Termine der Woche

Am Donnerstag (8. Februar) startet meine Dresdner Lesebühne Sax Royal nach ihrem rauschenden Geburtstagsfest im Januar in eine neue Saison. Frische, heitere Geschichten, weltumstürzende Pamphlete und sinnreiche Poesie gibt es wie immer nicht nur von mir, sondern auch von den weiteren Stammautoren Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth. Tickets gibt’s bis Mittwoch im Vorverkauf, aber auch am Donnerstag noch problemlos am Einlass ab 19:30. Los geht es um 20 Uhr in der Scheune.

Am Freitag (9. Februar) bin ich dann in Görlitz bei unserer Lesebühne Grubenhund mit dabei. Brandneue Geschichten und Gedichte gibt es wie immer von den Stammautoren Udo TiffertMax Rademann und mir. Als Gast haben wir uns diesmal den Lyriker und Sänger Klaus Meier aus Dessau eingeladen. Los geht es um 19:30 Uhr im Kino Camillo, Karten gibt es am Einlass ab 19 Uhr.

Zitat des Monats Januar

Integral nationalism is hostile to the internationalism preached by humanitarians and liberals. It makes the nation, not a means to humanity, not a stepping-stone to a new world order, but an end in itself. It puts national interests alike above those of the individual and above those of humanity. It refuses coöperation with other nations except as such coöperation may serve its own interests real or fancied. It is jingoistic, distrusts other nations, labors to exalt one nation at the expense of others, and relies on physical force. It is militarist and tends to be imperialist. In the face of it, a league of nations or any international sense of peace and security is threatened with sterility and destruction. Besides, in domestic affairs, integral nationalism is highly illiberal and tyrannical. It would oblige all citizens to conform to a common standard of manners and morals and to share the same unreasoning enthusiasm for it. It would subordinate all personal liberties to its own purpose, and if the common people should murmur it would abridge democracy and gag it. All these things it would do ‘in the national interest’.

Carlton J. H. Hayes: The Historical Evolution of Modern Nationalism (1931)

Klarstellung zur Packlüge

In meiner Kolumne „Die Karriere einer Lüge“ habe ich vor Kurzem in der Sächsischen Zeitung darauf hingewiesen, dass die falsche Behauptung, Sigmar Gabriel hätte die PEGIDA-Demonstranten als „Pack“ bezeichnet, sich auch in dem Buch mit Rechten reden von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn findet. Zur Berichtigung möglicher Missverständnisse sei hier ein darauf folgender Briefwechsel mit Einverständnis der erwähnten Autoren wiedergegeben.

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Hallo Herr Bittner,

[…]

Sie waren so nett, in Ihrer SZ-Kolumne mich und meine beiden Co-Autoren Steinbeis und Zorn auf einen sachlichen Fehler in unserem Buch »mit Rechten reden« hinzuweisen. Wir sind gerne bereit, Ihnen Recht zu geben, weisen aber gleichzeitig den Vorwurf zurück, gelogen zu haben.  […]

Mit besten Grüßen aus Berlin
Per Leo

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Lieber Herr Leo,

danke für Ihre Nachricht! Ich kann Ihnen versichern: Weder glaube ich persönlich, dass Sie die Pack-Lüge absichtlich verbreitet, also gelogen, haben, noch war es meine Absicht, dies in meiner Kolumne zu unterstellen. Ich habe mir den Text noch einmal angeschaut und kann auch nicht entdecken, dass er diese Behauptung enthielte. Ich berichte ja, wie die Lüge inzwischen zur vermeintlichen Wahrheit aufgerückt ist. Daraus folgt schon, dass ich davon ausgehe, dass die Lüge in Ihr Buch durch nachlässiges Nachreden gelangt ist. Wenn ich von „Andichten“ spreche, dann scheint mir das ein durchaus gerechtfertigter Ausdruck dafür, dass Sie das verfälschte Zitat sogar noch durch freies Phantasieren weiter verschärfend ausgeschmückt haben. Aber die Dichtkunst ist, sofern man die Sache nicht streng platonisch sieht, auch keine Lüge.

Ich hätte dennoch nichts dagegen, wenn Sie die Sache noch einmal ausdrücklich klarstellen wollen. Wenn Sie einverstanden sind, kann ich persönlich z.B. unseren Mailwechsel auf meiner Homepage veröffentlichen. […]

Mit freundlichen Grüßen, Michael Bittner

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Lieber Herr Bittner,

vielen Dank für die Bereitschaft, Ihre Homepage für folgende Korrektur zur Verfügung zu stellen.

Das von Sigmar Gabriel verwendete Wort „Pack“ bezog sich nicht, wie in unserem Buch „mit Rechten reden“ suggeriert, auf die Demonstranten von Pegida, sondern auf die Randalierer vor der Flüchtlingsunterkunft von Heidenau. Wir bedauern diesen Fehler, auf den Sie uns in Ihrer Kolumne in der Sächsischen Zeitung vom 19.1. hingewiesen haben, möchten aber zugleich feststellen, dass unser Argument davon nicht betroffen ist. Zur möglichen Unterstellung, wir hätten die falsche Tatsachenbehauptung absichtlich verbreitet, uns also der von Ihnen nachgewiesenen Lüge mitschuldig gemacht, haben Sie in Ihrer Mail dankenswert klar Stellung bezogen. Dem haben wir nichts hinzuzufügen.

Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn

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Ich erlaube mir noch darauf hinzuweisen, dass eine schon vor diesem Briefwechsel von mir verfasste, heitere Auseinandersetzung mit dem Buch mit Rechten reden – so Gott will – in der Märzausgabe der Monatszeitschrift konkret erscheinen wird.

