Keiner soll mir vorwerfen, ich verschwiege die menschlichen Züge Hitlers, die sich in einigen Passagen von Mein Kampf durchaus zeigen. Der Gefreite Hitler erzählt uns aus seinem Kasernenleben:
Da ich jeden Morgen früh schon vor 5 Uhr aufzuwachen pflegte, hatte ich mir die Spielerei angewöhnt, den Mäuslein, die in der kleinen Stube ihre Unterhaltung trieben, ein paar Stückchen harte Brotreste oder -rinden auf den Fußboden zu legen und nun zuzusehen, wie sich die possierlichen Tierchen um diese paar Leckerbissen herumjagten. Ich hatte in meinem Leben schon soviel Not gehabt, daß ich mir den Hunger und daher auch das Vergnügen der kleinen Wesen nur zu gut vorzustellen vermochte.
Ist das nicht ein rührendes Bild? Wird uns nicht der Mann, der früher selbst Hunger litt und nun die Macht genießt, hungernde Mäuslein ums Brot kämpfen zu lassen, gleich sympathisch? Nein? Na, dann weiß ich auch nicht weiter.
Eigentliches Thema des Kapitelchens ist der Beitritt des Helden zur Deutschen Arbeiterpartei. Sie war einer der zahllosen völkischen Zirkel, die nach dem Weltkrieg in München aufblühten. Hitler bemüht sich, die Kleinstpartei um den Werkzeugschlosser Anton Drexler noch kleiner zu schreiben, als sie wirklich war, offenkundig in der Absicht, sich später selbst als eigentlichen Neugründer besser ins Licht zu setzen. Geradezu lustig macht Hitler sich über die „Vereinsmeierei allerärgster Art und Weise“, die ihn bei den ersten Begegnungen mit Parteileuten sehr abgeschreckt habe. Umso schwerer fällt es ihm sodann zu erklären, wieso er dennoch halb widerstrebend Mitglied wurde. Wieder einmal ist der „entscheidendste Entschluss [s]eines Lebens“ fällig – so ungefähr in jedem vierten Kapitel fasst Hitler solch schwerste Entschlüsse. Er tritt bei!
Denn dies war der Vorteil, der sich hier ergeben mußte: man konnte hier noch arbeiten, und je kleiner die Bewegung war, um so eher war sie noch in die richtige Form zu bringen. Hier konnten noch der Inhalt, das Ziel und der Weg bestimmt werden, was bei den bestehenden großen Parteien von Anfang an schon wegfiel.
Die DAP also ein weißes Blatt Papier, das Hitler zur Niederschrift seiner Erfolgsgeschichte auswählte? Näher an der Wahrheit dürfte folgende Vermutung sein: Der vereinsamte Gefreite war froh, überhaupt irgendwo Anschluss zu finden. Und er entdeckte, dass sich Leute für die wütenden Monologe begeisterten, die er bislang zuhause allein seinem Wandschrank vorgetragen hatte.
Mehr lässt sich aus diesem Kapitel wirklich nicht quetschen. Aber das nächste droht schon mit über sechzig Seiten! Werde ich es lesen? Das wird der schwerste Entschluss meines Lebens!
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Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus
Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)
Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)
Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München
Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg
Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda
Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution
Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei
Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches
Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse
Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei
Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat
Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger
Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke
Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede
Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front
Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein
Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.
Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske
Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage
Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege
Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik
Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht
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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016