Zwischen Stadt und Land

Man kann ein ganzes Leben in Berlin verbringen, ohne die Stadt doch je ganz kennenzulernen. Es ist unmöglich, alles auszuschöpfen. Immer hält Berlin Überraschungen bereit, nicht nur wegen seiner schieren Größe, sondern auch wegen der Vielfalt im Kleinen und der Geschwindigkeit, mit der sich alles wandelt. Viele Berliner bekommen davon allerdings nichts mit, weil es ihnen genügt, in ihrem angestammten Kiez zu hocken. Schon den Vorschlag, doch mal nach Marzahn zu fahren – ein Ort, in dessen Nähe sie schon die polnische Grenze vermuten – weisen sie zurück mit der Begründung, dies überfordere ihre Beweglichkeit erheblich.

Ich war schon immer ein leidenschaftlicher Stadterkunder. Mit Bussen und Bahnen begebe ich mich gerne auf abenteuerliche Entdeckungsfahrten zu den Endhaltestellen mit ihren rätselhaft verlockenden Namen wie Krumme Lanke, Wendenschloss oder Hottengrund. Von dort aus bewege ich mich zu Fuß an den fransigen Rändern von Berlin, dort, wo die Stadt unmerklich ins Dorf übergeht. Nach Jahren der Ahnungslosigkeit entdeckte ich auf solche Weise jüngst, dass es im Norden von Berlin ein ziemlich zauberhaftes Gebiet rund um die sogenannten Karower Teiche gibt. Man kann dort fern des Trubels am Wasser spazieren und über Felder und durch Wälder schlendern.

Auf einem Spaziergang eben durch diese Gegend betrat ich im Sommer an einem der Karower Teiche eine Aussichtsplattform, von der aus man die Wasservögel beobachten kann. Ein Mann hielt sich dort bereits auf, ich grüßte ihn freundlich. Der Andere schwieg und glotzte mich angewidert an, so als hätte ich mich eben vor ihm ungefragt entblößt. Angesichts der unangenehmen Stimmung verdrückte ich mich schnell wieder.

Zu den Fragen, die in Deutschland dringend noch einer gesetzlichen Regelung bedürfen, gehört die folgende: Ab welcher Entfernung von einer Stadt ist es geboten, fremde Menschen während eines Spaziergangs zu grüßen? Sagt man in einer Großstadt zu einem Fremden „Guten Tag!“, wird man angeschaut wie ein Verrückter. Wie ein Flegel oder wie ein Verbrecher wird man hingegen auf dem Land betrachtet, wenn man bei einer Begegnung nicht grüßt. In der Stadt macht das Reden unbeliebt, auf dem Dorf das Schweigen. Wo aber verläuft die Grenze zwischen diesen zwei so unterschiedlichen Zonen der Zwischenmenschlichkeit? Nur auf die landschaftliche Umgebung kommt es nicht an. Es gibt auch in Großstädten Wälder und auch in manchen Dörfern belebte Plätze, dennoch herrschen unterschiedliche Sitten. Wäre es nicht an der Zeit, in dieser Frage endlich Rechtssicherheit zu schaffen, um Missverständnissen und Konflikten vorzubeugen? Gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft ohnehin gespalten, das Verhältnis von Großstädtern und Landbewohnern bereits sehr angespannt ist?

Wären die Grenzen erst einmal definitiv gezogen, könnte man Schilder aufstellen, um auf das Ende und den Beginn der allgemeinen Grußpflicht hinzuweisen. Der Deutsche wüsste dann Bescheid. Solange dies nicht geschieht, wird die Unklarheit weiter den Zwist zwischen der urbanen und der rustikalen Hälfte unseres Volkes befeuern. Die Dörfler werden die Städter weiter für arrogant, die Städter wiederum die Dörfler für zudringlich halten. Dabei sind die Zurückhaltung und Gleichgültigkeit der Großstädter ja nur den Erfordernissen des Lebens in der Metropole geschuldet. Wo so viele Menschen beieinanderhocken, muss man das Wegschauen und Ausweichen kultivieren. Sonst bestünde das Leben nur noch aus Aufregung und Streit. Auf dem Land, wo wenige Leute weit entfernt voneinander wohnen, ist man zum Überleben hingegen auf die Aufmerksamkeit und Hilfe des Nachbarn angewiesen. Es zeugt von Unwissenheit, das unterschiedliche Verhalten von Städtern und Dörflern auf unterschiedliche Charakterwerte zurückzuführen. Zwänge man die Leute dazu, ihre Wohnstätten zu tauschen, sähe man im Laufe der Zeit, wie sich ihr Gebaren der neuen Umwelt anpasste. Ich sehe hier übrigens Potenzial für eine neue Sendereihe auf RTL 2.

