Die roten Früchtchen

Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Sozialismus gleicht dem der Paprika zur Chilischote. Die roten Früchtchen waren zunächst klein, aber außerordentlich pikant. Ihre Schärfe erhitzte im 19. Jahrhundert viele Bürger und brachte die Herrschenden ins Schwitzen. Bekömmlich waren sie in dieser revolutionären Zeit erst für eine Minderheit. Man züchtete ihnen, um sie massentauglich zu machen, im 20. Jahrhundert die Schärfe langsam weg. Sie wuchsen dabei, wurden aber auch gewöhnliches Gemüse. Wie die Paprika, so war auch die Sozialdemokratie am Ende eine große, außen glänzende Frucht, allerdings fad im Geschmack und innen recht hohl.

In dieser Lage kamen sogenannte Reformer wie Tony Blair und Gerhard Schröder in den Neunzigern auf die Idee, ihr Produkt der Kundschaft ganz neu gefüllt zu servieren. Die Einlage war größtenteils neoliberaler Brei: weniger Steuern für Reiche, enthemmte Märkte, Sozialabbau. Einigen schmeckte das Rezept durchaus, nur waren das Leute, die nie auf die Idee kämen, Sozialdemokraten zu wählen. Bei den traditionellen Anhängern sorgte das Menü hingegen für Bauchschmerz und Übelkeit. So liegt die Sozialdemokratie heute zusammengeschrumpft und faltig im Regal, kaum einer mag sie mehr haben. Die Schärfe der Chili erscheint dagegen vielen wieder geradezu erfrischend.

Als in Großbritannien eine junge Basisbewegung den prinzipienfesten Hinterbänkler Jeremy Corbyn an die Spitze der Sozialdemokratie brachte, da waren sich die Politexperten mit Tony Blair einig: Dieser linksradikale Spinner werde die Partei in den Abgrund führen. Es geschah das Gegenteil. Das Beispiel zeigt: Wer eine politische Bewegung erneuern will, kehrt am besten zu den Wurzeln zurück und lässt sie von dort aus aufs Neue sprießen. Jeremy Corbyn sagt nichts anderes als das, was für die Sozialdemokratie lange selbstverständlich war: Es gibt Bereiche, die nicht der Markt regeln kann. Umverteilung ist nötig, damit eine Gesellschaft nicht zerfällt. Arbeit, nicht Spekulation schafft Reichtum.

Wer verspricht in Deutschland die „Erneuerung“ der hiesigen Sozialdemokratie? Das letzte Aufgebot der Schröderianer, die ihrem Meister offenbar zugesagt haben, die SPD endgültig zu kompostieren. Verdient ist der Schaden, doch zur Freude kein Grund.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Freitag (20. Juli) bin ich zum zweiten Mal zu Gast bei der Berliner Lesebühne „Lass uns da mal hingehen“ von Jürgen Beer. Wie immer gibt’s nicht nur Texte zu hören, sondern auch heiteres Plaudern und Musik, die ein weiterer Gast beisteuert. Die Schöneberger Kulturkneipe DanTra’s (Kulmer Straße 20a) ist äußerst gemütlich, aber auch nicht allzu groß, weshalb eine telefonische Reservierung (Di.-So. ab 18 Uhr unter 030/75540903) dringend anzuraten ist. Los geht es um 20:15 Uhr.

Geschlossene Gesellschaft

In vielen Ländern, besonders solchen mit krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich, leben immer mehr Menschen in „Gated Communities“. Diese Stadtviertel sind auf privatem Grund errichtet und nicht öffentlich zugänglich. In ihnen wohnen all jene, die reich genug sind, sich von der Armut und dem aus ihr entspringenden Verbrechen abzuschotten. Die strengen Grenzwächter winken an den Toren nur jene Armen durch, die als Putzfrau, Warenlieferant oder Kindermädchen den Reichen nützlich sind. Was sich außerhalb der Mauern abspielt, wo der Rest der Bevölkerung ums tägliche Überleben kämpft, muss die bestens geschützten Einwohner des Paradieses nicht mehr kümmern.

Zu einer so geschlossenen Gesellschaft wird auch die Welt des westlichen Wohlstands ausgebaut. Eine alternde, schrumpfende und verängstigte Bevölkerung sucht, sich vor der Armut und dem Chaos in den Staaten des Südens abzuschotten. Der Reichtum, den der Westen nicht zuletzt seiner Ausbeutung des Restes der Welt verdankt, soll unter keinen Umständen geteilt werden. Allenfalls Einwanderer, die ökonomisch nützlich sind, werden noch widerwillig akzeptiert. An den Grenzen wird nur deswegen noch nicht scharf geschossen, weil die Mordarbeit bislang ausreichend von der Wüste, dem Meer und den Schergen korrupter Drittweltdiktatoren geleistet wird. Für all jene, die doch irgendwie durchkommen, werden Internierungslager errichtet. Selbst für Kinder gibt’s passende Käfige.

Die Bestialisierung des Bürgertums, die für eine solche Politik notwendig ist, macht Fortschritte. Doch regt sich noch manches Gewissen, das beruhigt werden will. Dem dient das Geschwätz vom „Erhalt der Kultur“, wo es offenkundig um die Sicherung des Sparbuchs geht. Reiche Fremde haben überhaupt keine Probleme, sich eine europäische Staatsbürgerschaft zu kaufen, auch in Ungarn nicht. Ein gutes Trostpflaster für den Zweifelnden ist auch das Versprechen, man wolle den Armen „vor Ort helfen“. Tatsächlich werden die reichen Länder sich nur mehr einen Dreck um die armen scheren, sind die Grenzen erst einmal völlig dicht. Die Mehrheit der Wohlstandsbürger unserer Tage will es aber so. Angesichts der triumphierenden Häme der Sieger bin ich aber nur noch sicherer, auf der Seite der Verlierer richtig zu stehen.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Über das „N-Wort“. Rassistische Rede und Reden über Rassismus

Was ist rassistisches Sprechen? Ziehen wir, um diese Frage zu beantworten, ein Beispiel heran, das krass genug ist, um keine Zweifel zuzulassen. Es entstammt dem Buch Mein Kampf von Adolf Hitler. Den Kontext bildet ein Kapitel, in dem Hitler ausführlicher zu begründen sucht, warum „fremdblütige“ Menschen anderer „Rassen“ niemals, auch nicht durch Spracherwerb und Einbürgerung, Deutsche werden könnten:

Von Zeit zu Zeit wird in illustrierten Blättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da oder dort zum erstenmal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt für dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst, versteht der Jude sehr schlau, daraus einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt nicht auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde an jeder Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen Angehörige der höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen verbleiben müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt, während man Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert.

Diese Passage ist außerordentlich charakteristisch für rassistisches Sprechen, sie enthält konzentriert eine Vielzahl von Elementen der rassistischen Ideologie. Da wäre zunächst das allgemeinste Merkmal des Rassismus: die Reduktion von Individuen zu unterschiedslosen Exemplaren eines einzigen Typus. Aus historischer Sicht aufschlussreich ist die Einordnung der Schwarzen als „Halbaffen“. Sie geht auf die von einigen Sozialdarwinisten vorgetragene These zurück, der „Neger“ sei kein Mensch, sondern ein biologisches Bindeglied zwischen dem Affen und dem Menschen, eine primitive Vorform des modernen Menschen, der sich nur im „Weißen“ voll entwickelt zeige. Diese Lehre war so offenkundig falsch, dass selbst die meisten Rassisten ihr schon zu Hitlers Zeiten nicht mehr anhingen. Sie leugneten nicht mehr die Zugehörigkeit der Schwarzen zur menschlichen Art, sondern behaupteten nur noch, die schwarze Rasse sei der weißen von Natur aus unterlegen. Hitler hingegen war, wie andere Stellen von Mein Kampf zeigen, tatsächlich davon überzeugt, Schwarze und Weiße bildeten unterschiedliche biologische Arten. Diese Annahme wird allerdings praktisch dadurch widerlegt, dass schwarze und weiße Menschen miteinander gesunde, fortpflanzungsfähige Nachkommen zeugen können, was einer gängigen Definition der „Art“ in der Biologie entspricht. Hier liegt der Grund für den rasenden Hass Hitlers gegen jede Art der „Rassenmischung“: Jedes von zwei Menschen unterschiedlicher „Rasse“ gezeugte Kind ist ein lebendes Argument gegen den Rassismus – deswegen überhaupt die unerhörte Bedeutung, die der Rassentrennung in der rassistischen Ideologie zukommt. Hitlers Antisemitismus, der die Juden für alles Übel auf der Welt verantwortlich machte, zeigt sich in der Schuldzuweisung, die Rassenmischung werde von den Juden betrieben. Sie sind die Vertreter der demokratischen Idee der „Gleichheit der Menschen“, die Hitler, der stets von der Ungleichheit der Menschen ausging, ja vielen Menschen das Menschsein absprach, von Grund auf verhasst sein musste. Man kann sehen, wie quicklebendig diese Ideologie noch heute ist, wenn man nach Ungarn schaut, wo Viktor Orbán und seine faschistischen Freunde einen geheimen Plan von George Soros zur Umrassung Europas wittern. Ebenfalls hochaktuell ist der Schluss von Hitlers Einlassung: Hier wird der Neid des kleinen deutschen Mannes gegen erfolgreiche, vermeintlich vom demokratischen Staat bevorzugte Fremde geschürt, ganz wie heute – mit kaum milderen Worten – von der faschistischen Partei Alternative für Deutschland.

Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die diese kleine Analyse interessant finden. Auf jeden Fall gibt es Leute, nach deren Meinung ich sie nicht hätte schreiben sollen. Denn ich habe im Text „das N-Wort gedroppt“, einen „rassistischen Begriff“, den man – zumindest als Weißer – unter keinen Umständen sagen darf, weil man sonst Betroffene verletzt und rassistische Muster „reproduziert“. Genauso übel wäre es gewesen, hätte ich das „N-Wort“ in einem literarischen Text verwendet, etwa einem fiktiven Selbstgespräch Hitlers. Nach Meinung der N-Wort-Jäger ist es nämlich gleichgültig, in welchem Kontext und zu welchem Zweck das Wort gesagt wird. Nicht gleichgültig ist hingegen die Hautfarbe des Sprechers oder der Sprecherin: Schwarze dürfen das Wort sagen. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob zum Beispiel Barack Obama „Negro“ sagen darf, ist er doch nur zur Hälfte ein Schwarzer. Wieviel Schwärze ist eigentlich nötig, um ungetadelt „Neger“ sagen zu dürfen? Dürfen es Viertelschwarze, Achtelschwarze, Sechzehntelschwarze noch? Auf jeden Fall brauchen wir nach dieser Theorie alle Nachhilfe in Rassenkunde, um im Zukunft darüber entscheiden zu können, wer welche Worte gebrauchen darf. Ich halte das für einen reaktionären Irrweg.

Über die praktischen Auswüchse dieser Theorie haben sich schon einige lustig gemacht, so etwa unser aller Liebling Deniz Yücel. Aber es scheint nötig, auch theoretisch anzusprechen, warum die Theorie nichts taugt. Im ersten Semester des Studiums der Sprachwissenschaft lernt man, dass Symbole, mithin auch Worte, keine feste Bedeutung haben. Diese ergibt sich aus dem Gebrauch des Wortes in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Mit dem Sprechenden und mit dem Kontext varriiert die Bedeutung von Worten, was am deutlichsten in Situationen wird, in denen Gesprächspartner einander missverstehen, weil sie mit demselben Wort verschiedene Bedeutungen assoziieren. Auf unser Thema bezogen bedeutet das: Wer ignoriert, von welchem Sprecher in welchem Kontext zu welchem Zweck das Wort „Neger“ gebraucht wird, der gelangt zu Missverständnissen. Und bei Leuten, die partout nicht in der Lage sind, eigene Irrtümer einzusehen, führt der Hinweis auf ein solches Missverständnis dann zu dem moralischen Vorwurf, der Sprecher wolle die vermeintlich wahre Bedeutung seiner Worte hinter der Erklärung „verstecken“.