Woran scheitert die SPD?

Das klägliche Ergebnis der SPD bei der letzten Bundestagswahl ist gewiss in mancher Hinsicht den Fehlern ihres Kanzlerkandidaten zuzuschreiben. Die von Martin Schulz irrsinnigerweise zugelassene Intimreportage des SPIEGEL-Autors Markus Feldenkirchen zeigt einen SPD-Chef ohne politischen Instinkt, der sich zum eigenen Schaden den Einflüsterungen von Demoskopen, Imageberatern und Wahlkampfstrategen beugt. Die ihm entgegengebrachte Anfangsbegeisterung, die allerdings auch bloß auf autosuggestiver Hoffnung beruhte, verspielt er atemberaubend schnell. Erst folgt er dem Ratschlag, möglichst vage zu bleiben, und sondert nur wohlklingende Phrasen ab. Dann möchte er doch konkret werden, hat aber nur politischen Kleinkram anzubieten, der allgemeines Gähnen verursacht. Schließlich jammert er gar darüber, Angela Merkel stelle sich nicht zum Kampf, und merkt dabei tatsächlich nicht, wie schwächlich und albern ein Jäger wirkt, der dem Hirschen vorwirft, er laufe ihm partout nicht freiwillig vor die Flinte. In der abschließenden Fernsehdebatte fällt Martin Schulz, um sich von der CDU abzusetzen, nichts Besseres ein, als überraschend den Ton gegenüber der Türkei zu verschärfen – womit ihm nichts anderes gelingt, als auch noch einige der treusten SPD-Wähler zu vergraulen, die Deutschen türkischer Herkunft nämlich. Vielleicht sollte die SPD doch einmal ihre in jüngerer Zeit praktizierte Strategie überdenken, Kanzlerkandidaten aufzustellen, die in ihrem Leben noch nie eine bedeutsame Wahl gewonnen haben.

Die Schwächen der SPD liegen aber doch tiefer. Der Zirkel von katastrophalem Wahlergebnis, zähneknirschender Regierungsbeteiligung, Selbstzweifel, Erneuerungsversprechen und noch katastrophalerem Wahlergebnis hat sich nun schon mehrere Male wiederholt. Man möchte sich zu Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen bekehren, liest man einmal wieder die umjubelte Rede, die Hoffnungsträger Sigmar Gabriel im November 2009 nach seiner Wahl zum neuen Parteivorsitzenden hielt.

Die Wählerinnen und Wähler haben uns nicht mit 23 Prozent nach Hause geschickt, damit wir sofort danach zuerst darüber nachdenken, wie wir uns in scheinbar geeigneten Konstellationen mit anderen Parteien wieder zurück an die Macht schleichen können.

In der Tat, so ein Verhalten wäre kaum zu verantworten. Aber schon gibt es Zeichen der Hoffnung für die SPD:

Seit der Wahlniederlage gibt es über 5000 neue Mitglieder in unserer Partei.

Dann kann es ja im Grunde nur aufwärts gehen! Alles, was noch fehlt, sind Selbstbewusstsein, Aufbruchsstimmung und Kampfesmut:

Macht euch auf was gefasst! Wir kämpfen wieder in Deutschland um die Deutungshoheit und um das Land!

So wie die politischen Gegner damals vor dieser Drohung der SPD erzitterten, ängstigen sie sich gewiss auch heute vor ähnlichen Ankündigungen. Aber Gabriels Rede hatte durchaus mehr als Selbstbeschwörung zu bieten. Sie analysierte die Ursachen des Niedergangs der SPD und der europäischen Sozialdemokratie. Und sie versuchte, einen Lösungsansatz zu entwickeln, dies allerdings, wie wir heute wissen, ohne erkennbaren Erfolg. Wo lag der Fehler? Sicher nicht in demütigen Einsichten wie dieser:

Wer ein derartiges Wahlergebnis bekommt, der hat mehr als nur ein Kommunikationsproblem.

Auch kann man Gabriel nicht vorwerfen, er hätte die Lage beschönigt:

Mit einem Verlust von 10 Millionen Wählerinnen und Wählern seit 1998 haben wir die Hälfte unserer Anhängerschaft verloren. Wir haben in alle Richtungen verloren. Eine Partei, der das passiert, hat eines nicht: ein sichtbares Profil. Das ist die erste bittere Erkenntnis aus der Bundestagswahl.

In der Tat: Kleinbürgerliche Wechselwähler verliert die SPD an die von konservativem Ballast befreite CDU. Gut ausgebildete und oft besserverdienende Leute, die sich mehr für gesellschaftliche Liberalisierung als für soziale Gerechtigkeit interessieren, wählen die Grünen. Und Stammwähler unter den Arbeitern und Arbeitslosen flüchteten dank der Hartz-Reformen zur Linkspartei. Letzteres räumt auch Gabriel ein. Viele Ungerechtigkeiten bei den Hartz-Reformen, bei der Verschiebung des Renteneintritts, bei Zeit- und Leiharbeit, die Gabriel selbst anspricht, haben allerdings bis heute Bestand. (Von der Vermögenssteuer, als deren größter Fan sich Gabriel in der Rede bezeichnet, einmal ganz zu schweigen.) Aber diese konkreten Maßnahmen sind seiner Ansicht nach gar nicht entscheidend:

Die schwierigen Beschlüsse, die uns so sehr von unserer Wählerschaft entfernt haben – zur Arbeitsmarktreform, zur Leiharbeit, zur Rente -, sind, glaube ich, nur Symptome, nicht die eigentlichen Ursachen.