Aber der Gegensatz zwischen Stadt und Land lässt sich hervorragend ausbeuten, weshalb es nie an Journalisten und Politikern fehlen wird, die sich darum bemühen, ihn zum offenen Krieg anzuheizen. Da wird auf der einen Seite der Landbewohner als kerniger Naturmensch gefeiert und die Großstadt als babylonischer Moloch verdammt, auf der anderen Seite spottet man über die Landeier als minderbemittelte Hinterwäldler und lobt sich selbst für kosmopolitische Urbanität. Besonders schlimm sind junge Schriftsteller vom Land, die schildern, welche Befreiung der Rausch der Großstadt für ihre lange gefesselte, nach Freiheit dürstende Persönlichkeit bedeutete. Eine noch größere Plage sind allenfalls gealterte Schriftstellerinnen, die uns erzählen, das Leben auf selbst gedüngter Scholle habe ihr vom Wahnsinn der Metropole vergiftetes Gemüt geheilt.

Wer die Gelegenheit hatte, in seinem Leben sowohl Land als auch Großstadt kennenzulernen, der weiß, dass an den unterschiedlichen Orten nur verschiedene Arten der menschlichen Dummheit regieren. Fällt in der Stadt ein Mensch mit einem Herzinfarkt auf der Straße um, werden erst einmal drei Dutzend Leute über den leblosen Leib steigen, bevor jemand auf die Idee kommt, einen Krankenwagen zu rufen. Auf dem Dorf würde sofort jemand herbeieilen – schon aus Neugier, es ist ja sonst nichts los. Dafür kann jemand, der gerne sein Geschlecht wechseln will, dies in der Stadt vergleichsweise unbehelligt tun, während er oder sie auf dem Dorf unfreiwillig den Gesprächsstoff für die nächsten Jahrzehnte zu liefern hätte. Es ist ja sonst nichts los. Was in der Großstadt Toleranz heißt, ist oft nur Gleichgültigkeit. Der prächtige Zusammenhalt, dessen sich die Dörfler rühmen, geht mit geistiger Enge und Furcht vor Fremden einher.

Berlin aber ist der Ort, wo solche Gegensätze sich verbinden. Hier findest du das Schlechteste aus beiden Welten vereint. Hier geht provinzielle Piefigkeit mit der Einsamkeit in der Masse bestens zusammen. Du hast einen Nachbarn, der drei Mal in der Woche Pakete bei dir abholt, dich aber schon in der Kneipe zwei Straßen weiter nicht mehr erkennen will. Dafür wirst du von Wildfremden in der U-Bahn angeranzt, geduzt und belehrt, als wärst du ein alter Bekannter, mit dem man es ja machen kann, oder ein Kind, das noch erzogen werden muss. Warum wohnt eigentlich irgendjemand in dieser lebensfeindlichen Umgebung? Weil, man kann es nicht leugnen, es eben auch Augenblicke gibt, in denen sich Offenheit und Nähe doch einmal im Guten verbinden, Momente des Glücks, da dir auf einsamer Straße oder an einem späten Tresen ein Fremder wie ein Engel zu Rat und Trost erscheint. Ich werde Berlin darum erst einmal nicht wieder verlassen, es sei denn, jemand zeigt mir ein Dorf, in dem es Kneipen gibt, in denen man mit Leuten aus aller Welt bis vier Uhr nachts Bier trinken kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert