Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

Der Wahn, der Hitler antrieb und zeitweise zum Erfolg führte, bereitete ihm schließlich auch sein Ende. Wie jeder totalitäre Denker lebte er in einer „fiktiven Welt“ (Hannah Arendt). Das ging so lange gut, wie er mit Gewalt die Wirklichkeit seiner Ideologie gefügig machen konnte. Als die Wirklichkeit aber widerspenstig wurde, war er längst unfähig geworden, den Tatsachen ins Auge zu blicken, und marschierte unverdrossen in die Katastrophe. Leider hatten die meisten Deutschen sich zu diesem Zeitpunkt seinem Wahn angeschlossen.

Hitler verlor am Ende, gerade weil er von der Unvermeidlichkeit seines Sieges überzeugt war. Diese Selbstgewissheit machte ihn unfähig, sich eigene Fehler einzugestehen. Im Glauben an die historische Notwendigkeit seiner Mission und die Sicherheit seines Sieges ähnelte er den frühen Marxisten:

Wenn [die nationalsozialistische Bewegung] in der Welt unserer heutigen parlamentarischen Korruption sich immer mehr auf das tiefste Wesen ihres Kampfes besinnt und als reine Verkörperung des Wertes von Rasse und Person sich fühlt und demgemäß ordnet, wird sie auf Grund einer fast mathematischen Gesetzmäßigkeit dereinst in ihrem Kampfe den Sieg davontragen. Genau so wie Deutschland notwendigerweise die ihm gebührende Stellung auf dieser Erde gewinnen muß, wenn es nach gleichen Grundsätzen geführt und organisiert wird.
Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden.

Weil Hitler seine eigene Weltanschauung für die absolute Wahrheit hielt, glaubte er, ein nationalsozialistisches Deutschland sei vom Schicksal zur Weltherrschaft berufen. Der deutsche Sieg müsse notwendig eintreten, wenn nur der deutsche Wille einheitlich geformt wäre. Hitler war davon überzeugt, dass „die Stärke eines Volkes in erster Linie nicht in seinen Waffen, sondern in seinem Willen“ liege. Später konnte allerdings auch der stählernste Glaube an den gewissen Endsieg nichts gegen die überlegenen Waffen der alliierten Welt ausrichten.

Hitler war außerdem davon überzeugt, dass, „ehe man äußere Feinde besiegt, erst der Feind im eigenen Inneren vernichtet werden muß“. Die Deutschen seien potenziell ein unbesiegbares Volk. Alle deutschen Niederlagen der Vergangenheit hätten immer nur einige innere Versager und Verräter verursacht:

An dem Tage, da in Deutschland der Marxismus zerbrochen wird, brechen in Wahrheit für ewig seine Fesseln. Denn niemals sind wir in unserer Geschichte durch die Kraft unserer Gegner besiegt worden, sondern immer nur durch unsere eigenen Laster und durch die Feinde in unserem eigenen Lager.

Der Universaljudas war für Hitler natürlich „der Jude“, dessen zeitgenössische Erscheinungsform „der Marxist“:

So wenig eine Hyäne vom Aase läßt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat.

Ein innerer „Vernichtungskrieg“, eine „prinzipielle Abrechnung mit den marxistischen Todfeinden unseres Volkes“, war für Hitler unabdingbare Voraussetzung für jeden siegreichen Feldzug nach außen. Als Marxisten betrachtete Hitler dabei nicht die deutschen Arbeiter, die in sozialistischen Parteien und Gewerkschaften organisiert waren – die brauchte er ja noch für seinen Krieg. Sie waren seiner Ansicht nach nur verführt von jüdischen Funktionären. Mit ihnen wäre man schon im Ersten Weltkrieg besser folgendermaßen verfahren:

Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen.

Im Zweiten Weltkrieg verwirklichte Hitler diese Mordfantasie in einem Ausmaß, das ihm in jenen frühen Tagen von Mein Kampf wohl selbst noch unvorstellbar war. Notwehr als Recht, so lautet der Titel des letzten Kapitels. Die Worte bezeichnen gut die wichtigste, im ganzen Buch ständig wiederkehrende Rechtfertigungslüge Hitlers: Der Mörder unterstellt seinem Opfer Mordabsicht, um es guten Gewissens ermorden zu können.

Schon zur Halbzeit meines Lektüreabenteuers, nach Vollendung des ersten Bandes, habe ich in einem Zwischenfazit darüber gesprochen, welch erbärmlichen Eindruck das Buch macht und wie ratlos es den Leser lässt, der sich fragt, wie eine Figur wie Hitler je die Deutschen begeistern konnte. Dem ist auch nach dem Lesen des ganzen Werkes nichts hinzuzufügen. Ich möchte mich zum Abschluss mit einer anderen Frage beschäftigen: Ist Hitler Geschichte? Oder könnte sein Denken und Handeln in einiger Hinsicht, wie gelegentlich befürchtet, für manche Leute noch immer anziehend sein?

