Meine Eroberung Wiens

Es giebt Menschen, die nichts zu thun haben. Vollkommen Überflüssige des Daseins. Mit weit aufgerissenen Augen schauen sie und schauen. Diese hat das Schicksal bestimmt, die Vielzuvielbeschäftigten zum Verweilen zu bringen vor den Schönheiten der Welt!

Peter Altenberg

 

Wer auf dem schnellsten Wege nach Wien gelangen will, der nehme die Abkürzung durch die Luft. Wer hingegen den schönsten Weg sucht, dem sei zur Reise mit dem Zug geraten. Von Berlin aus durchquert man dabei hinter Dresden zunächst die Sächsische Schweiz immer entlang des Tals der Elbe. Mir gegenüber sitzt ein allein reisender Minderjähriger, der mit der Kamera seines Telefons, das er auf ein kleines Stativ gestellt hat, durchs Fenster die Landschaft filmt. In Bad Schandau steigt er aus. Ob er seine Großeltern besucht und ihnen nachher die aufgezeichnete Schönheit Sachsens vorführt, um zu beweisen, dass so ein Telefon doch nützlich sein kann? Oder will er das Video beim Fernsehen einreichen, auf dass es in der Sendung Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands gezeigt werde? Aber vielleicht filmt er auch nur um des Filmens willen, was durchaus zu begrüßen wäre, ist doch die Freude am Schaffen unnützer Bilder der erste Schritt zum Künstlertum.

Im Zug reise ich heute in der Rolle eines Salonkommunisten: Ich sitze in der ersten Klasse und blättere in der konkret. Und das kam so: Bei der Suche nach günstigen Fahrkarten offenbarte sich die Möglichkeit, für wenig mehr als 100 Euro in der ersten Klasse nach Wien und zurück zu fahren. Der Kapitalismus machte es durch einen internationalen Sparpreis möglich. Dieses Angebot konnte ich unmöglich ausschlagen. Zwar dauert die Reise zehn Stunden, ist dafür aber sehr bequem. Ein wenig enttäuscht bin ich nun nur, weil die erste Klasse sich weit weniger glamourös zeigt, als es der kleine Mann sich träumen lässt. Wo sind die Prinzessinnen auf der Reise zu ihrem Geliebten? Wo die Geheimagenten mit ihrem Koffer voller Plutonium? Wo die gealterten Opernsänger, die in den Süden fahren, um die geschundene Kehle für ihren letzten Parsifal zu kurieren? Stattdessen sehe ich junge Familien, die ihren Kleinkindern Süßigkeiten verabreichen, Rentner, die in Illustrierten blättern, und eine Frau im grauen Pullover, die an mitgebrachten Möhren nagt und das Buch Welche Heilpflanze ist das? studiert. Wahrlich, solcher Menschen hätte ich auch in der Regionalbahn nach Eberswalde gewahr werden können! Gebrochene Versprechen sind schlimm, besonders dann, wenn man selbst es war, der sich etwas versprochen hatte. Auch der tschechische Schaffner, der hinter der Grenze den deutschen ablöst, enttäuscht enorm. Er überprüft nicht nur die Fahrkarten, sondern muss auch noch Mineralwasser in Plastikflaschen kostenlos an die Passagiere verteilen. Diese unwürdige Nebentätigkeit raubt ihm sogleich die Aura der Autorität, die Fahrgäste werfen ihm denn auch mitleidige Blicke zu. Da nützt auch die schöne Uniform nichts mehr.

In Prag muss ich ein einziges Mal umsteigen. Der Zug der Österreichischen Bundesbahnen, der mich nach Wien bringen soll, heißt Railjet. Geht’s noch angeberischer? Warum nicht gleich Gleisrakete, das Space Shuttle auf der Schiene? Früher suchten die Erfinder das Neuartige sprachlich an das Vertraute anzuschließen, um den Menschen die Angst zu nehmen, so wie beim „Flughafen“. Heute schwindeln Marketingschwätzer das Altbekannte zur Neuigkeit hoch. Wahrscheinlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, weil Erfindungen, die das Leben der Leute wirklich verbessern, schon lange keine mehr vorgefallen sind. Die letzten großen Erfindungen der Menschheit waren, wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, der Flachbildschirm, Aperol Spritz und der Gender-Asterisk.