Als „eigentliche Ursache“ macht Gabriel den Irrglauben aus, man müsse sich, um als Partei Erfolg zu haben, einer vermeintlich vorhandenen gesellschaftlichen „Mitte“ anbiedern. Die daraus entspringende Anpassung an einen marktgläubigen, neoliberalen Zeitgeist habe der SPD geschadet. Stattdessen gehe es darum, die Mitte zu besetzen, indem man die Mehrheit von den eigenen, linken Konzepten überzeugt. Gabriel plädiert also – gleichsam als sozialdemokratischer Gramsci – für den Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie. Kann man machen. Nur müsste man dann wissen, von welcher Idee man die Massen überzeugen möchte, was also eigentlich die „Linke“ ausmacht. Und hier hapert’s damals wie heute. Was Gabriel seinen Parteigenossen offenbarte, zeugt weniger von Sehertum als von Ratlosigkeit:

Wenn mich einer fragt „Was ist links?“, dann sage ich: Links heißt, dass man für Gesellschaften eintritt, die gerecht sind, weil Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit aneinander gebunden sind.

Eine Gesellschaft ist also gerecht, wenn in ihr Freiheit und Gerechtigkeit aneinander gebunden sind. Und wer Freiheit und Gerechtigkeit aneinander bindet, möglichst mit reißfester Angelschnur, der ist links. Damit wäre ja wirklich fast alles geklärt. Nur ein Problem nicht: Gibt es irgendeine Partei in Deutschland, die solche nichtssagenden Formeln über die notwendige Harmonie, über Sowohl-als-auch und Dies-und-das nicht ebenso sagen könnte und auch sagt? Dasselbe gilt für Gabriels Anrufung der „Aufklärung“. Wo sind die Parteien, die der Aufklärung den Kampf ansagen?

Die SPD hatte einmal einen ideologischen Kern und eine Zukunftsvision, die sie von anderen Parteien unterschied, den Sozialismus. Seit sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig vom demokratischen Sozialismus verabschiedet hat, besitzt sie keinen eigentümlichen Charakter mehr. Das schadete ihr bei den Wählern lange nicht, im Gegenteil: Der Sozialismus war durch die Verhältnisse im Ostblock diskreditiert. Willy Brandt fuhr seine Wahlerfolge ein, weil er gesellschaftliche Reformen ohne Revolution versprach, weil er persönlich glaubwürdig und sympathisch war und weil er sogar die patriotischen Gefühle seiner Landsleute mit seiner Entspannungspolitik gegenüber der DDR ansprach. Heute leben wir aber in anderen Zeiten. Der Verzicht auf grundsätzliche Gesellschaftskritik macht die SPD zu einer staatstragenden Partei unter anderen Parteien, die inzwischen zumeist auch in diesem Sinne sozialdemokratisch regieren. Alles, was die SPD noch bieten kann, ist das Versprechen, die anfallenden Klempnerarbeiten am Kapitalismus besser als die anderen zu erledigen. Darüber urteilen aber nun die Wähler je nach Lust und Laune.

Die Unbestimmtheit des Selbstverständnisses zeigt sich in der Rede Gabriels auch in der Mühe, Gegner zu benennen. Die Kapitalisten sind jedenfalls keine:

Unternehmer, mittelständische Familienbetriebe, Handwerker, Selbstständige und auch die vielen klugen und verantwortungsbewussten Manager, die es in Deutschland auch gibt, brauchen wir auch. Sie leiden unter der Finanz- und Wirtschaftskrise übrigens häufig genauso wie ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hinter diesen Unternehmer- und Managerbiographien steckt auch viel Engagement, Leistung und Verantwortungsbewusstsein. Liebe Genossinnen und Genossen, das sind unsere Partner; das ist nicht der Klassenfeind.

Wer kennt sie nicht, die tüchtigen Manager, die wegen der Finanzkrise jetzt auf einer Pappe vorm Bahnhof schlafen müssen? Der eigentliche Fehlschluss, den Gabriel begeht, ist aber folgender: Eine befriedete bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine gewalttätige Feindschaft mehr zulässt, nicht im Religiösen, nicht im Politischen, nicht im Ökonomischen. Aber nicht einmal daraus, dass es nach sozialdemokratischer Logik keinen Klassenfeind im marxistischen Sinne mehr geben soll, folgt, dass Kapitalisten Partner sein müssten. Nicht Selbstständige und Handwerker, sehr wohl aber Unternehmer haben nämlich ganz andere Interessen als Arbeitende. Viel treffender wäre es, sie als ökonomische Gegner anzusprechen. Aber das wagt Gabriel nicht einmal bei den Reichen:

Wir brauchen wieder einen neuen sozialen Konsens in Deutschland, einen Konsens, der breite Schultern stärker zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzieht und den Menschen aus der Armut heraushilft. Das hat gar nichts mit Sozialneid zu tun. Ich persönlich finde Reichtum übrigens etwas Tolles. Ehrlich gesagt, wäre ich gerne selber reich. Ich finde, daran ist nichts Schlimmes, vor allen Dingen dann nicht, wenn man hier Steuern bezahlt.

Von der uralten sozialdemokratischen Einsicht, dass die einen nur reich sein können, weil die anderen arm sind, ist keine Spur mehr geblieben. Was uns hier entgegentritt, ist die Ideologie von verbürgerlichten Aufsteigern, die davon überzeugt sind, mit ein bisschen Fleiß, Anpassungsbereitschaft und Bildung könne doch jeder Gutgewillte denselben Weg gehen. Unbegreiflich ist ihnen, dass es Verhältnisse gibt, aus denen ein solcher Aufstieg nicht möglich ist, noch unbegreiflicher, dass es Menschen geben könnte, die auf den Abstieg eines solchen Aufstiegs dankend verzichten.

