Wurzeln des Bösen

Als ich jüngst einmal spazieren ging, tobte eine Horde kleiner Kinder an mir vorüber. Zufällig hörte ich, wie sie darüber diskutierten, was man als Nächstes spielen sollte: „Los, einer von uns ist jetzt ein Bettler! Und die anderen rauben ihn aus!“ – „Ja! Und danne – danne ist einer ein Lieber, der muss die Bösen verfolgen und bestrafen!“ Ich schmunzelte über die Einfalt der Kleinen – aber nur, bis mir auffiel, dass die Willkür der Kinder bei der Verteilung der Rollen von Gut und Böse doch ziemlich wirklichkeitsgetreu ist, vernünftiger jedenfalls als der Glaube des Spießbürgers, der angeborene Charakter eines Menschen entscheide über seinen Lebenslauf.

Seit Jahrzehnten unterstützt die Kulturindustrie diese Selbstgewissheit der ehrlichen Biedermänner, indem sie Verbrecher als unverbesserliche Monster inszeniert. Nicht einmal der Tatort aus Gütersloh und die MDR-Vorabendserie Einsatz im Erzgebirge kommen mehr ohne teuflische Psychopathen aus, die aus purer Lust am Bösen grausam morden und ein hinterhältiges Spiel mit dem Kommissar treiben, indem sie ihm beschriftete Leichenteile per Post zuschicken und mit dem Blut ihrer Opfer obszöne Bilder an die Wände von Waldkindergärten malen. Die Filmproduzenten sparen so Geld beim Drehbuch, denn die Autoren müssen sich nicht die Mühe machen, dem Verbrecher einen glaubwürdigen Charakter und eine nachvollziehbare Geschichte zu geben. Der Böse ist böse, weil er böse ist. Und die untadeligen Konsumenten schlafen beruhigt vorm Fernseher ein, nachdem der Täter für immer weggesperrt ist.

Tatsächlich sind es meist die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen das Verbrechen erwächst. In Ländern, in denen die Unterschiede zwischen Arm und Reich besonders krass sind, in denen Hoffnungslosigkeit und Elend die soziale und geistige Verwahrlosung ganzer Klassen ausbrüten, gibt es besonders viele Kriminelle. Der Versuch, solches Verbrechen durch besonders harte, ja unmenschliche Strafen zu vermindern, ist zum Scheitern verurteilt, wie das Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt. Wahr bleibt, was Robert Owen schon vor zweihundert Jahren schrieb: Das Verbrechen besiegt man nicht, indem man den Verbrecher verteufelt, sondern indem man möglichst früh die Armut und die Dummheit bekämpft.

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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

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Kommentare
  1. Frans Bonhomme

    Ach Gottchen, wieder ein ganzer Kübel linke Sozialromantik. Aber Hauptsache, die 75-jährige Armutsrenterin muss in den Bau, weil sie eine Pfandflasche aus dem Mülleimer „geklaut“ hat. Tja, für ihre eigenen Eltern haben Linke keine Herz, die dürfen Flaschen sammeln und werden bei bedarf denunziert. Haben Mao’s Roten Garden ja auch so gemacht.

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    • Michael Bittner

      Läuft bei Ihnen in der Birne noch alles ganz richtig? Es scheint nicht so. Ich hab noch keinen Linken getroffen, der Arme für ihre Armut bestrafen will. Das ist schon das Privileg der Rechten, deren Propaganda in Ihrem Hirn offenbar schon nachhaltige Schäden angerichtet hat.

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