Zwei junge italienische Paare kommen in den Wagen. Sie sind äußerst unsympathisch, denn laut und fröhlich. Was gibt es Widerwärtigeres als die gute Laune fremder Menschen? Erfreulicherweise kommt bald eine Schaffnerin und verweist sie der ersten Klasse, in die sie sich widerrechtlich gesetzt hatten. Sie packen ihre Sachen zusammen und trotten geschlagen davon. Äußerst befriedigend ist es, dabei zuzuschauen, wie die Ordnung wiederhergestellt wird! Stille im Waggon. Mir kommt ein schlimmer Verdacht: Kann es sein, dass mein Aufenthalt in der ersten Klasse mich schleichend auch geistig in einen Vertreter der Oberschicht verwandelt? Führt zu viel Beinfreiheit zu Ellenbogenmentalität? Beginnt tief in mir gar die innere Kartoffel zu keimen?

Im Speisewagen sitzen am Nachbartisch zwei junge Männer, offenbar Rucksacktouristen, die sich auf der Reise kennengelernt haben, ein schmaler Finne und ein bulliger, glatzköpfiger Amerikaner. „Sei nicht beleidigt“, sagt der Amerikaner laut zu seinem Gefährten. „Aber ich habe mich bewusst entschieden, durch Mittel- und Osteuropa zu reisen, weil wir zuhause in den Südstaaten davon ausgehen, dass die Westeuropäer schwache Pussys sind, die Angst vor den jungen Moslems haben, ihre Frauen nicht mehr beschützen und sich vom Staat wie Kinder behandeln lassen. Und ich muss dir ehrlich sagen, das alles hat sich auf meiner Reise für mich bestätigt. Die Osteuropäer scheinen mir dagegen noch richtige Männer, einfach und ehrlich.“ – „Ja, ähm, hm“, erwidert der junge Finne, in der Stimme die Härte einer Tofuwurst. „Also, wir Skandinavier sind eigentlich auch ganz normal.“

Viel zu luxuriös ist auch das Hotel, in dem ich von dem Mann einquartiert wurde, der mich für eine Lesung nach Wien geladen hat. Nachdem die Frau an der Rezeption erfahren hat, dass mein Zimmer jemand anderes für mich bezahlt hat, schaut sie mich etwas seltsam an, lässt aber Gnade walten. „Das Frühstück ist in Ihrer Buchung nicht inbegriffen. Sie können aber natürlich auch einfach morgens vorbeikommen und trotzdem frühstücken. Das kostet dann 16 Euro“, erklärt sie und fügt nach einer kurzen Pause, in der sie mich wieder seltsam anschaut, hinzu: „Es gibt auch ein kleines Buffet, das kostet dann nur 7 Euro.“

Ich frühstücke am nächsten Morgen lieber beim Bäcker. Wer sich gerne einmal völlig dumm vorkommen will, der bestelle in Wien „einen Kaffee“. Die Verkäuferin erklärt mir geduldig die verschiedenen Sorten, die zur Auswahl stehen. Ich bestelle irgendwann einfach „einen Braunen“ aus Angst davor, dass die Aufzählung sonst gar kein Ende mehr nimmt. Nach dem Frühstück besuche ich das Museum der Stadt Wien, das sich, der Mode zur sprachlichen Selbstverstümmelung folgend, inzwischen Wien Museum nennt, geschrieben natürlich ohne Bindestrich. Das Innere des Museums wurde von der Modernisierung bislang aber verschont. Zu sehen gibt es bunte Kirchenfenster, Ölgemälde und Stadtmodelle. Besonders der originalgetreue Nachbau der Wohnung von Franz Grillparzer entfaltet großen Reiz. Man kann sich beim Anblick der verschörkelten Möbel aus dunklem Holz fühlen wie im Wohnzimmer der Oma, wenn man sich den Flügel und die Marmorbüste von Goethe wegdenkt. Mulmig wird mir allerdings bei dem Gedanken daran, dass ja zweifellos auch mein Wohnzimmer nach meinem Ableben einmal im Museum so wiederaufgebaut werden wird, um es den Scharen meiner Anbeter zu präsentieren. Wird man mich am Ende gar noch ausgestopft auf das Sofa setzen? Will ich das überhaupt? Unangenehm ist vor allem, dass ich jetzt schon ständig aufräumen muss, denn ich weiß ja nicht, wann mich der jähe Tod ereilen wird. Tritt er im falschen Moment ein, liegen im Wohnzimmer vielleicht noch Speisereste und Socken herum, die dann auf ewig originalgetreu der Nachwelt gezeigt werden, um das echte Bild meines Lebens nicht zu verfälschen.