Aber kann denn nicht ein Zitat wie das von mir oben angeführte doch einfach schockierend wirken, besonders auf betroffene Menschen? Auf jeden Fall kann es das, weswegen ich es auch mit ein paar Zeilen als Triggerwarnung eingeleitet habe. Aber um das Hässliche zu entlarven, muss man es zeigen. Sollen wir die Hakenkreuze auf den Fotos in Geschichtsbüchern schwärzen, damit niemand mehr von ihnen getriggert wird? Niemandem ist geholfen, wenn wir aus Rücksicht auf Gefühle grundsätzlich das Böse nicht mehr beim Namen nennen. Wer „N-Wort“ liest, ergänzt ohnehin den Rest des Wortes im Kopf, ganz so, als hätte er „Neger“ gelesen. Und echte Rassisten sagen heute ohnehin kaum noch „Neger“, stattdessen sprechen sie über „Maximalpigmentierte“, um sich über die Vorstellung lustig zu machen, man könnte den Rassismus besiegen, indem man bestimmte Wörter ächtet.

Vielleicht ist manchem Leser und mancher Leserin aufgefallen, dass ich Hitlers Gebrauch des Wortes „Neger“ nicht als Beleg für seinen Rassismus angeführt habe. Dies habe ich nicht getan, weil zu Hitlers Zeiten der Wortgebrauch eine solche Einschätzung noch nicht rechtfertigte. Damals wurde das Wort „Neger“, so zweifelhaft es gewiss schon war, auch noch von Menschen gebraucht, die keine Rassisten waren. So gibt es etwa von Karl Kraus einen berührenden Text mit dem Titel Der Neger, in dem von einem schwarzen Chauffeur berichtet wird, der in Wien rassistischen Anfeindungen ausgesetzt ist. Der Chauffeur nimmt es im Gespräch mit dem beeindruckten Kraus äußerlich gelassen: „Ach, die Wiener haben eben keine Kultur.“ Ich erzähle das, um vor dem voreiligen Schluss von einzelnen Worten auf die Gesinnung eines ganzen Menschen zu warnen.

Dennoch gilt heutzutage: Wer einen Schwarzen im alltäglichen Sprachgebrauch als „Neger“ bezeichnet, ist ein rassistischer Depp. Ein Volldepp sogar, wenn er noch die Begründung hinterherschiebt, „niger“ heiße doch nun mal „schwarz“ auf Lateinisch. Eben weil der gesellschaftliche Gebrauch die Bedeutung der Worte prägt, können aus neutralen Worten im Laufe der Zeit Schimpfworte werden. Wer die in aller Unschuld wieder neutral gebrauchen möchte, ist dumm oder stellt sich dumm, um erniedrigen zu können. Aber dies gilt eben nur für den gewöhnlichen Sprachgebrauch, nicht für eine Metasprache, die sich analytisch, kritisch, satirisch oder poetisch reflektierend auf die Alltagssprache bezieht. Es ist nicht unkomisch, wie gerade Leute sich selbst eine besondere sprachliche „Sensibilität“ zuschreiben, die für die verschiedenen Funktionen der Sprache gar kein Gespür haben und deren Redeverständnis sich oft beschränkt auf das Reiz-Reaktion-Schema: böses Wort > Alarmklingel. Diese Menschen fühlen sich wahrscheinlich auch beleidigt, wenn sie „Arschloch“ im Wörterbuch lesen.

Zitat des Monats Juni

Der eigenen Überzeugung folgen ist allerdings mehr, als sich der Autorität ergeben; aber durch die Verkehrung des Dafürhaltens aus Autorität in Dafürhalten aus eigener Überzeugung ist nicht notwendig der Inhalt desselben geändert und an die Stelle des Irrtums Wahrheit getreten. Auf die Autorität anderer oder aus eigener Überzeugung im Systeme des Meinens und des Vorurteils zu stecken, unterscheidet sich voneinander allein durch die Eitelkeit, welche der letzteren Weise beiwohnt.

