Goethe und die Frankfurter Hauptschule

Wer nach öffentlichen Zeugnissen des Wirkens der Frankfurter Hauptschule sucht, der stößt auf einige leidlich amüsante Aktionen von anarchistisch-hedonistischem Charakter. Die Kunststudenten haben in ihrer Heimatstadt zum Beispiel schon für den Erhalt des Drogenviertels agitiert und einen wie ein Polizeiauto lackierten Wagen abgefackelt und sodann zur Skulptur erklärt. Die Mittel, mit denen solche ästhetischen Provokationen bewerkstelligt werden, sind inzwischen allgemein bekannt. Das Zentrum für politische Schönheit bedient sich ihrer ebenso routiniert wie die Identitäre Bewegung. Ihre Wirkung verfehlen die Krawallnummern dennoch nicht, die Boulevardpresse und die AfD regen sich stets so reflexhaft auf wie gewünscht. So kommt man ins Gespräch. Nach einer programmatischen Begründung ihrer Aktionen sucht man bei dem Künstlerkollektiv der Frankfurter Hauptschule vergebens. Auf der Homepage wird Merchandise verkauft, auf dem Instagram-Profil posieren die jungen Leute stolz neben den Schlagzeilen der Bild-Zeitung, die sie gemacht haben.

Nun haben die Hauptschüler das Gartenhaus Goethes in Weimar mit Klorollen beworfen. Der Protest richte sich – so erklärt ein Mitglied der Gruppe im Interview – gegen den Sexismus Goethes, der in seinen Werken „erotische Hierarchien zu Ungunsten seiner Frauenfiguren“ erschaffen habe. Im Speziellen stoße man sich an dem Gedicht Heidenröslein, das Jugendgedicht Goethes verharmlose eine Vergewaltigung. Überhaupt habe Goethe Frauen in Kunst wie Leben immer sehr schlecht behandelt:

Die Frauenfiguren in seinen Werken wirken häufig eher schwach: ‚Faust‘ ist ein gutes Beispiel. Gretchen ist 14 Jahre alt und wird eher dumm und naiv dargestellt. Faust dagegen ist der schlaue, rastlose Denker. Bei Goethe sind meist die Männer die Handelnden und die Frauen passiv. Auch in Goethes Leben gab es ja einige etwas komische Episoden mit jungen Frauen: Als 40-Jähriger verführte er die 23-Jährige Christiane Vulpius und schwängerte sie. In der Folge hielt er sie von seinem Wohnhaus im Zentrum Weimars fern, da er sich für die nicht standesgemäße Verbindung mit einer Putzfrau schämte. Er schob sie in sein Gartenhaus ab. Noch mit weit über 70 bedrängte Goethe die 17-Jährige Ulrike von Levetzow. Immer wieder beutete er Frauen emotional aus, ließ seine Partnerinnen sitzen und verschwand. Außerdem befürwortete er als Jurist vehement die Hinrichtung einer verwirrten, mittellosen Dienstmagd, die ihr Neugeborenes umgebracht hatte.

Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Vergleicht man Goethes Frauenfiguren mit denen seiner Zeitgenossen, dann fällt nicht die Unselbstständigkeit der Frauen, sondern ihre Selbstständigkeit auf, nicht ihre Dummheit, sondern ihre Klugheit, nicht ihre Passivität, sondern ihre Aktivität. Ähnlich verhält sich’s mit Goethes Verhältnis zu Frauen im wahren Leben: Christiane Vulpius war keine Putzfrau, sie lebte sehr wohl auch in Goethes Stadthaus und sie war keine Sklavin, sondern eine ziemlich selbstbewusste Frau, die Goethe schließlich auch heiratete. Dass Goethe sie „verführt“ hätte, entspringt der sexistischen Fantasie der Frankfurter Hauptschüler, denen eine selbstbestimmte junge Frau aus proletarischem Milieu offenbar unvorstellbar ist. Goethes Beziehung zeigt nicht seine Rückständigkeit, sondern seine Fortschrittlichkeit: Seine nicht verheimlichte Beziehung zu Christiane war ein Affront gegen die Moralvorstellungen seiner Zeit. Vergleicht man Goethes Frauenbild allerdings nicht mit dem seiner Epoche, sondern mit dem moralischen Standard der Gegenwart, dann kann man nur zu einem Verdammungsurteil gelangen. Es bleibt nur die Frage, wie witzlos und arrogant man sein muss, um Befriedigung darin zu finden, in vergangenen Jahrhunderten nach Leuten zu fahnden, die noch nicht so weit fortgeschritten waren wie wir heute.