Lange hält es mich nicht mehr in der historischen Gruft, denn draußen lockt der Sonnenschein des frisch hereingebrochenen Frühlings. Ich fahre zum Prater, um daselbst zwischen den Wienern zu flanieren. Ich mache mir so mit eigenen Augen ein Bild von diesem bunten Völkchen. Es ist eine gemischte Gesellschaft wie auch die Berliner Bevölkerung, allerdings weniger orientalisch, dafür mit auffällig osteuropäischem Einschlag. Wundersam nimmt sich eine jüdische Familie in orthodoxer Tracht aus, wie wenigstens ich sie in Berlin noch nie zu sehen bekommen habe. Die dort herumlaufenden jungen Israelis zeichnen sich durch eher unorthodoxe Trachten aus. Eine Familie von gewöhnlichen Österreichern fällt mir auf, weil sie eine Englische Bulldogge mit sich führt, die hörbar unter Atemproblemen leidet. Der Hund grunzt und röchelt wie ein volltrunkener Unteroffizier im Schlaf. Wie kann man nur so grausam sein, Tiere zu züchten, die von Natur aus nicht richtig atmen können? So fragen Tierschützer oft, wenn es um Möpse und ähnlich behinderte Hunde geht. Sie verkennen bei dieser Frage aber, dass gerade leidende und schwache Wesen unsere Liebe in besonderem Maße wecken. Da verlockt es manchen Menschen, absichtlich hilfsbedürftige Wesen in die Welt zu setzen, um sich dann um jene Geschöpfe kümmern zu können. Warum gäbe es sonst Kinder? Der Mops unter den Göttern ist übrigens Jesus, den die Menschen – wie Heinrich Heine einmal bemerkte – lieben wie keinen Gott vor ihm, eben weil auch er zum Leiden in die Welt gesandt wurde. Einen starken und siegreichen Propheten hingegen kann man nicht lieben, der kann Achtung nur gewinnen, indem er Furcht erweckt.

Zum Essen gerate ich abends in ein Restaurant mit dem eigentümlichen Namen … bin im Leo. Der Innenraum ist in warmen Farben gestrichen, hippiesk dekoriert und mit überfreundlichem Personal bestückt, das therapeutische Gespräche mit den Stammgästen führt. Ein Mann am Nebentisch fragt den Wirt, ob er denn Leo sei, woraufhin dieser erläutert: „Nein, ich bin nicht Leo. Es gibt auch keinen Leo hier. Leo ist nicht der Name, sondern kommt von dem Ausruf von Kindern beim Fangespielen, wenn sie sich im geschützten Bereich befinden und nicht abgeschlagen werden dürfen. ‚Ich bin im Leo!‘, sagt man da in Wien und Niederösterreich. Ein solcher geschützter Bereich soll auch das Restaurant für unsere Gäste sein. Hier sollen sie sich wohl und sicher fühlen.“ Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit in Sachsen beim Fangespielen der entsprechende Satz „Ich bin im Zick!“ lautete. Und mir wird klarer, was hinter der gegenwärtigen Sehnsucht so vieler junger Leute nach „Safe Spaces“ steckt. Sie wollen am liebsten nie erwachsen werden, mit dem Bösen in der Welt nicht in Berührung kommen, um ihre Unschuld zu bewahren. Sie schließen die Augen, um sich unsichtbar zu machen. Man möchte sie manchmal schütteln, diese jungen Leute, aber das wäre ja dann schon wieder eine unerträgliche Grenzüberschreitung. Seltsam übrigens, wie zurzeit die unterschiedlichsten Menschen Angst davor haben, dass Grenzen überschritten werden.