Was eine wirkliche Erneuerung der SPD verhindert, ist der ideologische Ballast der „Volkspartei“, den sie mit sich herumschleppt. Sie glaubt, im Rucksack befände sich wertvollstes Erbe, tatsächlich handelt es sich um Gerümpel, das dringend entsorgt werden müsste. Lasst uns alle zusammenhalten, liebe Mitbürger, Arbeiter und Unternehmer, in „sozialem Patriotismus“, auf dass der Wohlstand in unserem lieben Deutschland wachse! So lautet letztlich das Glaubensbekenntnis Sigmar Gabriels, ein Credo, das im Grunde nicht links, sondern national ist. Aber eine Partei, die um jeden Preis alle ansprechen will, spricht irgendwann niemanden mehr an. Es gibt keine Politik ohne Gegnerschaft, auch keine politische Identität. Und auch Gabriel kommt nicht umhin, Gegner zu benennen, die neoliberalen Ideologen und die Finanzkapitalisten, die Wegbereiter und Verursacher der großen Finanzkrise. Erstaunlich nur, wie diese Bösewichter ihre teuflischen Pläne ins Werk setzen konnten, während vielerorts Sozialdemokraten regierten! Abgesehen von diesem Einwand ist die einseitige Verdammung internationaler Finanzeliten aber auch fragwürdig, weil sie mühelos von nationalistischen und antisemitischen Kräften in Beschlag genommen werden kann. Verantwortungsbewusste deutsche Manager hie, gierige Wall-Street-Ganoven da – wie überzeugend eine solche Scheidung ist, mag jeder angesichts unserer Wirtschaftsskandale der letzten Jahre selbst beurteilen. Schließlich ist es politisch überhaupt immer unklug, Gegner zu benennen, gegen die man gar nichts ausrichten kann. Die internationalen Börsenspekulanten fürchten sich gewiss nicht sehr vor dem starken Arm von Sigmar Gabriel.

Wenn es überhaupt eine Rettung für die SPD gibt, dann läge die allenfalls darin, sich wieder konsequent als Partei der arbeitenden Menschen zu verstehen und den zentralen Wert der politischen Linken in den Mittelpunkt zu stellen: die Gleichheit. Eine schnelle Rückkehr zur Mehrheit wäre dadurch nicht garantiert, denn die soziale Frage steht zurzeit einfach nicht im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatten. Aber zumindest wäre so das Überleben wahrscheinlicher, wenn auch nicht sicher, denn die SPD hätte immer noch mit der Konkurrenz der Linkspartei zu kämpfen. Allerdings würde es dieser Weg für SPD-Politiker schwieriger machen, nach Wahlniederlagen durch einen Wechsel „in die Wirtschaft“ (also zum Gegner) ihr politisches Kapital in ökonomisches umzusetzen. Manchem wird dieses Opfer zu schwer werden.

Die Karriere einer Lüge

Seit einer Weile reden wir über „Fake News“, über Lügen, die im politischen Kampf als Waffen eingesetzt werden. Neu ist allenfalls das Wort, die Sache nicht, denn gelogen wurde von Demagogen schon immer. Um zu verstehen, warum das Lügen erfolgreich ist, kann es lehrreich sein, einmal einer einzelnen Lüge nachzugehen.

Im August 2015 randalierten in Heidenau vor einer Flüchtlingsunterkunft einige hundert Leute, unter ihnen militante Rechtsradikale. Dies veranlasste Vizekanzler Sigmar Gabriel zu der Bemerkung: „Das ist wirklich Pack und Mob, und was man da machen muss, man muss sie einsperren.”

Die Anführer der PEGIDA-Bewegung witterten sogleich ihre Chance. Nichts eignet sich ja besser, um die Reihen zu schließen, als eine gemeinschaftliche Selbststilisierung zum Opfer. Rasch waren die Montagsspaziergänger davon überzeugt, Gabriel hätte alle PEGIDA-Anhänger als „Pack“ bezeichnet. Im Internet wurde die Lüge tausendfach geteilt. An einem Galgen baumelte symbolisch „Siegmar ‚das Pack‘ Gabriel“. Die Pegidisten skandierten trotzig „Wir sind das Pack!“, wohl meistenteils im Irrglauben, so verunglimpft worden zu sein, und nicht in Verbundenheit mit den Hooligans von Heidenau.

Selbst seriöse Beobachter fingen bald an, die Unwahrheit zu verbreiten. Auf Seite 28 seines Buches über PEGIDA zählt Prof. Werner J. Patzelt das „Pack“ von Sigmar Gabriel mitten unter den Beschimpfungen auf, mit denen einige Politiker die PEGIDA-Demonstranten bedacht haben. Dabei hatte es Patzelt 2015 noch besser gewusst: „Diejenigen, die in Heidenau Brandsätze geworfen haben, als Pack zu bezeichnen, ist berechtigt.“ Inzwischen ist die Lüge in den Stand einer historischen Tatsache aufgerückt. In dem aktuellen Bestseller „Mit Rechten reden“ wird Sigmar Gabriel die „Aufforderung“ an die PEGIDA-Demonstranten angedichtet, „das ‚Pack‘ solle gefälligst dahin zurückkriechen, wo es hergekommen“ sei. Tatsächlich war Sigmar Gabriel einer der ersten, der für einen Dialog mit den PEGIDA-Anhängern eintrat. Aber diese Tatsache passte den drei überschlauen Autoren des Bestsellers nicht ins Konzept.

