Termine der Woche

Am Dienstag (8. Oktober) lese ich mit bei der Show Peace, Love & Poetry in Berlin. Mit dabei sind auch die Kollegen Aidin Halimi und Karsten Lampe. Los geht es um 20:30 Uhr im Frannz Club.

Am Donnerstag (10. Oktober) gibt’s von unserer Dresdner Lesebühne Sax Royal wieder heitere Alltagsgeschichten, systemsprengende Satiren und herzerweichende Poesie in der Scheune. Mit mir lesen Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth sowie erstmals als Gastautor Dirk Bernemann aus Berlin! Karten bekommt ihr bis Mittwoch im Vorverkauf oder am Donnerstag am Einlass ab 19:30 Uhr. Los geht es um 20 Uhr.

Am Sonnabend (12. Oktober) lese ich zum ersten Mal im Leben in Zeitz! Ich bin gespannt auf die Stadt, die schon als kommende Trendmetropole gehandelt wird und werde einige alte und neue Geschichten mitbringen. Los geht es um 20 Uhr im Kunsthaus Zeitz (Rahnestraße 20). Start: 2o Uhr.

Zitat des Monats September

He! Ich will raus! Machen Se de Dür off! Ist der besoffen oder was? Ich will raus! Das gann dorr ni sein! Ist der bescheuert oder was? So eine Scheiße hier, do!

ältere Dresdner Dame, die im Bus der Linie 64 durch die mittlere Tür aussteigen musste, weil der Fahrer die hintere Tür nicht öffnete

„Literatur Jetzt!“ – Festival zeitgenössischer Literatur in Dresden vom 25. bis 29. September 2019

Zum elften Mal findet vom 25. bis 29. September 2019 „Literatur Jetzt!“ statt, das Festival zeitgenössischer Literatur in Dresden, das ich von Anfang an mitorganisiere. Einiges haben wir umgeworfen und neu gebaut in diesem Jahr. Das Festivalteam ist größer und weiblicher, hat sich außerdem nun in einem eigenständigen Verein organisiert. Außerdem haben wir ein neues Zentrum für unser Festival gefunden, nicht nur für dieses Jahr, sondern hoffentlich auch für die kommenden: die Wohn- und Kulturgenossenschaft Zentralwerk in Pieschen. Ein altes Fabrikgelände wurde hier von einer Baugemeinschaft zu einem Ort für Kunst, Arbeit und Leben ausgebaut. Schon der prachtvolle, erst teilweise sanierte Saal lohnt einen Besuch. Werden die Dresdner den Weg ins unbekannte Gelände wagen? Jeweils eine Veranstaltung findet aber auch in der Scheune und der Schauburg statt.

Auf unserer Homepage findet sich das komplette Programm mit 20 Veranstaltungen und über 40 Autorinnen und Autoren. Besonders ans Herz legen möchte ich euch die Lesungen, um die ich mich in diesem Jahr besonders gekümmert habe:

Zum ersten Mal in Dresden wird am Donnerstag (26.9.) der Reporter Slam zu erleben sein, bei dem Journalistinnen und Journalisten von ihren witzigsten und aufregendsten Recherchen erzählen. Das Publikum in der Scheune kürt am Ende des von Jochen Markett moderierten Abends einen Sieger oder eine Siegerin. Los geht es um 20 Uhr.

Am Freitag (27.9.) feiern wir um 21 Uhr im Zentralwerk mit einer besonderen Jubiläumsshow „30 Jahre Lesebühnen“ diesen Geburtstag und das gleichnamige, im Satyr Verlag erschienene Buch. Das Genre der komischen und satirischen Literatur, das nun schon so lange auf den Lesebühnen in Berlin und anderso zuhause ist, wird durch Ahne, Tilman Birr, Falko Hennig und Lea Streisand repräsentiert.

Am Sonnabend (28.9.) moderiere ich im Zentralwerk eine Lesung: Anselm Neft stellt sein neues Buch „Die bessere Geschichte“ vor, ein beeindruckender und von der Kritik zurecht sehr gelobter Roman über die Jugend, sexuelle Gewalt, Manipulation und Befreiung. Los geht es damit schon um 17 Uhr.

 

Termine der Woche

Am Mittwoch (18. September) kehrt meine Lesebühne Zentralkomitee Deluxe in Berlin endlich aus der tödlich öden Sommerpause zurück! Wie immer präsentieren wir brandneue Geschichten, Satiren und Songs, um die Gesellschaftsordnung und das Zwerchfell zu erschüttern. Die Stammautoren sind Tilman Birr, Noah Klaus, Christian Ritter, Piet Weber und ich. Wir begrüßen diesmal außerdem gleich zwei Gäste: die Songwriterin Mädchen aus Berlin und den Vorleser Meikel Neid. Um 20 Uhr in Kreuzberg an der Oberbaumbrücke im Musik & Frieden. Tickets gibt’s im Vorverkauf für nur 6 Euro. An der Abendkasse kostet der Eintritt 8 Euro.