Als ich am nächsten Morgen erwache, spüre ich eine große Sehnsucht nach der Natur. Ich gehe also ins Naturhistorische Museum und schaue mir die Zoologische Sammlung an. Es scheint, als wäre hier jedes Tier der Welt ausgestopft in einer Vitrine zu sehen. Und neben jeder Vitrine hängt eine goldene Plakette, auf der vermerkt ist, dieses Tier habe Prinz Luitpold, der Tierliebe, während seiner Verlobungsreise nach Exotistan persönlich mit seiner silbernen Jagdbüchse erlegt. In meiner gewöhnlichen Art jage ich lieber nach Fällen von merkwürdiger Tragik. Und ich finde die Stellersche Seekuh. Sie lebte friedlich viele Millionen Jahre im Nordpazifik bei einigen Inseln vor Kamtschatka. Dann kamen die Menschen. Der Forscher Georg Wilhelm Steller, der das Leben dieser einzigen Kaltwasserseekuh als erster beschrieb, schilderte zugleich auch schon ihr Sterben. Die Seekühe machten es den Jägern besonders leicht. War eines der Tiere gefangen, versuchten die anderen, ihm zu Hilfe zu eilen und gerieten so in die Hände ihrer Mörder. Zähne, um sich zu verteidigen, besaßen die Seekühe nicht mehr, denn sie hatten sich seit ewigen Zeiten allein von Seetang ernährt. Die letzte Stellersche Seekuh wurde 1768 bei der Beringinsel von hungrigen Pelztierjägern erschlagen. Der klarste Beweis dafür, dass es keinen Gott gibt, ist der Mensch.

In einem Café mit israelischer Küche esse ich Shakshuka. Hinter mir sitzen zwei Studentinnen aus Deutschland und beklagen sich über die Wiener. Die seien so schrecklich distanziert, meint die eine, schauten einem nicht in die Augen und grüßten nie zurück – ganz anders als die Leute in Dortmund. „Als ich letztes Jahr in Israel war, bin ich einmal mit einer Freundin frühstücken gegangen, ganz ungewaschen und ungeschminkt, aber prompt haben uns zwei Typen angesprochen, mit denen wir dann den ganzen Tag verbracht haben. Die wollten uns, obwohl wir so scheußlich aussahen! In Wien kann ich so schön sein, wie ich will, hier spricht mich trotzdem nie einer an!“ Die zweite Frau fängt nun an, über ihren Freund zu klagen. Der mache laufend Schluss und komme dann ein paar Tage später doch wieder weinend zurückgekrochen. Woraufhin die erste Freundin tröstend erwidert, ihre Beziehung sei zwar stabil, ja inzwischen eheähnlich, doch auch nicht ohne Unannehmlichkeiten. Besonders im Urlaub sei es schwierig, denn zehn Tage am Stück miteinander, das halte man ja im Grunde nicht aus. In Bangkok letztens habe der Mann zum Beispiel die ganze Zeit am Pool des Hotels verbringen wollen. Aber man müsse doch nicht um die halbe Welt fliegen, um dann am Pool zu liegen! Die beste Lösung sei es in solchen Fällen, wenn jeder für sich allein etwas unternehme. Überhaupt brauche man in der Beziehung regelmäßig Abstand. Eine geniale Strategie, so dachte auch ich: Man trenne sich möglichst oft, um zusammenbleiben zu können! Folgt man konsequent dieser Dialektik der Liebe, dann sind die glücklichsten Partnerschaften jene, in denen die Partner einander gar nicht erst kennenlernen. Wäre es nicht zu aufdringlich gewesen, hätte ich den beiden Frauen gerne noch selbst Ratschläge erteilt, insbesondere den folgenden: Redet lieber nicht über intime Dinge, wenn ein seltsamer Fremder mit einem Notizbuch in eurer Nähe sitzt!