Wird diese Kolumne nun irgendwen zur Wahrheit bekehren? Natürlich nicht. Die Leute glauben, was sie glauben wollen. Und niemand scheint ihnen unglaubwürdiger als einer, der widerspricht.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Freitag (19. Januar) bin ich erstmals als Gastautor bei der Lesebühne „Lass uns da mal hingehen“, die von Jürgen Beer in Berlin veranstaltet wird. Los geht es um 20 Uhr in der Kulturkneipe DanTra’s in der Kulmer Straße 20A. Ich bin schon gespannt drauf, wie es sich so tief im Westen liest.

Am Sonntag (21. Januar) darf ich wieder einmal beim traditionellen Lesebühnenbrunch mitwirken, der jährlich das Kabaretttreffen in Cottbus abschließt. Mit dabei sind diesmal die Kollegen Udo Tiffert, Ruth Herzberg, Tobias Hengstmann sowie als musikalischer Gast Schnaps im Silbersee. Einlass ab 10:30 Uhr, Essen ab 11 Uhr, Kunst ab 12 Uhr.

Die letzten Männer

Recht oft hört man leider inzwischen von aussterbenden Arten. Fast habe ich mich an diese traurigen Meldungen schon gewöhnt. In jüngster Zeit aber merke ich bei solchen Schreckensnachrichten doch öfter auf, denn es geht nicht mehr wie früher nur um das Sumatra-Nashorn, die Kleine Hufeisennase oder den Feuersalamander, sondern auch um den gemeinen Mann. Der stehe nämlich ebenfalls vor der Ausrottung, so verkünden es jedenfalls zahllose Artikel, die gerade von verängstigten Männern verfasst werden.

Schuld am Niedergang sei eine mysteriöse Seuche namens „Genderwahn“. Infizierte Männer büßen angeblich ihre Männlichkeit ein. Sie fangen an, im Sitzen zu pinkeln, über Gefühle zu reden und Salat zu essen. Wegen ihrer Verweichlichung sind sie dann nicht mehr in der Lage, ihre Weiber gegen Säbelzahntiger und Südländer zu verteidigen. Erkrankte Frauen empfinden es wiederum neuerdings als sexuelle Belästigung, wenn ihnen ein Fremder zünftig auf den Hintern klatscht. Manche Frau bildet sich plötzlich ein, auf Männer überhaupt verzichten zu können. Und einige menschliche Wesen vergessen im Genderwahn gar, welchem Geschlecht sie angehören! Das geht doch nun wirklich gegen jede Ordnung!

Die zurückliegenden Feiertage zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr konnten mich erfreulicherweise beruhigen. Ich schaltete nämlich den Fernseher ein. Als bedeutendstes Sportereignis wurde eine Weltmeisterschaft übertragen, bei der Männer mit Halbglatze und körpereigenem Bierkessel kleine Pfeile auf eine Scheibe warfen, lautstark angefeuert von äußerlich ähnlich veranlagten Geschlechtsgenossen im Vollrausch. Im Nachbarprogramm suchten derweil bärtige Männer in der nordamerikanischen Wildnis nach Gold: „Kann Joe seinen Bagger am Giant Nugget Claim reparieren, bevor der Winter einbricht, um noch die 2000 Unzen zu schürfen, die er braucht, um seiner Frau die versprochene Brustvergrößerung zu bezahlen?“

Auch den abendlichen Spielfilmen hatte der grassierende Feminismus nichts anhaben können: Ob James Bond, Harry Potter oder Kevin allein zu Haus – überall waren es wie eh und je weiße Jungs, die mit ihren Heldentaten das Universum oder zumindest das Weihnachtsfest retteten. Und in den Nachrichten grüßte aus Washington grinsend ein pampelmusenfarbiger Primat, angeblich gerade von den Bürgern zum mächtigsten Mann der Welt gewählt. Vielleicht bekäme der Erde ein bisschen Genderwahn doch gar nicht so schlecht.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

2018 – Die wahre Jahresvorschau

Januar:

US-Präsident Donald Trump erschüttert die Medienwelt mit einem weiteren ungezügelten Tweet: Frauen, sie sich über sexuelle Belästigung beklagen, seien in Wahrheit frigide Kampflesben, die man nur einmal ordentlich durchnudeln müsse. Er sei bereit, sie alle persönlich im Oval Office von ihrer Hysterie zu heilen. Sofort erntet Trump empörte Reaktionen von Meryl Streep, dem Papst und Katrin Göring-Eckardt. Darauf wird mehrere Tage lang in den Medien erbittert über die Frage gestritten, ob das Problem der frigiden Kampfleben bislang nicht möglicherweise doch unterschätzt wurde. Erst nach knapp einer Woche stellt die Weltöffentlichkeit überrascht fest, dass irgendjemand in der Zwischenzeit fünf Atombomben über Kanada abgeworfen hat.

Februar:

Die Koalitionsverhandlungen in Deutschland ziehen sich hin. Der überraschend zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählte Benno Schnulz, stellvertretender Vorsitzender des Ortsvereins Peine und früherer Steuerberater von Gerhard Schröder, stellt harte Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten: Der Terminus „Koalition“ müsse in allen offiziellen Dokumenten durch das Wort „Opposition“ ersetzt werden, den SPD-Ministern müsse es gestattet sein, ihr Amt anonym auszuüben, und die CDU müsse vertraglich zusagen, keine der sozialen Errungenschaften der Agenda 2010 anzutasten. „Unter diesen Bedingungen, und nur unter diesen, sind wir bereit, in eine große Opposition einzutreten“, so Schnulz in einer mitreißenden Rede auf einem Sonderparteitag in Peine. Auf diese Forderungen angesprochen, erwidert Bundeskanzlerin Merkel: „Deutschland ist ein schönes Land voller guter Menschen.“