Termine der Woche

Am Donnerstag, den 12. September, endet die grausigste Zeit des Jahres, eine ganze Stadt atmet erleichtert auf: Die Sommerpause unserer Dresdner Lesebühne Sax Royal geht zuende! Die anderen Stammautoren Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth präsentieren mit mir von nun an wieder immer am zweiten Donnerstag des Monats neue Geschichten, Gedichte und Lieder in der Scheune. Sie erzählen heiter von den Wundern und Wirrnissen des Alltags, attackieren satirisch die Doofmänner Deutschlands und besingen reimgewandt die Liebe, das Bier und alles sonst noch Schöne auf der Welt. Zum Auftakt nach der Sommerpause werden sie traditionsgemäß besonders von ihren schönsten Ferienerlebnissen und Abenteuern in der Fremde berichten. Wie immer haben wir uns auch einen Gast eingeladen: Diesmal kommt die Liedermacherin und Autorin Katrin Freiburghaus aus München. Tickets gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf oder am Donnerstag an der Abendkasse am Einlass ab 19:30 Uhr. Los gehts um 20 Uhr.

Termine der Woche

Am Sonntag (8. September) bin ich in Dresden Gastautor der Buchmesse DRESDEN erLESEN, bei der sich unabhängige Verlage auf dem Schloss Albrechtsberg vorstellen. Ich präsentiere um 15 Uhr im Billardsaal für alle, die es noch nicht kennen, mein aktuelles Buch Der Bürger macht sich Sorgen, das im wunderbaren Verlag edition AZUR erschienen ist. Moderator der Lesung ist Michael Hametner.

Björn Höcke und sein Kampf

Anfällig für totalitäre Ideologie sind Menschen, die keine Religion mehr haben, sich aber nach einem Glauben sehnen. Solche Leute sind überfordert und angewidert von der Zerrissenheit und Unsicherheit der modernen Welt. Sie leiden am Zweifel und wollen ihn überwinden. Sie sehnen sich nicht nur nach einer absolut wahren Weltanschauung für sich selbst, sondern auch danach, umgeben von Menschen zu leben, die ganz genauso aussehen, denken und reden wie sie selbst. Sie wünschen sich die Identität, sie fürchten und hassen das Abweichende, das Fremde, das Vermischte. In vormodernen Zeiten konnte die überkommene Religion solche Wünsche wenigstens zum Teil befriedigen. Die Dorfgemeinschaft, in der die meisten Menschen lebten, bot eine hierarchische, abgeschlossene Ordnung, in der jeder schon durch seine Geburt seinen Platz fand. Das Paradox des modernen Konservatismus ist es, die Erneuerung einer solchen vergangenen Gesellschaft zu fordern, die Wiederkunft einer Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist.

Je aussichtloser der Kampf des Konservatismus wurde, desto wütender und brutaler wurden jene Konservativen, die sich nicht mit der liberalen Gesellschaft versöhnten. Sie verbündeten sich mit den Nationalisten in der Hoffnung, wenn schon nicht die Kirche, so werde doch wenigstens noch die Nation einen Rest an Gleichförmigkeit und Ordnung bewahren. So wurde der Faschismus geboren. Der aber brachte, auch in seiner spezifisch deutschen, nationalsozialistischen Form, gar nicht das Erhoffte: In der technischen und staatlichen Durchdringung der Gesellschaft wurde die Modernisierung noch beschleunigt. Und Frieden kehrte auch nicht ein, weil die Gleichförmigkeit und Geschlossenheit einer Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne nur mehr zu haben sind durch Uniformierung und Krieg mit äußeren Feinden. Trotz der katastrophalen Folgen des faschistischen Versuchs gibt es auch heute noch Menschen, die es für eine gute Idee halten, ihn zu wiederholen.

Einer von ihnen ist Björn Höcke, der Landesvorsitzende der Partei Alternative für Deutschland in Thüringen. Sein Charakter wird von der unglücklichen Sehnsucht nach einer ursprünglichen Einheit bestimmt, die von der Moderne durch die „Entwurzelung der Menschen“ zerstört worden sei. Gegen solch „zersetzende[n] Materialismus“ hilft natürlich nur Idealismus, aber da schlägt leider das konservative Paradox zu: Der Konservative ist von dem Unglauben, den er besiegen möchte, selbst schon längst besiegt. Höcke will gern noch glauben, dass „eine letztlich unerklärliche, göttliche Macht die Welt durchwaltet und die Schöpfung einen – uns Menschen verborgenen – Sinn hat“. Das ist nun allerdings spiritualistischer Kitsch, wie ihn auch jeder Grünen-Wähler von sich geben könnte. Ehrlicher ist Höcke, wenn er gesteht, ihm fehle „die feste Glaubensgewißheit“, um sich „als überzeugten ‚Christen‘ im konfessionellen Sinne bezeichnen zu können.“ So ist Höckes Denken einerseits zutiefst irrational, andererseits aber in keiner Weise mehr christlich – eine seiner vielen Gemeinsamkeiten mit Adolf Hitler. Geradezu lehrbuchhaft zeigt Höcke, wie dem Nationalisten das „Volk“ die Religion ersetzt:

Als Teil einer Gemeinschaft, wie etwa als Angehöriger eines Volkes, kann jeder einzelne zu einem wichtigen Glied einer langen historischen Kette werden. Wie bei einem Staffellauf, bei dem der Staffelstab von Generation zu Generation weitergereicht wird, jeweils versehen mit einem ganz bestimmten historischen Auftrag. Das tröstet über die individuelle Vergänglichkeit hinweg und läßt einen zuversichtlich an dem gemeinsamen Werk weiterarbeiten.