Mit Straßenbahn und Bus fahre ich auf den Kahlenberg, laut Reiseführer ein Ausläufer des Wienerwalds und der Hausberg Wiens. Die Höhenstraße schlängelt sich auf den Gipfel, von einer Aussichtsterrasse bietet sich ein überwältigender Blick hinab auf die Stadt und das ganze Wiener Becken. Ein Schild kündigt an, hier werde bald ein Denkmal für Jan Sobieski errichtet, den polnischen König, der mit seinem Entsatzheer 1683 in der Schlacht am Kahlenberg Wien vor der Eroberung durch die Türken und der vorzeitigen Einführung des Döners rettete. An erfolgreiche Kämpfer gegen die Osmanen erinnert man sich offenbar dieser Tage wieder mit besonderer Inbrunst. An der Bushaltestelle klebt ein weiteres Denkmal: „Die Veränderung hat begonnen“, steht da neben einem Foto des jungen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der auf dem Porträt feldherrenmäßig in die unbestimmte Ferne schaut. Ein weiterer Slogan macht den Wählern aber auch handfestere Versprechungen: „Weniger Steuern. Weniger Schulden. Weniger Bürokratie. Mehr für Sie.“ Die Leute denken bei der Rettung des Abendlandes eben doch zuerst an ihr eigenes Sparbuch.

Mit dem Bus fahre ich zum Bahnhof Heiligenstadt, um mir den Karl-Marx-Hof anzuschauen, einen der riesigen Wohnkomplexe für Arbeiter, die von den österreichischen Sozialisten in der Zwischenkriegszeit in Wien errichtet wurden. Nach dem austrofaschistischen Staatsstreich 1934 verschanzten sich hier die Arbeiter im Kampf gegen die Armee. Inzwischen wirkt die rote Farbe der Hauswände recht verblichen. Vielleicht war sie aber auch von Anfang an nicht sehr satt. Im Hof sitzt auf einer Bank ein Berufstrinker, der alle Vorübergehenden mit erhobenem Arm grüßt. Ich kann nicht richtig verstehen, ob er dabei „Heil Hitler!“ oder „Halleluja!“ ruft. Wird hier heutzutage noch gegen irgendetwas Widerstand geleistet? Das Wort steht immerhin mit schwarzer Farbe gesprüht auf einer Wand. An einer Laterne klebt ein halb abgekratzter Aufkleber in den österreichischen Landesfarben, auf dem man noch lesen kann: „Wie viele Vergewaltigungen müssen noch geschehen, bis ihr …“

