Das Märchen von der Leitkultur

Ist jeder, der von einer „deutschen Leit- und Rahmenkultur“ nichts hält, ein Verächter der deutschen Kultur? Diesen Eindruck erweckte hier in der letzten Woche Professor Patzelt, der traditionell den Politikern der Union den Stift führt, wenn sie wieder einmal ein Papier zur Leitkultur vollschreiben. Mich wenigstens treibt keine Verachtung. Ich halte das Konzept einer normierten Nationalkultur bloß für intellektuell dürftig und politisch unbrauchbar.

Unhaltbar ist schon die Geschichtsklitterung, die dieser deutschen Leitkultur ein historisches Fundament verschaffen soll. Die Konservativen erzählen uns, durch das harmonische „Zusammenwirken von Antike, Christentum und Aufklärung“ seien die „freiheitliche demokratische Grundordnung“, die „Trennung von Staat und Religion“ und die „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ erblüht. In diesem herzerwärmenden Märchen bleibt bloß leider unerwähnt, dass jene Errungenschaften vielfach gegen die christlichen Kirchen erkämpft werden mussten und gegen deutsche Nationalisten, die auch heute noch Demokratie und Aufklärung als undeutsche Verwestlichung verdammen.

Wir sollten Regeln folgen, weil sie vernünftig, nicht weil sie deutsch sind. Denn auch allerhand Unvernünftiges, ja Abscheuliches galt und gilt als deutsch. Professor Patzelt stopft viele schöne Dinge in den Rahmen seiner Kultur, von der Demokratie bis zur Mülltrennung. Wer könnte etwas gegen solches Deutschtum haben? Leider verschweigt er, dass nicht wenige Deutsche unter Leitkultur etwas ganz anderes verstehen: Sie setzen sich nicht für Mülltrennung, sondern für Rassentrennung ein. Man denke an Jens Maier, den Dresdner Richter, der Tränen für Anders Breivik vergießt und wohl bald uns Sachsen im Bundestag repräsentieren wird – den Wählern der Alternative für Deutschland sei Dank.

Nichts spricht dagegen, dass Zuwanderer sich mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut machen. Aber Einwanderer, die unseren Gesetzen folgen, müssen sich genauso wenig einer staatstragenden Normkultur unterwerfen wie Einheimische. Türken und Polen können auch mit ihrer Kultur in Deutschland leben, so wie dies Juden und Sorben längst tun. Wir halten ja sogar jene Deutschen aus, die selbst mit ihrer eigenen Kultur noch nie in Berührung gekommen sind!

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

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