In den Schriften Höckes finden sich zuhauf weitere metaphysische Glaubenssätze, so zum Beispiel das Geschichtsgesetz vom „unaufhörlichen Auf- und Abstieg von Gemeinwesen“. Es gehört zum traditionellen Repertoire der Rechten, sein bekanntester Verkünder war Oswald Spengler. Ein solch zyklisches Bild passt allerdings schlecht zu der Angst vor einer „nationale[n] Apokalypse“, ja gar der „finale[n] Auflösung aller Dinge“, die Höcke anderswo hegt. Wenn der Untergang unvermeidlich ist wie der Wechsel der Jahreszeiten, wieso gegen ihn ankämpfen? Aber die Untergangsdrohung ist notwendig, denn ohne sie verlöre Höckes Selbstausrufung zum nationalen Erlöser an Dringlichkeit. Da muss die Kollision von heidnisch-zyklischem und christlichem Denken einfach in Kauf genommen werden. Dass es einem Erlöser von heilsgeschichtlichem Rang nicht einfach nur um schnöde Politik zu tun ist, versteht sich von selbst: „Es geht nicht nur darum, ein Gemeinwesen gut zu organisieren. Es geht auch um die Wiederverzauberung der Welt.“

Man könnte den Zauberlehrling Höcke belächeln, hätte er nicht womöglich bald politische Macht. Sein Denken ist nicht originell, es unterscheidet sich nicht von dem unzähliger rechter Spinner, die in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich unbemerkt erblühten und verwelkten. Da nun aber Höcke zu einiger Bekanntheit gelangt ist, wäre es ein Versäumnis, sich nicht mit seinen Worten zu beschäftigen. Dabei steht der Interpret aber vor einer Schwierigkeit. Björn Höcke ist ein notorischer Lügner. Er behauptete, nichts mit dem Neonazismus zu tun zu haben, doch dann tauchte zu seinem Leidwesen ein Film auf, der ihn 2010 grölend mitten in einer Neonazi-Demonstration in Dresden zeigte. Höcke leugnet weiterhin, unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ Texte für Magazine seines Neonazi-Freundes Thorsten Heise geschrieben zu haben, obwohl dies von dem Autor Andreas Kemper längst überzeugend nachgewiesen wurde. Seine Androhung, jeden zu verklagen, der behaupte, er sei Landolf Ladig, hat Björn Höcke nicht wahr gemacht – aus Angst davor, in einem Prozess der Lüge überführt zu werden. Wie soll man nun aber die Texte eines so feigen Schwindlers lesen? Muss man nicht die Aufrichtigkeit jedes Satzes in Frage stellen? Erübrigt sich dann nicht jede Interpretation? Das alles wäre nur der Fall, wenn man den aussichtlosen Versuch unternähme, die „wahre“ Meinung zwischen den verlogenen Zeilen der Texte aufzuspüren. Fruchtbarer ist es, gerade die Widersprüche, Doppeldeutigkeiten und Unklarheiten aufzuspüren, um ermessen zu können, welche Wirkung sich Höcke von seinen Worten verspricht und welche ihnen beschieden sein mag.

Björn Höcke hätte sich mit dem Band Nie zweimal in denselben Fluss wohl gerne als smarter Neurechter inszeniert. Tatsächlich ließ er seinem neonazistischen Bekenntnistrieb jedoch so sehr die Zügel schießen, dass selbst einige seiner Parteifreunde erschraken. Eine solche Wirkung deutet darauf hin, dass sich bei der Entstehung des Buches zwei widersprüchliche Absichten überkreuzt haben. Es handelt sich zunächst um eine Werbeschrift, die Anhänger gewinnen und nicht verschrecken soll. Aber Höcke ist ein Überzeugungstäter. Immer wieder bricht daher doch seine tiefere Weltanschauung hervor, der Glaube daran, dass der Nationalsozialismus die wesensgemäße politische Form des deutschen Volkes sei. Die so entstandene Zwiespältigkeit des Buches zeigt sich schon in seiner Form. Als Interviewbuch (mit dem Stichwortgeber Sebastian Hennig) soll es sich deutlich von Hitlers Bekenntnisschrift Mein Kampf unterscheiden. Doch die strukturelle Ähnlichkeit bleibt dennoch erkennbar: Höcke erzählt wie Hitler zunächst von ländlicher Heimat, Kindheit und Familie, um Sympathie beim Leser zu wecken und einige kulturpessimistische Nostalgie anzubringen. Wer mag einem Knaben gram sein, der sich warme Milch aus dem Euter der Kuh in den Mund spritzen lässt? Der als jugendlicher Naturbursche einsam durch den deutschen Wald läuft, um zu sich selbst zu finden? Es folgt die Geschichte einer Karriere, in der ein begabter und ehrlicher Kerl an ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert, was ihn dazu zwingt, in die Politik zu gehen, um das Land zu retten. Bei Hitler ist’s die Kunst, bei Höcke die Pädagogik. In beiden Büchern besteht der Rest sodann aus einem Mischmasch von weiteren persönlichen Bekenntnissen, Anekdoten, politischen Forderungen und parteitaktischen Ansagen.

