Hitlers Erfolg beruhte darauf, dass er wenigstens zum Teil wirklich war, was zu sein er beanspruchte: eine Verkörperung des deutschen Volkes. Er personifizierte tatsächlich die Ängste, Vorurteile und Leidenschaften eines erheblichen Teils der Deutschen, nämlich jener Mittelschicht, die auf die Masse der Armen mit Angst und Verachtung und auf die Eliten mit Neid blickte. Hitler verstand diese Deutschen so gut, weil er selbst den gleichen autoritären Charakter besaß. Das Führerprinzip, das er im Kapitel Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke vorstellt, wirkt daher wie eine Variante der Maxime des deutschen Untertans, nach der aufwärts zu buckeln und abwärts zu treten sei:
Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben
Hitler konstruierte seine Partei und seinen Idealstaat nach dem Vorbild der Armee, der einzigen Gemeinschaft, in der er sich im Leben je wohlgefühlt hatte. Und gewiss verschafft bedingungsloser Gehorsam wirklich Befriedigung. Gehorsam befreit von der Qual des Nachdenkens, von der lästigen Pflicht, selbst Entscheidungen zu treffen. Gehorsam schafft auch eine Art von Gleichheit, denn vor dem Kommandierenden sind die Befehlsempfänger gleich. Streit wird überflüssig, soziale und intellektuelle Unterschiede verschwinden vor dem Rang. So kann sich die männerbündische Nestwärme ausbreiten, die man gewöhnlich Kameradschaft nennt. Hitler erträumte sich einen Staat, der aufgebaut sein sollte wie eine militärische Befehlspyramide. Am besten hat es in solch einem Gebilde natürlich derjenige, der ganz oben auf der Spitze thront: Er kann befehlen, muss aber, anders als alle anderen, niemandem gehorchen – ein Schulbubentraum. Für diesen verantwortungsvollen Posten stellte sich Hitler opferbereit selbst zur Verfügung.
Nun braucht aber auch ein solcher Staat eine Legitimation. Sonst könnte ja jeder kommen und fragen: Warum stehst denn eigentlich du da oben? Warum bin nicht stattdessen ich der Führer? Hier hilft der Rassismus, die Lehre von der natürlichen Ungleichheit. Der Glaube an die natürliche Überlegenheit wirkt nicht ohne Grund auch heute noch besonders anziehend auf Menschen, die tatsächlich unterlegen sind oder sich zumindest unterlegen fühlen. Hier unterschied sich Hitlers Appell an die Massen auch fundamental von dem der Sozialisten. Während diese von der natürlichen Gleichheit ausgingen und in ihrem Namen die politische und soziale Gleichheit erkämpfen wollten, ging Hiter von der natürlichen Ungleichheit aus und wollte die vermeintlich biologische Hierarchie auch im Staat durchsetzen.
Es wäre ein Wahnwitz, den Wert des Menschen nach seiner Rassenzugehörigkeit abschätzen zu wollen, mithin dem marxistischen Standpunkt: Mensch ist gleich Mensch den Krieg zu erklären, wenn man dann doch nicht entschlossen ist, auch die letzten Konsequenzen zu ziehen. Die letzte Konsequenz der Anerkennung der Bedeutung des Blutes, also der rassenmäßigen Grundlage im allgemeinen, ist aber die Übertragung dieser Einschätzung auf die einzelne Person. So wie ich im allgemeinen die Völker auf Grund ihrer rassischen Zugehörigkeit verschieden bewerten muß, so auch die einzelnen Menschen innerhalb einer Volksgemeinschaft.
Es mag nun noch verhältnismäßig einfach sein, die Juden auszusondern – aber wie stellt man den unterschiedlichen Rassenwert von Ariern fest? Hier hilft Hitler wieder einmal das „aristokratische Prinzip“ der Natur.
Eine Weltanschauung, die sich bestrebt, unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens, dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben, muß logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volke sichern. Damit baut sie nicht auf dem Gedanken der Majorität, sondern auf dem der Persönlichkeit auf.
Der „Kampf des täglichen Lebens“ ist ein „Ausleseprozeß“, der eine „Siebung nach Fähigkeit und Tüchtigkeit“ besorgt. Wer sich in diesem Kampf durchsetzt, beweist damit auch den Wert seines Blutes. Schlichter, in Beamtensprache ausgedrückt: Wer es schafft, einen Posten zu ergattern, der hat ihn auch verdient. So wird der naturalistische Fehlschluss zum Staatsgrundsatz. Wie logisch verkorkst dieses Denken ist, lässt sich leicht zeigen: Wenn die Starken sich eigentlich von allein durchsetzen, wozu braucht es dann noch einen Staat, der ihnen dabei hilft, gegen die Schwachen zu siegen? Wenn zurzeit die Schwachen regieren, zeigt dies nicht, dass sie tatsächlich die Stärkeren sind? Hitler wurde durch solche Widersprüche nicht irritiert, denn er besaß als ideologische Allzweckwaffe ja „den Juden“, der zur Erklärung für alles herhalten konnte. Es war eben „der Jude“, der zurzeit noch die Spielregeln so manipulierte, dass immer die Falschen das Spiel gewannen.
Hitler vergötzte den Wettkampf zum Fetisch, der Nationalsozialist war also letztlich ein haltloses geistiges Opfer der kapitalistischen Ideologie. Seine eigene Karriere zeigt tatsächlich aber aufs Deutlichste: Es sind meist nicht die Besten, die sich im politischen Daseinskampf durchsetzen, sondern die Gerissensten und Rücksichtslosesten.
***
Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus
Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)
Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)
Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München
Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg
Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda
Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution
Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei
Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches
Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse
Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei
Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat
Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger
Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke
Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede
Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front
Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein
Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.
Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske
Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage
Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege
Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik
Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht
***
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016