Da wäre zunächst festzuhalten, dass Mein Kampf literarisch Schule gemacht hat. Das Buch ist zwar unförmig, langweilig und sprachlich jämmerlich schlecht, die Verknüpfung von politischem Bekenntnis und autobiografischer Schilderung aber doch gelegentlich wirkungsvoll. Kaum ein moderner Spitzenpolitiker verzichtet heute darauf, eine solche biografisch-politische Selbstdarstellung zu veröffentlichen. Man liest eben lieber das Leben eines Menschen als ein Parteiprogramm. Natürlich stehen solche persönlichen Bekenntnisbücher in einer alten Tradition, die von Paulus über Augustinus und Rousseau bis in die Gegenwart reicht. Doch der Erfolg von Mein Kampf dürfte so manchen Politiker mehr inspiriert haben als jene Klassiker – uneingestanden natürlich.

Wie sieht es aber mit dem Inhalt des Buches aus? Keine Zukunft mehr hat wohl der blutige, mörderische Antisemitismus und Rassismus Hitlers. Moderne Antisemiten und Rassisten vermeiden es heute, ihre Überzeugungen offen auszusprechen, denn seit dem Zweiten Weltkrieg ist eine solche Weltanschauung öffentlich geächtet und stößt auch die Mehrheit der Menschen ab. Moderne Rassismen sind gezwungenermaßen verklemmter, zielen auch nicht mehr auf Ausrottung minderwertiger „Rassen“, sondern nur noch auf Trennung von vermeintlich unvereinbaren „Kulturen“. Dies alles gilt allerdings nur für den Westen. In der muslimischen Welt blüht der Verschwörungswahn des modernen Antisemitismus erst so richtig auf, in den Staaten des ehemaligen Ostblocks ist der offene Rassismus noch immer weit verbreitet. In diesen Welten dürfte der tote Hitler noch viele treue Anhänger finden.

Unvermindert anziehend ist, wie sich gerade heute wieder eindrucksvoll zeigt, Hitlers Verknüpfung von Nationalismus und sozialer Rhetorik. Ich spreche von sozialer Rhetorik, nicht von Sozialismus, weil Hitlers ökonomische Vorstellungen nichts im eigentlichen Sinne Sozialistisches beinhalteten. Er wollte, abgesehen von der Beraubung der Juden, gar nichts an den Vermögens- und Produktionsverhältnissen ändern. Sein „Sozialismus“ beschränkte sich auf moralische Appelle an die deutschen Unternehmer, ihre Arbeiter doch bitte ordentlich zu behandeln, und an die Arbeiter, sich im Dienst und Kampf fürs Vaterland aufzuopfern. Der Nationalsozialismus wirkte anziehend auf so viele Bürger der Mittelschicht gerade dadurch, dass er den Klassengegensatz durch die Idee der „Volksgemeinschaft“ symbolisch überwand, tatsächlich aber unverändert bestehen ließ. Was die Arbeiter und Arbeitslosen anging, setzte Hitler darauf, dass auch sie sich mehr als Deutsche denn als Proletarier verstanden. Und er behielt mit seiner von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs abgezogenen Spekulation immerhin teilweise recht. Der Nationalismus ist die erfolgreichste Ideologie der Geschichte und sie ist das auch heute noch. Erfolgreich wird auch in Zukunft jeder Demagoge sein, der die nationale Leidenschaft gegen Fremde erregt und dabei auch noch glaubhaft den Anschein erweckt, er ergreife für den „kleinen Mann“ Partei im Kampf gegen die korrupten Eliten.

So, das wär’s. Ich danke noch einmal dem treuen Häuflein, das mich geduldig über fast ein Jahr auf meiner Lesereise durch den Schädel Adolf Hitlers begleitet hat. Vielleicht fragt mancher nun: Micha, was wirst du jetzt, nach der Lektüre dieses schauerlichsten aller Bücher, denn tun? Ich überleg’s mir noch. Aber vielleicht bin ich jetzt reif, mal einen Regionalkrimi zu lesen.

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Mein Kampf mit Mein Kampf (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus

Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)

Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)

Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München

Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg

Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda

Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution

Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit

Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches

Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse

Mein Kampf mit Mein Kampf (14): Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei

Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei

Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat

Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger

Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke

Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede

Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front

Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein

Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.

Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske

Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation

Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage

Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege

Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik

Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht

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Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016

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