Jeder, der schon einmal Mein Kampf gelesen hat, stößt bei Höcke auf geradezu haarsträubend offensichtliche Anleihen. So zum Beispiel, wenn er seine Eignung zum Führer durch seine wildromantische Kindheit beglaubigt: „Ich war meistens Bandenführer, bei den Keilereien oft ganz vorne mit dabei.“ Bei Hitler lautet die entsprechende Stelle: „Das viele Herumtollen im Freien, der weite Weg zur Schule, sowie ein besonders die Mutter manchmal mit bitterer Sorge erfüllender Umgang mit äußerst ‚robusten‘ Jungen, ließ mich zu allem anderen eher werden als zu einem Stubenhocker. […] Ich glaube, daß schon damals mein rednerisches Talent sich in Form mehr oder minder eindringlicher Auseinandersetzungen mit meinen Kameraden schulte. Ich war ein kleiner Rädelsführer geworden, der in der Schule leicht und damals auch sehr gut lernte, sonst aber ziemlich schwierig zu behandeln war.“ Höckes Versuch, in seinem Buch sein Programm in einem halb staatsmännischen, halb bildungsbürgerlichen Ton vorzutragen, muss wenigstens bei allen nicht völlig blauäugigen Lesern einen ziemlich zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Man sieht und hört einen Björn Höcke, der zwar Kreide gefressen, sich aber kein Schafsfell übergeworfen hat. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Doppeldeutigkeit Methode, wie auch Höckes Reden zeigen. Seine Anspielungen auf den Nationalsozialismus sind für einschlägige Kameraden erkennbar, eher schlicht konstruierte Durchschnittsossis hingegen können den Eindruck gewinnen, hier sei doch alles gar nicht so schlimm, wie die Lügenpresse immer behaupte.

Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun, versucht Höcke an wenigen Stellen im Text, sich vom historischen Nationalsozialismus zu distanzieren: „Selbstverständlich dürfen wir unsere Augen nicht vor den Fehlern und Verbrechen der NS-Zeit verschließen.“ Seine abfällige Rede über das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ erklärt er wie folgt: „Damit sollte das furchtbare Leid und die vielen Opfer der Juden während der NS-Zeit nicht in Frage gestellt oder verharmlost werden, sondern nur unsere Art des Umgangs mit diesem factum brutum.“ Und an einer weiteren Stelle kritisiert er den „NS-Imperialismus“, der „eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrecht [sic] der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ Stets verwendet Höcke in solchen Passagen die Abkürzung „NS“, als wollte er das heilige Wort „Nationalsozialismus“ nicht entweihen, für das vorläufig noch die Ersatzvokabel „solidarischer Patriotismus“ einspringen muss. Nie werden die Täter der nationalsozialistischen Verbrechen genannt: nicht die Deutschen, nicht die Nazis, nicht einmal der sonst als Alleinschurke so beliebte Hitler. Es scheint fast, als wären die Verbrechen einfach geschehen, gleich einem schicksalhaften Verhängnis. Aus Höckes Ladig-Schriften wissen wir, dass er tatsächlich den Feinden Deutschlands die Schuld für die Weltkriege und ihre Opfer zuschiebt. Die Obszönität schließlich, von „Fehlern“ eines Regimes zu sprechen, das im Ganzen nichts als ein einziges gewaltiges Verbrechen war, muss nicht weiter kommentiert werden. Seine halbherzige Distanzierung vom biologistischen Rassismus wird übrigens an anderen Stellen konterkariert, etwa jener, an der er über die Zulässigkeit dunkler Hautfarben in Deutschland schwadroniert.

Höcke steckt in der Klemme, in der alle Nationalisten stecken: Als unbedingter Liebhaber „seiner“ Nation kann er, soll das „eigene“ Herz nicht brechen, deren Verbrechen nur verharmlosen, verdrängen, leugnen oder rechtfertigen. Diese Selbstverstümmelung von Geist und Seele müsste man bedauern, wäre sie zugleich nicht auch gefährlich. Der nationalistische Verbrecher versucht stets, den Beweis seiner Unschuld durch die Ermordung seiner Ankläger zu erbringen. Nie vergisst er, dabei immerzu seine Unschuld zu beteuern:

Wir sollten ganz selbstbewußt darauf hinweisen, daß die Kategorie ‚Volk‘ der zentrale Orientierungspunkt in unserem politischen Denken und Handeln ist. Und daß das Eigene an erster Stelle kommt. Was soll auch daran verwerflich sein, sich seinem eigenen Volk mehr verbunden und verpflichtet zu fühlen als einem anderen? Eltern tun das ebenso mit ihren Kindern, ohne deswegen gleich zu Menschheitsfeinden zu mutieren.

Man könnte schlicht und richtig erwidern: Ein Staat ist keine Familie. Aber selbst wenn wir uns auf diese Metapher einlassen: Gibt es denn Widerwärtigeres als den Anblick von Nahkampfeltern, die morgens ihre Brut um jeden Preis als erste in die Schule tragen wollen, selbst wenn sie dafür fremde Kinder niederwalzen müssen? Solch eine egoistische Affenhordengesinnung möchten Höcke und seine Freunde offen zum Leitbild der Politik machen. Ganz wie für Hitler ist auch für Höcke, diesen im Innersten hohlen, nihilistischen Menschen, das Recht des Stärkeren letztlich höchstes Gesetz. So heißt es zum Beispiel über den europäischen Kolonialismus: „Möglicherweise besteht die größte Schuld der Kolonisten in ihrem oft kampflosen Rückzug aus der Verantwortung für Landschaften, die sie kultiviert haben.“ Was Höcke hier predigt, ist das sogenannte Recht der Eroberung, das jahrhundertelang wider jede Vernunft durch die Geistesgeschichte geschleppt wurde, um Ausbeutung und Unterdrückung staatsphilosophisch zu begründen. Was von Höckes Absage an den „NS-Imperialismus“ wirklich zu halten ist, entlarvt sich damit wohl auch.