Hegel

Jakob Augsteins Scheinheit der Linken

Keinem deutschen Journalisten gelingt es so gut wie Jakob Augstein, sich im festen Glauben an die eigene Schlauheit selbst als Dummkopf zu entlarven. „Manchmal haben die Kollegen von der ‚Bild‘-Zeitung lustige Ideen“, freut sich Augstein in seiner jüngsten Spiegel-Kolumne und merkt tatsächlich nicht, wie er sich damit zum unbezahlten Helfer der Springer-Presse bei ihrem Versuch macht, die Gräben innerhalb des linken Lagers zu vertiefen. Die Bild-Zeitung hatte die Deutschen fragen lassen, ob sie sich vorstellen könnten, einer „Liste Sahra Wagenknecht“ ihre Stimme zu geben. Und siehe da: Angeblich überlegen sich das 25 Prozent aller Wähler. 78 Prozent der Wähler der Linken, aber auch 32 Prozent bei der SPD, bemerkenswerte 30 Prozent bei der AfD, immerhin noch 23 bei den Grünen und sogar 21 Prozent bei der FDP. Dabei stößt Sahra Wagenknecht im Osten auf weit mehr Gegenliebe als im Westen, die Alten sympathisieren mehr mit ihr als die Jungen.

In seinem Freudentaumel über diese Ergebnisse hat Jakob Augstein nun aber versehentlich ein Betriebsgeheimnis der „linken Sammlungsbewegung“ ausgeplaudert: Hieß es nicht immer, es gehe keinesfalls um eine personalisierte Bewegung nach dem Vorbild von Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz? Wurde nicht immer wieder versichert, die Sammlungsbewegung solle keine wählbare Partei werden, um die bestehenden linken Parteien zu zersetzen und zu ersetzen? Und nun jubelt das Dummerchen Augstein über die Wahlchancen einer „Liste Sahra Wagenknecht“! Ich fürchte, seine Heldin wird ihm dafür nicht sehr dankbar sein. Liegt doch nun offen zutage, worum es wirklich geht: Sahra Wagenknecht möchte mit einer eigenen Partei die unliebsamen Genossen loswerden, an die sie in der Partei Die Linke noch gefesselt ist, und dann das ganze deutsche Parteiensystem aufmischen.

Jakob Augstein betätigt sich weiter fleißig als Trommler für diese neue Partei. Seine Schlichtheit prädestiniert ihn für diese Aufgabe. „Wenn man mal alles, was kompliziert ist, beiseite räumt“, zitiert er sein treffliches Lebensmotto. Er zählt einige Positionen auf, die so vage formuliert sind, dass ihnen tatsächlich alle Linken zustimmen können: höhere Löhne, weniger Ungleichheit, keine Waffenexporte mehr. Ehrlich geht es dabei allerdings auch nicht zu. „Europa zerfällt und Deutschland sieht zu“, barmt Augstein und vergisst zu erwähnen, dass Sahra Wagenknecht sich ja nichts sehnlicher wünscht als einen Zerfall der Europäischen Union, auf dass endlich wieder der kulturell und sprachlich homogene Nationalstaat zur wesentlichen Stätte des Politischen werde.

Einige Mühe hat Jakob Augstein dabei zu erklären, warum denn bislang die große Revolte gegen Angela Merkel ausgeblieben ist. Aber sein tiefer Geist findet auch hier eine Lösung: „Andererseits kann man der Meinung sein, dass der politisch-mediale Prozess in Deutschland inzwischen ziemlich dysfunktional ist und allen möglichen Zwecken dient – nicht aber dem, den politischen Willen des deutschen Volkes zu repräsentieren.“ Es gibt also „das Volk“, das einen politischen Willen hat, der aber von dunklen Mächten verfälscht wird. Beweis: Die Wahlen bringen nicht die Ergebnisse, die ich, der Herr Jakob Augstein, mir wünsche. Ich weiß aber, was „das Volk“ wirklich will. Es fehlt nur noch die Einheitspartei, die diesen deutschen Willen endlich durchsetzt. Protofaschismus at its best.

Um die Einheit der Volksgemeinschaft nicht zu gefährden, müssen jene, die auf Widersprüche hinweisen, als intellektuelle Schnösel denunziert werden: „Und lauter Leute, die sich zweifellos für linksliberal halten, haben auch gleich abgewinkt, so gelangweilt, blasiert und besserwisserisch, dass ihnen dabei in Charlottenburg und Eppendorf beinahe das Pinot Noir Glas aus der schlaffen Hand gerutscht wäre.“ Sagt uns ein Mann, der von seinem gesetzlichen Vater viel Geld und von seinem natürlichen nur nationalistische Beschränktheit geerbt hat. Die wirklichen politischen Widersprüche, die es zwischen der Vision von Sahra Wagenknecht und der anderer Linker gibt, müssen um der lieben Einheit willen verschleiert werden. Der Konflikt ist doch bloß „ausgedacht“ und der Streit „unsinnig“. Universalität und internationale Solidarität stünden doch nicht im Gegensatz zum Wunsch, die Souveränität des Nationalstaates wiederherzustellen.