Was ist eigentlich los in Österreich? Um diese Frage zu klären, greife ich mir die gleichnamige Gratiszeitung, die überall in der Stadt ausliegt und offenbar auch gerne mitgenommen wird. Einige Schlagzeilen der Ausgabe vom 3. April 2018 lauten: „Letzte Chance für Rauchverbot“, „Neuer Schock: Amazon hört uns alle ab“, „Turbo-Frühling: Hoch ‚Klaus‘ bringt uns Hitze aus Spanien“, „Schneesturm zu Ostern: Klima immer verrückter“, „Niederösterreicherin starb mit 111 Jahren. Österreichs älteste Frau liebte Grammeln & Schnitzel“, „Kurz wichtiger als Merkel“, „Regierung startet in die nächsten 100 Tage. Nach Zwischenbilanz & Osterpause geht’s los“, „Russland: ‚Giftanschlag im Interesse Londons'“, „Melania und Donald Trump: Liebesshow nach Ehekrach“, „Israel will 16000 Migranten in andere Länder umsiedeln“, „Brutaler Räuber: Lehre statt Knast. 17-Jähriger musste nicht in Haft – dann überfiel er Handygeschäft“, „Burschen schossen auf fahrendes Auto“, „SMS rettet Frau vor Vergewaltigung“, „Wiener Jung-Terrorist (19) steht ab morgen vor Gericht“, „Pensionist (81) zu Hause überfallen. Senior beim Geldabheben beobachtet“, „Auf offener Straße mit Pistole bedroht. Zwei bewaffnete Teenager raubten Burschen (15) aus“, „500 Demonstranten legen City lahm. Nächste Kurden-Demo blockiert die Ringstraße“. Kein Zweifel: Ich lese ein Blatt, das wesentlich nicht aus Papier, sondern aus Angst besteht. Österreich wäre kaum auszuhalten, würde mein bundesdeutsches Herz nicht zwischendurch immer wieder mal durch Zauberworte wie „Grammeln“ oder „Burschen“ erwärmt. Es überrascht kaum, dass sich in der Angstzeitung auch eine ganzseitige Anzeige mit folgender Überschrift findet: „Erektionsstörungen. Wenn’s im Bett plötzlich nicht mehr läuft“. Wie soll es auch laufen, wenn man sich davor fürchten muss, am nächsten Morgen von Burschen beschossen, vergewaltigt, ausgeraubt, in die Luft gesprengt oder zum Passivrauchen gezwungen zu werden? Mal ganz davon abgesehen, dass Amazon das Schlafzimmer abhört! Offenbar wird in Wien die Angst trotz ihrer Nebenwirkungen sehr gern konsumiert. Dabei ist Wien so schön und so reich, wird regelmäßig zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt. Ist es vielleicht nicht nur in Wien, sondern auch anderswo gerade der Wohlstand, der die Menschen ängstlich, misstrauisch und neidisch macht? Fürchten die Besitzenden den plötzlichen Verlust noch weit mehr als die Mittellosen? Soll ich am Ende gar den Satz wagen: Die Demagogen haben in unserer Zeit großen Erfolg, nicht weil es den Leuten schlecht, sondern weil es ihnen zu gut geht?

Das Wien im Schein der Abendsonne ist so schön, dass es mich am Ende fast stört, noch in einen Keller hinabsteigen zu müssen, um dort Leuten etwas vorzulesen. Aber auch dies meistere ich mit Hilfe einiger Stimmungsbiere. Nach getaner Arbeit und zwei verkauften Büchern sitze ich mit Kollegen in der noch erstaunlich milden Nachtluft. Mit dem Gastgeber, der mich vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Wien eingeladen hatte, spreche ich über den Wandel der Zeiten und des Publikums. Mir entfährt die kulturpessimistische These, die jungen Leute seien heute im Allgemeinen unempfänglicher für das Abseitige, das Anstößige, das Spielerische in der Literatur. Es dürste sie stattdessen nach sprachlich glatter, gedanklich schlichter und moralisch einwandfreier Lehr- oder Bekenntnisdichtung. Mein Wiener Gastgeber stimmt mir immerhin darin zu, dass es die Ironie auf Bühnen heute schwerer als früher habe. Ob meine kulturpessimistische These auch ohne den Einfluss von sieben Bieren tragfähig bleibt, wäre in Zukunft noch genauer zu prüfen.

Auf der Heimfahrt nach Berlin am nächsten Tag versuche ich, das Buch zu Ende zu lesen, das ich auf meine Reise mitgenommen hatte: Peter Altenbergs Wie ich es sehe. Aber meine Geduld reicht immer nur für ein paar Zeilen, dann fesseln mich schon wieder die Bilder der kleinen Welt, die mich umgibt. Jetzt zum Beispiel streitet sich gerade ein junger Amerikaner mit seinem Vater darüber, wie man richtig Bilder mit der Fotokamera aufnimmt. Der Sohn meint, der Vater solle nicht immer auf den Vordergrund fokussieren, der Hintergrund verschwimme so und sehe aus wie weißgestrichen, ganz furchtbar. Der Vater verteidigt seinen Stil mit der Milde des Alters, die nicht mehr in die Ferne strebt wie die Jugend, sondern das Naheliegende zu schätzen weiß. Soll man diese Einstellung des Alten auf seine Kurzsichtigkeit zurückführen? Oder auf seine Weitsichtigkeit? Die Ehefrau und Mutter zwischen den zwei streitenden Männern macht derweil die ganze Zeit nur: „Schscht! Schscht!“

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