Die Liste der Widersprüche innerhalb der Ideologie Höckes ließe sich noch fortsetzen. So räumt er ein, Völker seien keine unveränderlichen Wesen, sondern dem geschichtlichen Wandel unterworfen, ja in gewisser Weise sogar Ergebnis von „Konstruktion“. Ratlos steht der Leser aber sodann vor der Behauptung, der Islam habe einen „eigenen, geographisch umreißbaren Raum“, in dem die Muslime gefälligst zu verbleiben hätten. Woher hat der Islam diesen Raum? Ist er ihm unabänderlich zugewiesen worden? Von wem? Und mit welchem Recht werden die vermeintlichen Versuche der Muslime, den Westen zu kolonisieren, verdammt, während die westlichen Kolonisten für ihre zivilisatorische Leistung belobigt werden? Was unterscheidet die segensreiche Europäisierung Afrikas von der „Afrikanisierung“, die Höcke für Europa fürchtet wie schon Hitler die „Vernegerung“? Es passt einfach nichts zusammen. Um den Vorwurf des biologistischen Rassismus zu entkräften, sagt Höcke, in Ausnahmefällen sei ihm Einwanderung durchaus willkommen. Was versöhnlich klingt, bekräftigt tatsächlich aber nur den Machtanspruch: Denn natürlich sollen Höcke und seine Kameraden die Richter sein, die beurteilen, welche Menschen „ethnisch-kulturell […] verwandt“ genug sind, um aufgenommen werden. Wenn Höcke „Tropfeneinwanderung“ für akzeptabel hält, bringt schon die Sprache unwillkürlich an den Tag, dass sein beschränkter Geist Einwanderung nur in Analogie zur Infektion begreifen kann.

Am Nationalismus von Björn Höcke wird niemand zweifeln. Aber wie steht es mit dem Sozialismus? Was sollen wir von dem Versprechen, mit dem er gerne Linke in sein nationales Lager locken möchte, halten, auch er wolle den Kapitalismus „überwinden“?

Mit Kapitalismus meine ich also nicht eine sinnvolle Marktwirtschaft, die in einer erneuerten Volkswirtschaft ihren wichtigen Platz haben wird, sondern die einseitige Dominanz und Extremisierung eines Produktionsfaktors – des Kapitals – unter Vereinnahmung der beiden anderen: Arbeit und Boden. Man kann dieses System mit der Formel zusammenfassen: Geld regiert die Welt! Dagegen stellen sich völlig zurecht linke wie rechte Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker.

Keine Ahnung von Ökonomie zu haben, ist kein Verbrechen. Sich aber als Ahnungsloser zum Reformator der Weltwirtschaft aufzuwerfen, das erfüllt den Straftatbestand der Beleidigung des gesunden Menschenverstandes. Höckes ökonomische Theorie bewegt sich durchgängig auf dem Niveau der Kapitalismuskritik von Onkel Heinz, der sich nach dem dritten Bier darüber aufregt, dass die Brötchen schon wieder teurer geworden sind und man immer noch keine deutschen Bananen kaufen kann. Es ist nichts als die alte nationalsozialistische Leier: Wenn nur erst die fremden Zinswucherer (zwinker, zwonker!) ausgesperrt und vertrieben sind, wird die deutsche Volkswirtschaft erblühen. Die ehrlichen deutschen Unternehmer und die fleißigen, gehorsamen „deutschen Arbeiter“ werden einander umarmen und brüderlich das Volkswohl mehren. Es gibt bekanntermaßen viele Tröpfe, die für solche Propaganda empfänglich sind. Aber ein „linker Globalisierungskritiker“, der auf einen solchen Lockruf hereinfiele, hätte es wahrlich verdient, für den Rest seines Lebens Eicheln zu fressen.

An nichts erkennt man den Faschisten deutlicher als an seinem Hang zur Projektion, also seiner Neigung, dem Gegner die Verbrechen zu unterstellen, die er selbst plant. So heißt es über die finstere Verschwörung der ominösen „Machthaber, die zu einer geschlossenen transatlantischen Politelite gehören“:

Wir sollen abstrakte, reine Menschen werden, ausgestattet mit universalen Menschenrechten – möglichst ohne Verschmutzung durch irgendeine Volkszugehörigkeit und nationale Traditionen. Wenn man so will, eine ‚ethnische Säuberung‘ der ganz besonderen Art!