März:

Unter dem Hashtag #NoSmartism sorgt eine neue Antidiskriminierungskampagne im Internet für Aufsehen. Ihre Anhänger fordern ein Ende der Benachteiligung dummer Menschen. Als Gast der Talkshow von Anne Will erläutert die Internetaktivistin Anke Domscheit-Berg die Bewegung: Dummen Menschen werde es in der Gesellschaft sehr schwergemacht. Sie würden im Alltag oft verspottet und gemieden. In Büchern und Filmen, selbst in solchen für Kinder, stelle man dumme Menschen unvorteilhaft dar. In der Schule erhielten sie schlechtere Noten und im Beruf hätten sie kaum Chancen auf eine Karriere. In den Aufsichtsräten großer Firmen und im Bundestag seien Dumme erschreckend unterrepräsentiert. Widerspruch erntet die Aktivistin in der Sendung wie erwartet vom CSU-Politiker Alexander Dobrindt. Das Gejammer über Diskriminierung sei völlig überzogen. „Ich zum Beispiel bin außerordentlich dumm!“, so der bayrische Konservative. „Und ich habe es trotzdem zum Spitzenpolitiker gebracht!“

April:

Zur Eröffnung der sachsen-anhaltinischen Landesgartenschau in Burg bei Magdeburg hält Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unter dem Titel „Lasst tausend Blumen blühen“ die Festansprache. Steinmeier würdigt ausführlich die Bedeutung der Gartenkunst im Allgemeinen und Speziellen, spricht eine Stunde über die Rolle der Blume in der abendländischen Literatur, für die Demokratie und bei Rentnergeburtstagen. Die Rede des Staatsoberhauptes fordert insgesamt drei Todesopfer, Zuhörer, die während der Ansprache ins Koma fallen und auch durch Behandlung in Spezialkliniken nicht wieder zu Bewusstsein zu bringen sind.

Mai:

Reichlich verspätet erblickt nach fast zehn Monaten Tragezeit das dritte Kind von Prinz William, Duke of Cambridge, und Catherine, Duchess of Cambridge, in Großbritannien das Licht der Welt. Getauft wird der Sohn auf den Namen Jürgen, zur Erinnerung an die deutsche Herkunft der britischen Dynastie. Die erwartete Euphorie bleibt überraschend aus. „Das ist ja doch eigentlich nur ein neuer Hosenscheißer wie Millionen andere, noch dazu aus einer eher unsympathischen Familie von arbeitsscheuen Wichtigtuern. Mit diesem ganzen Royal-Mist will uns die Kulturindustrie sowieso nur von den wahren Klassenkonflikten ablenken!“, so äußert ein Londoner Taxifahrer bei einer Straßenbefragung stellvertretend für alle.

Juni:

Im Golf von Mexiko bildet sich der stärkste je beobachtete Tropensturm. Meteorologen erfinden für den Hurricane Juanita eigens die neue Kategorie 7. Nachdem Juanita bei New Orleans auf die Küste trifft, zieht sie eine Schneise der Verwüstung durch die USA, bis sie endlich nach einer knappen Woche ihre zerstörerische Kraft über Idaho verliert. Wissenschaftler machen für den Hurricane den Klimawandel verantwortlich. Präsident Trump hingegen beschuldigt die Mexikaner, gemeinschaftlich in den Golf von Mexiko uriniert zu haben, um so das Meerwasser zu erwärmen und Wirbelstürme gegen die USA auszulösen. Er verspricht, eine Mauer nicht nur gegen Mexikaner, sondern auch gegen Hurricanes zu errichten, die höchste Mauer aller Zeiten, eine Mauer babylonischen Ausmaßes.

Juli:

Bei der Fußballweltmeisterschaft in Russland überrascht die Mannschaft der Gastgeber mit einem Durchmarsch: Ohne Niederlage und Gegentor stürmen die Russen ins Finale und bezwingen am 15. Juli in Moskau die deutsche Mannschaft mühelos mit 12:0. Gerüchte, der russische Erfolg könne auf Doping zurückzuführen sein, werden umgehend von Präsident Putin persönlich zurückgewiesen. Das kurzfristige Wachstum der russischen Spieler um einen Meter sei allein hartem Training zu verdanken. Zum Beleg verweist Putin vor laufender Kamera auf seinen Penis, dessen Länge sich ebenfalls ohne jede medizinische Hilfe allein durch manuelle Übungen binnen drei Monaten auf fünfzig Zentimeter verzehnfacht habe.

August:

Die alternative Deutschrockband Freiwild spielt als Headliner bei einem Festival unter dem Titel „Rock gegen links“ auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Zu Beginn des Auftritts ruft Philipp Burger, der Poet und Sänger der Gruppe, die 500000 anwesenden Fans dazu auf, sich entschieden für Demokratie und Redefreiheit einzusetzen und sich nicht der Meinungsdiktatur zu beugen. Mit dem Finger weist er dabei auf eine Gruppe von 26 linken Gegendemonstranten vor dem Eingang, die eingekesselt von der Polizei mit Trillerpfeifen und Pappschildern gegen den Auftritt der Band demonstrieren. Bei dem dreitägigen Musikfest, das wegen des großen Erfolgs von nun an jährlich stattfinden soll, performen unter anderen auch Xavier Naidoo, Frank Rennicke und die Sächsische Staatskapelle.