Dumm nur, dass uns die Geschichte das Gegenteil lehrt. Und die Zukunft wird uns nichts anderes lehren. Sind die Grenzen erst einmal dicht, fällt jeder Anreiz für die Staaten des Nordens weg, sich um die Probleme des armen Südens zu kümmern. Aber Jakob Augstein warnt: Die armen Zuwanderer seien doch nun einmal für die armen Deutschen Konkurrenten um Arbeit und Wohnraum. Mit demselben Argument könnte man auch gegen die Beschäftigung von Frauen agitieren, weil sie im Wettbewerb mit Männern die Löhne drücken. Aber richtig: Das sind ja deutsche Frauen! Sahra Wagenknecht schlägt vor, die internationalen Ströme von Kapital, Waren und Migranten zu kontrollieren oder ganz zu unterbinden. Realistisch betrachtet kann das aber in einer globalisierten Welt, unter dem Opfer menschlichen Lebens, allenfalls für den dritten Strom gelingen. Und selbst wenn ihre national-soziale Sammlungsbewegung es schaffte, die Ökonomie wieder weitgehend unter die Kontrolle des Einzelstaates zu bringen, würden sich so nur wirtschaftliche Interessen wieder ganz mit nationalen verbinden. Nicht Frieden, sondern Krieg wäre die Folge.

Ein großzügiges Friedensangebot macht immerhin Jakob Augstein am Schluss des Textes seinen Gegnern unter den Linken: Seht einfach ein, dass wir recht haben, dann empfangen wir euch bei uns mit offenen Armen! Doch ist es leider noch nicht soweit. „Aber wer selbst gespalten ist, kann nicht einen.“ Im Klartext: Die Linkspartei schwenkt auf die Linie von Sahra Wagenknecht ein oder sie hört im September auf zu existieren. Ich habe wenig Zweifel daran, dass Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei Erfolg haben wird. Die national-soziale Idee ist zurzeit derart populär, dass es ein Wunder wäre, wenn sie nicht auch in Deutschland eine politische Form annähme. Die Idee ist Ausdruck eines verbreiteten Wunsches in den verängstigten, alternden und schrumpfenden Wohlstandsgesellschaften des Westens, sich von der Armut und dem Chaos in den Ländern des Südens abzuschotten.

Das klassische Proletariat, so heißt es oft, sei verschwunden. Tatsächlich wurde es vom Westen nur ausgelagert. Unsere Rohstoffe klauben jetzt afrikanische Kinder aus der Erde, unsere Kleider nähen Asiatinnen, wenn ihnen nicht gerade das Fabrikdach auf den Kopf fällt. Wer sich selbst ernsthaft für soziale Gerechtigkeit einsetzt, kann es nicht als vorrangiges Ziel betrachten, den Wohlstand der Bevölkerung des eigenen Staates zu sichern. Wieso sollten sich die Menschen des einen Staates noch um die Interessen von Menschen anderer Staaten kümmern, wenn alle Länder sich auf sich selbst beschränken? Wer dagegen einwenden möchte, dass doch in allen einzelnen Staaten linke Regierungen linke Politik für das eigene Volk machen könnten, muss mir bitte folgende Frage beantworten: Gehorcht ein solches Programm nicht einfach brav der neoliberalen Maxime „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“?

Termine der Woche

Ausnahmsweise am Mittwoch (13. Juni) meldet sich meine Görlitzer Lesebühne Grubenhund zu Wort – diesmal mit einer Spezialausgabe: Neue Geschichten lesen mit mir nicht nur wie immer die anderen beiden Stammautoren Max Rademann und Udo Tiffert, sondern auch noch die Görlitzer Kollegen Mike Altmann und Axel Krüger von der musikalischen Lesebühne Hospitalstraße. Wir laden ein zu dieser Fusionslesung ab 19:30 Uhr im Camillo. Karten gibt’s am Einlass.