Die Linksversifften wollen also in Wahrheit säubern? Kann das denn sein? Das sieht ihnen doch gar nicht ähnlich! Und tatsächlich sind’s auch allein die Nationalisten, die unter einem Putzfimmel leiden. Linke und Liberale wollen niemandem irgendeine kulturelle Identität stehlen oder abtrainieren, sondern nur allen die gleichen Rechte geben, ihre Identität frei zu wählen und so weit als möglich auszuleben oder stattdessen: einfach auf jede Identität zu pfeifen. Das ist dem Nationalisten, dem es um die „Wiederherstellung von Identitäten“ geht, natürlich ein Graus. Um sich selbst ein wenig Mut einzuflößen, entwirft er schon einmal die sadistische Vision einer künftigen ethnischen Säuberung Europas:

Ja, neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein großangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein. Und bei dem wird man, so fürchte ich, nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘, wie es Peter Sloterdijk nannte, herumkommen. Das heißt, das sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden. Man sollte seitens der staatlichen Exekutivorgane daher so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig vorgehen.

Hätte Höcke doch geschwiegen, statt seine Leser so das Gruseln zu lehren! Jeder geschickte neurechte Demagoge fasst sich an den Kopf: Natürlich wollen wir das, aber wir sagen das doch nicht laut! Aber Höcke steht und kann nicht anders. Er ist einer von den Männern, deren Sendungsbewusstsein ihre Klugheit überwiegt. Sonst hätte er sich gewiss auch nicht auf so dreiste Weise dazu bereit erklärt, Deutschland künftig als Diktator zu dienen:

Ein verantwortungsvoller Politiker darf sich bei aller Bürgernähe nicht von den schwankenden Stimmungen des Volkes abhängig machen, zumal diese manipuliert sein können. Auch bei einer wiederhergestellten inneren Einheit muß er ein Sensorium für die ‚volonté generale‘ besitzen und notfalls auch gegen die aktuellen öffentlichen Befindlichkeiten und für das Volk die richtigen Entscheidungen treffen – also nicht selbstherrlich-autokratisch, sondern im dienenden Sinne. Das zeichnet einen Staatsmann gegenüber einem reinen Populisten aus, der immer ochlokratisch abzustürzen droht.

Wer das Volk ist, bestimme ich! Und was es wirklich will, weiß ich am besten! Am lustigsten an diesem Dokument des Größenwahns ist es, wie Höcke aus Versehen eben jene Verachtung des Volkes demonstriert, die er selbst Angela Merkel und dem Rest der Volksverräter vorwirft. Es kann also vorkommen, dass die Mehrheit des Volkes sich als οχλος erweist, also Pöbel, Mob und Pack? Gegen das dann stramm durchzuregieren ist? Wird in der Zukunft vielleicht gegen den Diktator Höcke, der die Stimme des Volkes missachtet, einmal eine montägliche Straßenbewegung aufbegehren? Wahrscheinlicher ist dann wohl doch, dass die unerklärliche, göttliche Macht, die das Universum durchwaltet, gar nicht im Sinn hat, sich die Erde vom nationalen Erlöser Björn Höcke extremisieren zu lassen.

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Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Mit einem Vorwort von Frank Böckelmann. Lüdinghausen und Berlin: Manuscriptum, 2. Aufl. 2018

Zitat des Monats August

Vaterlandsliebe. Man preist sie von allen Kanzeln und Rednerbühnen, als eine der höchsten Tugenden. Ich bin an ihr etwas irre geworden. Sie ist etwas höchst Zweideutiges. Eine politische Tugend kann sie sein für das Regierungsbedürfnis; aber doch wahrlich keine im höhern Sinn christliche. Sie widerspricht vielmehr dem hohen Geiste Jesu und seinen weitliegenden Worten. Er nannte und kannte und empfahl kein Vaterland; die Welt war sein und seiner Jünger Vaterland, der Nächste, und mit wem er auch zunächst in Berührung kommen mochte, war sein Bruder. Tugend ist die Vaterlandsliebe offenbar nicht. Ihre Quellen sind allzu trübe. Sie entspringt nicht aus Überzeugungen, nicht aus notwendigen Vernunftwahrheiten; sondern aus Anhänglichkeit an Umgebungen, die für uns durch Jugenderinnerungen individuellen Reiz haben, oder aus eingerosteter Gewohnheit in gewissen Verhältnissen. […] Oder die Vaterlandsliebe ist höchstens Frucht des Nationalstolzes. Je tiefer der Mensch auf den Stufen der Kultur steht, je größer ist dieser Stolz; so wie sich gewöhnlich der Dümmste am klügsten zu sein einbildet. […] Die Vaterlandsliebe streift sich mit den alten Ortsgewohnheiten ab. Oft ist sie nichts, als behagliche Spießbürgerei. […] Nein, sie ist keine Menschentugend; eine Art Bürgertugend mag sie sein, behufs der Staatsvorteile. Auch wird in der Regel nur von Beamten an sie appelliert, wenn es um ungewöhnliche Abgaben, um Opfer für den Staat, um Landesverteidigung und Krieg zu tun ist. Tugend ist nie die Mutter des Übels. Aber die lebendigste Vaterlandsliebe erzeugt die schädlichsten Untugenden. Entsteht sie durch Gewöhnung an gewisse Orts- und Landeszustände: so verblendet sie gegen bessere Verhältnisse andrer Länder; wird zum verderblichen Vorurteil, und hindert an der Verbesserung und Veredlung des eignen Volks. Entsteht sie aus Nationalstolz: so gebiert sie den Nationalneid und Nationalhaß. Sie erstickt die Gefühle allumfassender Menschenliebe.