September:

Eine von Bundestag und Bundesrat im Frühjahr einstimmig verabschiedete Verfassungsänderung zur Erleichterung direkter Demokratie zeigt erste Ergebnisse. Bei der ersten bundesweiten Volksbefragung entscheiden sich die Deutschen jeweils mit überwältigender Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Anhebung der Promillegrenze im Straßenverkehr auf 2,5, den vollständigen Abriss von Berlin-Neukölln, die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie die Rassentrennung in Bussen und Bahnen. Während die Alternative für Deutschland den Sieg aller ihrer Volksbegehren feiert, räumt Anton Hofreiter von den Grünen ein, man müsse in seiner Partei doch vielleicht noch einmal intensiver darüber diskutieren, ob die Sache mit der Basisdemokratie wirklich so eine gute Idee sei.

Oktober:

Zum Gedenktag der Reformation am 31. Oktober beschwert sich die ehemalige Bischöfin und Glaubensbotschafterin Margot Käßmann, schon ein Jahr nach dem Reformationsjubiläum sei die bedeutendste Stimme der evangelischen Theologie kaum noch im Gespräch. „Wann kommt endlich mal wieder ein Journalist bei mir zuhause vorbei und interviewt mich?“, fragt Käßmann erregt im Telefongespräch mit der Bild-Zeitung. „Es ist Wochen her, dass jemand bei mit geklingelt hat! Dabei hab ich noch so viel zu sagen! Und auch noch zwanzig Flaschen Luther-Wein im Keller!“

November:

Der neue Film von Til Schweiger stürmt gleich am ersten Wochenende an die Spitze der Kino-Charts. Schweiger, der im neuen Streifen wie üblich als Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller fungierte, erläutert in Interviews, sein Werk Grütze im Kopf sei von der Internet-Kampagne gegen Smartismus inspiriert. „Zum ersten Mal im Leben habe ich durch diese Debatte gespürt, dass ich nicht allein mit meinen Problemen bin“, so Schweiger. Auch sein Film, in dem ein Mann zurück ins Leben findet, nachdem ihm ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen ist, solle als Ermutigung für unverschuldet dumme Menschen verstanden werden. Auch die härtesten Kritiker des Filmkünstlers müssen eingestehen, dass Schweiger noch nie im Leben eine Rolle so überzeugend mit Leben gefüllt hat.

Dezember:

Die Koalitionsverhandlungen in Deutschland ziehen sich hin. Der jüngst überraschend zum neuen SPD-Chef gewählte Bernd Schmalz, ein früherer Friseur von Gerhard Schröder, stellt überraschend neue Bedingungen für eine Regierungszusammenarbeit: So müsse die Bundeskanzlerin versprechen, mindestens drei Mal in der Woche die Sozialdemokraten für ihren Mut und ihre Selbstständigkeit zu loben. Außerdem solle sie ihre Anhänger dazu aufrufen, bei der nächsten Wahl aus Mitleid die Zweitstimme der SPD zu geben. In der Union stoßen die Forderungen auf wenig Gegenliebe. In ihrer Neujahrsansprache mahnt Angela Merkel die SPD denn auch zur Kompromissbereitschaft: „Wenn es uns nicht gelingt, endlich eine Regierung zu bilden, dann besteht die große Gefahr, dass die Bürger merken, dass unser Land eigentlich gar keine Regierung braucht.“

Wie die Deutschen weiß wurden

Der Buchtitel, den der Soziologe Wulf D. Hund für seine „Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus“ gewählt hat, irritiert und soll irritieren: „Wie die Deutschen weiß wurden“. Waren die Deutschen denn nicht schon immer weiß? Hund spielt nicht etwa auf die neuesten Ergebnisse biogenetischer Forschungen an, nach denen alle Europäer (sogar die Sachsen!) aus Afrika stammen. Vielmehr geht es ihm um folgende Einsicht: „Die Wahrnehmung von Hautfarben schließt nicht automatisch rassistische Konstruktionen von Schwarzen und Weißen ein.“ Erst in modernen Zeiten wurde aus diesen äußerlichen Unterschieden eine vermeintlich eindeutige Einteilung des Menschengeschlechts in Rassen unterschiedlichen Wertes abgeleitet.

In den ersten Kapiteln seines Buches zeigt Hund, wie bis weit in die Neuzeit hinein vor allem die Religion die wesentliche Kategorie bei der Beschreibung der Menschheit gewesen ist. Nicht nur wird das Christentum selbstverständlich auch Amerikanern, Asiaten und Afrikanern gepredigt, es gibt auch schwarze Heilige. Der Hass, den die Kirchen gegen Andersgläubige anfachen, ist allerdings nicht weniger mörderisch als der spätere Rassenhass. Aber mit einem Glaubensübertritt können sich selbst Juden vor ihren Verfolgern retten, noch niemand hängt dem modernen Aberglauben an, der Charakter des Menschen sei unveränderlich durch das „Blut“ bestimmt.

Dies ändert sich mit der Aufklärung, die – wie Hund zurecht betont – gerade in dieser Hinsicht keinen Fortschritt bringt. Die europäischen Bürger, die im Namen der Gleichheit gegen den Adel rebellieren, denken nicht daran, selbst auf die Beherrschung und Ausbeutung der Völker auf den anderen Kontinenten zu verzichten. Den Widerspruch im Bewusstsein heilt die moderne Wissenschaft: Sie beweist unwiderleglich den niederen Rang der „schwarzen“, „gelben“ und „roten“ Menschen, die von der Natur selbst zur Beherrschung durch die „Weißen“ bestimmt seien, gleichsam als ewige Kinder. Dass sich unter den aufgeklärten „Rassenmachern“ zum Beispiel auch Immanuel Kant befindet, belegt, wie wenig selbst die größten Geister sich den Vorurteilen ihrer Epoche entziehen können.

