. War die Frau gerade eine Fremdenfeindin gewesen oder eine Gentrifizierungskritikerin? War sie rechts oder links? Gar nicht so einfach, diese Fragen zu beantworten! Auf jeden Fall aber hatte ich einen schweren Fehler begangen, überhaupt mit ihr zu reden. Denn wie hieß es doch völlig richtig allerorten: Wir dürfen Populisten keine Bühne bieten! Wir dürfen ihre Äußerungen nicht aufwerten, indem wir ihnen Resonanz verschaffen! Wir müssen eine harte Haltung zeigen, klare Kante!
Sollte mir diese Frau noch einmal begegnen, würde ich es besser machen: Eisern schweigen, die problematischen Äußerungen heimlich mitschneiden und sofort bei der Polizei Anzeige wegen Volksverhetzung erstatten, auf dass sie ihrer gerechten Strafe nicht entgehe! Denn die konsequente Grenzziehung ist die einzige Chance, unsere gefährdete Gesellschaft vor dem endgültigen Zerfall doch noch zu bewahren.

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Kommentare
  1. Pedroleum

    „Auf jeden Fall aber hatte ich einen schweren Fehler begangen, überhaupt mit ihr zu reden. Denn wie hieß es doch völlig richtig allerorten: Wir dürfen Populisten keine Bühne bieten! Wir dürfen ihre Äußerungen nicht aufwerten, indem wir ihnen Resonanz verschaffen! Wir müssen eine harte Haltung zeigen, klare Kante!“

    Wo hat sich diese Dame populistisch geäußert? Hat sie einen Gegensatz zwischen einem moralisch reinen, homogenen Volk auf der einen Seite und unmoralischen, korrupten und parasitären Eliten auf der anderen Seite konstruiert? Hat sie behauptet, ihre Meinung würde von eben diesen Eliten unterdrückt oder gedultet?

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    • Michael Bittner

      Die Dame hat sich nicht populistisch geäußert, wenigstens nicht im Sinne einer genuin politischen Definition. Eben das sollte auch der Witz des Textes sein, der sich womöglich nicht jedem Leser erschließt: ein Seitenhieb gegen die unbarmherzige und zugleich oberflächliche Art, mit der unangenehme und unbeholfene Äußerungen von manchen als populistisch verurteilt und abgetan werden.

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  2. Leonhardt

    Sehr geehrter Herr Bittner,

    so schön ihre nette Anekdote sich auch liest so können Sie nicht verbergen das Sie versuchen dem Leser Ihre Meinung aufzudrängen. Man liest deutliche Ihre Vorurteile heraus gegen Menschen die Ihre Meinung äußern welche aber sich nicht mit Ihrer Meinung decken. Ihre Text und Bücher verbreiten nur Ihre Meinung monoton aus einer Richtung betrachtet. Jede andere Meinung wird als falsch hingestellt weil es ja nicht sein kann das es Menschen mit anderer Meinung geben darf. Schlimm genug das selbsternannte Sittenwächter wie Sie, glauben sie dürften jedem Menschen sein im Grundgesetz verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung entziehen weil es in Ihren Augen nur eine Wahrheit gibt. Solche Menschen mit einem derart beschränkten Horizont wie Sie Herr Bittner sollten einfach die Klappe halten. Denn JEDER Mensch hat das Recht auf eine Meinung und das Recht wegen dieser nicht denunziert zuwerden. Trittbrettfahrer wie Sie, die sich aus Gewinnsucht und Geltungsbedürfniss einer Meinung anschließen und alle andere Menschen verteufeln gehören Mundtot gemacht.

    Hochachtungsvoll Thomas Leonhardt

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