Am Donnerstag (14. Juni) findet auch meine Dresdner Lesebühne Sax Royal zum letzten Mal vor der Sommerpause statt. Fußballfans müssen sich keine Sorgen machen: Der Klassiker Russland gegen Saudi-Arabien ist schon vorbei, wenn wir um 20 Uhr die Scheune bespaßen. Zusammen mit mir lesen, singen und trinken Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth. Tickets gibt bis Mittwoch noch im Vorverkauf, aber auch am Donnerstag noch problemlos am Einlass ab 19:30 Uhr.

Bremsen der Gesellschaft

Der liebste Vorwurf der Konservativen gegen die Fortschrittlichen lautet, diese wollten das Neue um seiner selbst willen. In dieser Tirade spiegelt sich aber nur der grundlegende Denkfehler der Konservativen selbst: Sie sind es, die das Alte bewahren wollen, weil es alt ist. Es habe sich nun einmal „bewährt“ und sei daher dem Neuen vorzuziehen. Mit dieser Logik aber lassen sich auch angestammte Traditionen wie die Sklaverei, die Hexenverbrennung oder der Oberlippenbart verteidigen. Um zu entscheiden, ob etwas bewahrenswert ist oder nicht, braucht es keine Altersprüfung, sondern eine Entscheidung der Vernunft.

An Prinzipien, nach denen sich die Vernunft richten kann, fehlt es den Konservativen aber. Sie schreiben sich mangels eigener Ideen gerne abstrakte Qualitäten zu: Konservative seien besser vertraut mit der konkreten Wirklichkeit und frei von ideologischen Vorurteilen. Seltsam, dass die Programme dieser Meister des Konkreten immer so abstrakt sind! Dumm auch, dass die Konservativen in der Geschichte ziemlich oft daneben lagen: Sie verteidigten den Feudalismus gegen die liberale Gesellschaft, die Monarchie gegen die Volksherrschaft, die Macht der Männer gegen die Emanzipation der Frauen. Sie waren so klarblickend und vorausschauend, einem gewissen Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers anzuvertrauen.

Gut, dass die Menschheit auf die Konservativen nur selten gehört hat. Dieses Verfahren hat sich inzwischen bewährt, wir sollten es fortsetzen. Wäre immer alles so geblieben, wie es war, wäre nichts so, wie es heute ist. Ich glaube dabei keineswegs, Konservative wären völlig unnütz. Jedes Fahrzeug braucht sicherheitshalber eine Bremse. Nur sollte man nicht erwarten, mit einer Bremse beschleunigen oder lenken zu können.

Wer eine Gesellschaft fortentwickeln und das Leben der Menschen verbessern will, der muss Experimente wagen und Neues ausprobieren. Wo Bedenkenträger und Untergangspropheten das Sagen haben, stirbt das Leben ab. Allerdings muss man Versuche nach dem Erfolg beurteilen, der sich in der Wirklichkeit zeigt, und im Fall des Scheiterns auch den Mut haben, Neuerungen zurückzunehmen. In solchen Fällen kann es dann tatsächlich vorkommen, dass die Konservativen ausnahmsweise auch einmal Recht haben.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Islamischer Judenhass – alles halb so wild?

Dschihadistische Terroristen morden in einem jüdischen Supermarkt in Frankreich. In Schweden attackieren muslimische Gewalttäter ein jüdisches Gemeindezentrum. Pro-Palästinensische Demonstranten skandieren in Deutschland „Juden ins Gas“. Es gibt in Europa neben dem Antisemitismus, der von Neonazis und linken Antizionisten ausgeht, inzwischen auch einen militanten Judenhass, dessen Träger Muslime sind. Eine Tatsache, aus der Rechtsparteien wie die „Alternative für Deutschland“ für ihre Agitation gegen den Islam reichlich propagandistischen Profit ziehen. Wissenschaftliche Aufklärung über dieses Phänomen wäre gerade deshalb dringend nötig. Das Buch „Muslimischer Antisemitismus“ des in Tel Aviv geborenen, inzwischen in Berlin und London lebenden Politikwissenschaftlers David Ranan enttäuscht jedoch diese Erwartung.

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