Björn Höcke und sein Kampf

Anfällig für totalitäre Ideologie sind Menschen, die keine Religion mehr haben, sich aber nach einem Glauben sehnen. Solche Leute sind überfordert und angewidert von der Zerrissenheit und Unsicherheit der modernen Welt. Sie leiden am Zweifel und wollen ihn überwinden. Sie sehnen sich nicht nur nach einer absolut wahren Weltanschauung für sich selbst, sondern auch danach, umgeben von Menschen zu leben, die ganz genauso aussehen, denken und reden wie sie selbst. Sie wünschen sich die Identität, sie fürchten und hassen das Abweichende, das Fremde, das Vermischte. In vormodernen Zeiten konnte die überkommene Religion solche Wünsche wenigstens zum Teil befriedigen. Die Dorfgemeinschaft, in der die meisten Menschen lebten, bot eine hierarchische, abgeschlossene Ordnung, in der jeder schon durch seine Geburt seinen Platz fand. Das Paradox des modernen Konservatismus ist es, die Erneuerung einer solchen vergangenen Gesellschaft zu fordern, die Wiederkunft einer Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist.

Je aussichtloser der Kampf des Konservatismus wurde, desto wütender und brutaler wurden jene Konservativen, die sich nicht mit der liberalen Gesellschaft versöhnten. Sie verbündeten sich mit den Nationalisten in der Hoffnung, wenn schon nicht die Kirche, so werde doch wenigstens noch die Nation einen Rest an Gleichförmigkeit und Ordnung bewahren. So wurde der Faschismus geboren. Der aber brachte, auch in seiner spezifisch deutschen, nationalsozialistischen Form, gar nicht das Erhoffte: In der technischen und staatlichen Durchdringung der Gesellschaft wurde die Modernisierung noch beschleunigt. Und Frieden kehrte auch nicht ein, weil die Gleichförmigkeit und Geschlossenheit einer Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne nur mehr zu haben sind durch Uniformierung und Krieg mit äußeren Feinden. Trotz der katastrophalen Folgen des faschistischen Versuchs gibt es auch heute noch Menschen, die es für eine gute Idee halten, ihn zu wiederholen.

Einer von ihnen ist Björn Höcke, der Landesvorsitzende der Partei Alternative für Deutschland in Thüringen. Sein Charakter wird von der unglücklichen Sehnsucht nach einer ursprünglichen Einheit bestimmt, die von der Moderne durch die „Entwurzelung der Menschen“ zerstört worden sei. Gegen solch „zersetzende[n] Materialismus“ hilft natürlich nur Idealismus, aber da schlägt leider das konservative Paradox zu: Der Konservative ist von dem Unglauben, den er besiegen möchte, selbst schon längst besiegt. Höcke will gern noch glauben, dass „eine letztlich unerklärliche, göttliche Macht die Welt durchwaltet und die Schöpfung einen – uns Menschen verborgenen – Sinn hat“. Das ist nun allerdings spiritualistischer Kitsch, wie ihn auch jeder Grünen-Wähler von sich geben könnte. Ehrlicher ist Höcke, wenn er gesteht, ihm fehle „die feste Glaubensgewißheit“, um sich „als überzeugten ‚Christen‘ im konfessionellen Sinne bezeichnen zu können.“ So ist Höckes Denken einerseits zutiefst irrational, andererseits aber in keiner Weise mehr christlich – eine seiner vielen Gemeinsamkeiten mit Adolf Hitler. Geradezu lehrbuchhaft zeigt Höcke, wie dem Nationalisten das „Volk“ die Religion ersetzt:

Als Teil einer Gemeinschaft, wie etwa als Angehöriger eines Volkes, kann jeder einzelne zu einem wichtigen Glied einer langen historischen Kette werden. Wie bei einem Staffellauf, bei dem der Staffelstab von Generation zu Generation weitergereicht wird, jeweils versehen mit einem ganz bestimmten historischen Auftrag. Das tröstet über die individuelle Vergänglichkeit hinweg und läßt einen zuversichtlich an dem gemeinsamen Werk weiterarbeiten.