Die moderne Rassentheorie bleibt nicht auf den Kreis der Gebildeten beschränkt. Die kolonialistische Propaganda verbreitet sie im 19. Jahrhundert auch unter der einfachen Bevölkerung. Die Verpackungen von Kolonialwaren zieren Bilder dienstfertiger „Neger“, in Zoos werden bei „Völkerschauen“ exotische Menschen präsentiert wie Tiere. Aber der Rassismus weckt nicht nur Verachtung und Aggression den entfernten Fremden gegenüber, er wirkt verhängnisvoll auch auf die privilegierten „Weißen“ daheim zurück: „Die Einteilung der Menschen in hierarchisch geordnete Rassen schlug nach innen als der Verdacht durch, zur Rasse der ‚Herrenmenschen‘ könnten ‚Untermenschen‘ gehören.“ Das Gift des weißen Rassismus zersetzte auch die europäischen Gesellschaften. Rassisten fingen an, in ihren eigenen Völkern nach fremden und minderwertigen Elementen zu fahnden. Sie fanden nicht nur die Juden und die „Zigeuner“. Auch Arme, Behinderte und Kranke wurden zu biologischen Feinden erklärt und – etwa von den Nationalsozialisten – im Namen der Volksgesundheit zur Vernichtung freigegeben.

Die meisten Geschichten des Rassismus konzentrieren sich auf die rassistischen Theorien und ihre politische Umsetzung. Wulf D. Hund setzt hier andere Akzente: Er widmet sich vor allem der Ausbreitung des Rassismus in der Populärkultur und nutzt als Quellen neben Gemälden und Romanen auch Werbegrafiken, Schlager und erfolgreiche Filme. Das macht die Lektüre anschaulich und unterhaltsam, wenngleich der Leser gelegentlich zwischen all den knallbunten Beispielen den rote Faden der Erzählung aus dem Blick verliert.

Ein anderer Mangel des Buches wiegt schwerer: Hunds Geschichte des Rassismus macht sich selbst der Schwarzweißmalerei schuldig. Es gibt in seiner Darstellung nur die rassistischen Weißen und auf der anderen Seite deren Opfer, die Schwarzen, Asiaten, „Zigeuner“, Muslime und Juden. Hund, der im Text einmal von einem anderen Autor Dialektik einfordert, wäre besser auch selbst dialektischer zu Werke gegangen. Dann hätte er kaum die schmerzliche Einsicht unerwähnt gelassen, dass es auch Menschen gibt, die zugleich Opfer von Rassismus und rassistische Täter sind. Dies zeigt sich in unseren Tagen überdeutlich etwa in dem Hass gegen Juden, der in einigen muslimischen Gemeinschaften grassiert. Manch einem Leser wird dieses Fortleben des Rassismus in der Gegenwart sogar gefährlicher scheinen als die „Mohren-Apotheke“, der Hund die letzten Seiten seines Buches widmet.

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Diese Rezension erschien zuerst in der Sächsischen Zeitung.

Termine der Woche

Am Mittwoch (10. Januar) tritt die Lesebühne Zentralkomitee Deluxe zu ihrer monatlichen Sitzung in Berlin zusammen. Brandneue Geschichten und Lieder gibt es wie immer nicht nur von mir, sondern auch von den literarischen Genossen Tilman Birr, Noah Klaus, Piet Weber und Christian Ritter. Außerdem haben wir wie immer einen Gast mit dabei, diesmal die Slam-Poetin Aylin Celik. Los geht es mit dem Abend fortschrittlicher Komik um 20 Uhr in der Baumhaus Bar überm „Musik & Frieden“ an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg. Tickets sind zum humanen Preis von 6 Euro am Einlass erhältlich.

Am Donnerstag (11. Januar) feiert unsere Dresdner Lesebühne Sax Royal ihren 13. Geburtstag! Im Jahre 2005 war’s, da taten sich fünf hoffnungsvolle junge Schriftsteller zusammen, um von nun an monatlich in der Scheune dem Dresdner Publikum ihre Geschichten, Gedichte und Lieder zu präsentieren. Die fünf Stammautoren Michael Bittner, Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth haben seitdem einiges erlebt und durchgemacht. Sie haben Bücher geschrieben, Platten aufgenommen und Filme gedreht. Sie haben Elbefluten, Bierpreiserhöhungen und Montagsspaziergänge überstanden und sogar beschrieben und besungen. Sie sind darob ein bisschen dicker und ein bisschen grauer geworden. Dennoch haben sie noch immer den gleichen Spaß am Schreiben und am Vorlesen wie zu Beginn, nicht zuletzt dank des wunderbaren Publikums, das ihnen über die Jahre treu geblieben ist und das noch immer um neue Fans wächst. Die Royalisten werden dafür sorgen, dass ihr 13. Jubiläum nicht zum Unglückstag ausschlägt, indem sie ihren Gästen wie immer neue Texte und Songs schenken, aber auch ein paar Klassiker aus den vergangenen Jahren. Für einige Überraschungen wird ebenfalls gesorgt sein. Liebe Freunde von Sax Royal, kommt und feiert mit uns! Tickets gibt’s im Vorverkauf oder ab 19:30 am Einlass. Los geht es um 20 Uhr.

Am Freitag (12. Januar) findet auch in Görlitz die erste Lesebühne Grubenhund des neuen Jahres statt. Frische Geschichten und Gedichte gibt es wie immer von den Stammautoren Udo TiffertMax Rademann und mir. Wie immer haben wir uns auch einen Gast eingeladen, es ist diesmal unser wunderbarer Kollege Roman Israel. Los geht es wie immer um 19:30 Uhr im Kino Camillo, Karten gibt es am Einlass ab 19 Uhr.