Ratlos steht der Beobachter auch vor einer Gruppe von jungen Künstlern, die ihren Stolz nicht nur darein setzen, nichts über Goethe zu wissen, sondern auch nichts über Kunst. Sie kennen keinen Unterschied zwischen Kunst und Leben, keinen zwischen Autor und literarischem Erzähler, keinen zwischen der Darstellung einer Sache und ihrer Befürwortung. Zweifellos lässt sich das Heidenröslein als allegorische Darstellung einer Vergewaltigung lesen. Aber es ist ein „Knabe“, also ein noch unreifer, dummer Junge, der den Versuch macht, sich Schönheit gewaltsam anzueignen. Und eben dieser Versuch muss scheitern, nicht nur weil Schmerz seine unmittelbare Folge ist. Natürliche Schönheit lässt sich auf eine solche Weise überhaupt nicht in Besitz nehmen, sie muss entwurzelt verdorren. Wer in diesem Gedicht nichts als „humoristische Vergewaltigungslyrik“ erkennt, der kann nicht lesen.

Vor hundert Jahren forderten die Berliner Dadaisten, man solle die Werke Goethes im Klosett versenken. Das Bildungsbürgertum schäumte vor Wut. Verfolgen unsere Hauptschüler nicht die gleiche Absicht? Das kann sein, nur scheinen sie noch nie über den Wandel der Zeiten nachgedacht zu haben. Vor hundert Jahren florierte noch ein nationalistisch aufgeladener Goethe-Kult im deutschen Bürgertum, der aus guten Gründen zum Widerspruch herausforderte. Inzwischen füllen die Bibliotheksregale hunderte Bände mit kritischer Literatur, die Goethes persönlichen Egoismus und seinen politischen Konservatismus bis ins Detail beleuchten. Junge Leute lesen ihn sowieso nicht mehr – zumindest in Frankfurt am Main scheint dies ausnahmslos der Fall zu sein. In solcher Zeit Goethe zu attackieren, als wäre er noch immer ein unangefochtener Dichterfürst und nicht ein halbvergessener Greis, zeugt von schlechtem Geschmack. Da sich kaum mehr einer wirklich für Goethe interessiert, gibt’s auch kaum mehr einen, der ihn leidenschaftlich verteidigen würde. Selbst die Pappnasen von der Klassik-Stiftung nehmen die fliegenden Klorollen mit Achselzucken hin, ja belobigen die engagierten jungen Menschen noch für ihren Elan. Ein bündigerer Nachweis dafür, dass der unkritische Goethe-Kult längst tot und begraben ist, lässt sich nicht denken. Um zu verstehen, warum auch viele Linke Goethe trotz seines ambivalenten Charakters und seiner politischen Rückständigkeit schätzen, muss man ihn leider lesen. Sonst hat man eben einfach keinen Schimmer von Goethes weltbürgerlicher Abneigung gegen allen Nationalismus und seiner materialistischen Religionskritik. Aber die Frankfurter haben eine gute Entschuldigung:

Die meisten Mitglieder von uns sind Kunststudierende. Als intellektuell würde sich da, glaube ich, eher niemand bezeichnen.

Nicht nur junge Künstler, sondern Künstler überhaupt sind selten Meister der Theorie und der kritischen Analyse. Das macht nichts, denn sie sollen ja Kunstwerke zusammen- und nicht auseinandersetzen. Heikel wird es erst, wenn Künstler beanspruchen, die Gesellschaft verstanden zu haben und verbessern zu können. Dabei kommt oft Schlimmes heraus, Aktionskunst zum Beispiel, wahlweise Kitsch oder zielloses Rasen. Begegnen wir den Frankfurter Hauptschülern mit der Nachsicht, die sie selbst dem jungen Goethe verweigern. Irgendwann werden sie vielleicht einsehen, welcher Quatsch ihr Knabenstreich war.

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Kommentare
  1. Peter Brunner

    Ich fand es zunächst auch ziemlich doof, aber die dümmliche Aggression, die die kindische Aktion hervorrief, ließ mich sie verteidigen.
    Natürlich lässt sich das Heideröslein als Vergewaltigungsphantasie lesen, und Börne schrieb aus besseren Gründen: Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum.
    Mir scheint jedenfalls verwerflicher als sich am Thron des Olympiers zu reiben ihn trotz Unkenntnis eifernd zu verteidigen. Auf ihre Gegner können die Hauptschüler*innen sich was einbilden.

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    • Michael Bittner

      Jene falschen Verteidiger sind natürlich noch abstoßender als die naiven Kritiker Goethes. Aber die Aggression haben eben die Aktionisten mit Absicht und leider ohne vernünftigen Grund und gute Argumente in Bewegung gesetzt. Das ärgert mich am meisten an solchen Aktionen: Sie geben Rechten eine einfache Gelegenheit, einmal nicht völlig im Unrecht zu sein.

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