Carl Gustav Jochmann (1789-1830)

Goethe und die Frankfurter Hauptschule

Wer nach öffentlichen Zeugnissen des Wirkens der Frankfurter Hauptschule sucht, der stößt auf einige leidlich amüsante Aktionen von anarchistisch-hedonistischem Charakter. Die Kunststudenten haben in ihrer Heimatstadt zum Beispiel schon für den Erhalt des Drogenviertels agitiert und einen wie ein Polizeiauto lackierten Wagen abgefackelt und sodann zur Skulptur erklärt. Die Mittel, mit denen solche ästhetischen Provokationen bewerkstelligt werden, sind inzwischen allgemein bekannt. Das Zentrum für politische Schönheit bedient sich ihrer ebenso routiniert wie die Identitäre Bewegung. Ihre Wirkung verfehlen die Krawallnummern dennoch nicht, die Boulevardpresse und die AfD regen sich stets so reflexhaft auf wie gewünscht. So kommt man ins Gespräch. Nach einer programmatischen Begründung ihrer Aktionen sucht man bei dem Künstlerkollektiv der Frankfurter Hauptschule vergebens. Auf der Homepage wird Merchandise verkauft, auf dem Instagram-Profil posieren die jungen Leute stolz neben den Schlagzeilen der Bild-Zeitung, die sie gemacht haben.

Nun haben die Hauptschüler das Gartenhaus Goethes in Weimar mit Klorollen beworfen. Der Protest richte sich – so erklärt ein Mitglied der Gruppe im Interview – gegen den Sexismus Goethes, der in seinen Werken „erotische Hierarchien zu Ungunsten seiner Frauenfiguren“ erschaffen habe. Im Speziellen stoße man sich an dem Gedicht Heidenröslein, das Jugendgedicht Goethes verharmlose eine Vergewaltigung. Überhaupt habe Goethe Frauen in Kunst wie Leben immer sehr schlecht behandelt:

Die Frauenfiguren in seinen Werken wirken häufig eher schwach: ‚Faust‘ ist ein gutes Beispiel. Gretchen ist 14 Jahre alt und wird eher dumm und naiv dargestellt. Faust dagegen ist der schlaue, rastlose Denker. Bei Goethe sind meist die Männer die Handelnden und die Frauen passiv. Auch in Goethes Leben gab es ja einige etwas komische Episoden mit jungen Frauen: Als 40-Jähriger verführte er die 23-Jährige Christiane Vulpius und schwängerte sie. In der Folge hielt er sie von seinem Wohnhaus im Zentrum Weimars fern, da er sich für die nicht standesgemäße Verbindung mit einer Putzfrau schämte. Er schob sie in sein Gartenhaus ab. Noch mit weit über 70 bedrängte Goethe die 17-Jährige Ulrike von Levetzow. Immer wieder beutete er Frauen emotional aus, ließ seine Partnerinnen sitzen und verschwand. Außerdem befürwortete er als Jurist vehement die Hinrichtung einer verwirrten, mittellosen Dienstmagd, die ihr Neugeborenes umgebracht hatte.

Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Vergleicht man Goethes Frauenfiguren mit denen seiner Zeitgenossen, dann fällt nicht die Unselbstständigkeit der Frauen, sondern ihre Selbstständigkeit auf, nicht ihre Dummheit, sondern ihre Klugheit, nicht ihre Passivität, sondern ihre Aktivität. Ähnlich verhält sich’s mit Goethes Verhältnis zu Frauen im wahren Leben: Christiane Vulpius war keine Putzfrau, sie lebte sehr wohl auch in Goethes Stadthaus und sie war keine Sklavin, sondern eine ziemlich selbstbewusste Frau, die Goethe schließlich auch heiratete. Dass Goethe sie „verführt“ hätte, entspringt der sexistischen Fantasie der Frankfurter Hauptschüler, denen eine selbstbestimmte junge Frau aus proletarischem Milieu offenbar unvorstellbar ist. Goethes Beziehung zeigt nicht seine Rückständigkeit, sondern seine Fortschrittlichkeit: Seine nicht verheimlichte Beziehung zu Christiane war ein Affront gegen die Moralvorstellungen seiner Zeit. Vergleicht man Goethes Frauenbild allerdings nicht mit dem seiner Epoche, sondern mit dem moralischen Standard der Gegenwart, dann kann man nur zu einem Verdammungsurteil gelangen. Es bleibt nur die Frage, wie witzlos und arrogant man sein muss, um Befriedigung darin zu finden, in vergangenen Jahrhunderten nach Leuten zu fahnden, die noch nicht so weit fortgeschritten waren wie wir heute.

Ratlos steht der Beobachter auch vor einer Gruppe von jungen Künstlern, die ihren Stolz nicht nur darein setzen, nichts über Goethe zu wissen, sondern auch nichts über Kunst. Sie kennen keinen Unterschied zwischen Kunst und Leben, keinen zwischen Autor und literarischem Erzähler, keinen zwischen der Darstellung einer Sache und ihrer Befürwortung. Zweifellos lässt sich das Heidenröslein als allegorische Darstellung einer Vergewaltigung lesen. Aber es ist ein „Knabe“, also ein noch unreifer, dummer Junge, der den Versuch macht, sich Schönheit gewaltsam anzueignen. Und eben dieser Versuch muss scheitern, nicht nur weil Schmerz seine unmittelbare Folge ist. Natürliche Schönheit lässt sich auf eine solche Weise überhaupt nicht in Besitz nehmen, sie muss entwurzelt verdorren. Wer in diesem Gedicht nichts als „humoristische Vergewaltigungslyrik“ erkennt, der kann nicht lesen.

Vor hundert Jahren forderten die Berliner Dadaisten, man solle die Werke Goethes im Klosett versenken. Das Bildungsbürgertum schäumte vor Wut. Verfolgen unsere Hauptschüler nicht die gleiche Absicht? Das kann sein, nur scheinen sie noch nie über den Wandel der Zeiten nachgedacht zu haben. Vor hundert Jahren florierte noch ein nationalistisch aufgeladener Goethe-Kult im deutschen Bürgertum, der aus guten Gründen zum Widerspruch herausforderte. Inzwischen füllen die Bibliotheksregale hunderte Bände mit kritischer Literatur, die Goethes persönlichen Egoismus und seinen politischen Konservatismus bis ins Detail beleuchten. Junge Leute lesen ihn sowieso nicht mehr – zumindest in Frankfurt am Main scheint dies ausnahmslos der Fall zu sein. In solcher Zeit Goethe zu attackieren, als wäre er noch immer ein unangefochtener Dichterfürst und nicht ein halbvergessener Greis, zeugt von schlechtem Geschmack. Da sich kaum mehr einer wirklich für Goethe interessiert, gibt’s auch kaum mehr einen, der ihn leidenschaftlich verteidigen würde. Selbst die Pappnasen von der Klassik-Stiftung nehmen die fliegenden Klorollen mit Achselzucken hin, ja belobigen die engagierten jungen Menschen noch für ihren Elan. Ein bündigerer Nachweis dafür, dass der unkritische Goethe-Kult längst tot und begraben ist, lässt sich nicht denken. Um zu verstehen, warum auch viele Linke Goethe trotz seines ambivalenten Charakters und seiner politischen Rückständigkeit schätzen, muss man ihn leider lesen. Sonst hat man eben einfach keinen Schimmer von Goethes weltbürgerlicher Abneigung gegen allen Nationalismus und seiner materialistischen Religionskritik. Aber die Frankfurter haben eine gute Entschuldigung:

Die meisten Mitglieder von uns sind Kunststudierende. Als intellektuell würde sich da, glaube ich, eher niemand bezeichnen.

Nicht nur junge Künstler, sondern Künstler überhaupt sind selten Meister der Theorie und der kritischen Analyse. Das macht nichts, denn sie sollen ja Kunstwerke zusammen- und nicht auseinandersetzen. Heikel wird es erst, wenn Künstler beanspruchen, die Gesellschaft verstanden zu haben und verbessern zu können. Dabei kommt oft Schlimmes heraus, Aktionskunst zum Beispiel, wahlweise Kitsch oder zielloses Rasen. Begegnen wir den Frankfurter Hauptschülern mit der Nachsicht, die sie selbst dem jungen Goethe verweigern. Irgendwann werden sie vielleicht einsehen, welcher Quatsch ihr Knabenstreich war.

Termine der Woche

Am Dienstag (20. August) lese ich als Gastautor mit den wunderbaren Kollegen der Lesebühne LSD – Liebe statt Drogen in Berlin. Die Stammautoren sind Andreas „Spider“ Krenzke, Tobias „Tube“ Herre, Uli Hannemann, Eva Mirasol und Ivo Lotion. Ort des Geschehens ist der Schokoladen, eines der letzten Refugien der Subkultur in Mitte. Achtung: Neue Anfangszeit der Show ist 20 Uhr!

Am Donnerstag (22. August) bestreite ich mit meiner Dresdner Lesebühne Sax Royal unser inzwischen schon traditionelles Sommergastspiel im Deutschen Hygiene-Museum. Wenn’s nicht regnet, dann lesen wir unter freiem Himmel im zauberhaften Innenhof. Passend zur aktuellen Sonderausstellung „Von Pflanzen und Menschen“ widmen wir uns diesmal mit unseren Geschichten und Gedichten dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Mit dabei sind neben mit nicht nur die anderen Stammautoren Stefan Seyfarth, Max Rademann und Roman Israel, sondern auch ein ganz besonderer Gast: Jürgen Roth, geboren 1968, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. Zahlreiche satirische, sprach- und gesellschaftskritische Beiträge erschienen u.a. in der Titanic, der taz und konkret. Er hat unzählige Bücher veröffentlicht, besonders zu den Themen Sprache, Fußball und Bier. In jüngster Zeit widmet er sich vermehrt der Natur. Das zusammen mit seinem Bruder Thomas verfasste Buch „Kritik der Vögel“ (Aufbau Verlag) war für die Süddeutsche Zeitung „das Buch des Jahres“. Soeben erschienen ist der von F.W. Bernstein illustrierte Band „Unser Freund, der Kiebitz“ (Haffmans bei Zweitausendeins). Karten gibt es an der Abendkasse für 5 bzw. ermäßigte 3 Euro oder auch schon im Vorverkauf. Start: 20 Uhr.

Am Sonnabend (24. August) trete ich beim Kantinenlesen auf, dem Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen. Heitere Geschichten gibt’s auch von den Kollegen Andreas Scheffler, Frank Sorge und Roman Israel. Dan Richter wird wie immer durch den Abend führen. Los geht’s um 20 Uhr in der Alten Kantine der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg. Tickets gibt’s auch schon im Vorverkauf.