In den Schriften Höckes finden sich zuhauf weitere metaphysische Glaubenssätze, so zum Beispiel das Geschichtsgesetz vom „unaufhörlichen Auf- und Abstieg von Gemeinwesen“. Es gehört zum traditionellen Repertoire der Rechten, sein bekanntester Verkünder war Oswald Spengler. Ein solch zyklisches Bild passt allerdings schlecht zu der Angst vor einer „nationale[n] Apokalypse“, ja gar der „finale[n] Auflösung aller Dinge“, die Höcke anderswo hegt. Wenn der Untergang unvermeidlich ist wie der Wechsel der Jahreszeiten, wieso gegen ihn ankämpfen? Aber die Untergangsdrohung ist notwendig, denn ohne sie verlöre Höckes Selbstausrufung zum nationalen Erlöser an Dringlichkeit. Da muss die Kollision von heidnisch-zyklischem und christlichem Denken einfach in Kauf genommen werden. Dass es einem Erlöser von heilsgeschichtlichem Rang nicht einfach nur um schnöde Politik zu tun ist, versteht sich von selbst: „Es geht nicht nur darum, ein Gemeinwesen gut zu organisieren. Es geht auch um die Wiederverzauberung der Welt.“

Man könnte den Zauberlehrling Höcke belächeln, hätte er nicht womöglich bald politische Macht. Sein Denken ist nicht originell, es unterscheidet sich nicht von dem unzähliger rechter Spinner, die in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich unbemerkt erblühten und verwelkten. Da nun aber Höcke zu einiger Bekanntheit gelangt ist, wäre es ein Versäumnis, sich nicht mit seinen Worten zu beschäftigen. Dabei steht der Interpret aber vor einer Schwierigkeit. Björn Höcke ist ein notorischer Lügner. Er behauptete, nichts mit dem Neonazismus zu tun zu haben, doch dann tauchte zu seinem Leidwesen ein Film auf, der ihn 2010 grölend mitten in einer Neonazi-Demonstration in Dresden zeigte. Höcke leugnet weiterhin, unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ Texte für Magazine seines Neonazi-Freundes Thorsten Heise geschrieben zu haben, obwohl dies von dem Autor Andreas Kemper längst überzeugend nachgewiesen wurde. Seine Androhung, jeden zu verklagen, der behaupte, er sei Landolf Ladig, hat Björn Höcke nicht wahr gemacht – aus Angst davor, in einem Prozess der Lüge überführt zu werden. Wie soll man nun aber die Texte eines so feigen Schwindlers lesen? Muss man nicht die Aufrichtigkeit jedes Satzes in Frage stellen? Erübrigt sich dann nicht jede Interpretation? Das alles wäre nur der Fall, wenn man den aussichtlosen Versuch unternähme, die „wahre“ Meinung zwischen den verlogenen Zeilen der Texte aufzuspüren. Fruchtbarer ist es, gerade die Widersprüche, Doppeldeutigkeiten und Unklarheiten aufzuspüren, um ermessen zu können, welche Wirkung sich Höcke von seinen Worten verspricht und welche ihnen beschieden sein mag.

Björn Höcke hätte sich mit dem Band Nie zweimal in denselben Fluss wohl gerne als smarter Neurechter inszeniert. Tatsächlich ließ er seinem neonazistischen Bekenntnistrieb jedoch so sehr die Zügel schießen, dass selbst einige seiner Parteifreunde erschraken. Eine solche Wirkung deutet darauf hin, dass sich bei der Entstehung des Buches zwei widersprüchliche Absichten überkreuzt haben. Es handelt sich zunächst um eine Werbeschrift, die Anhänger gewinnen und nicht verschrecken soll. Aber Höcke ist ein Überzeugungstäter. Immer wieder bricht daher doch seine tiefere Weltanschauung hervor, der Glaube daran, dass der Nationalsozialismus die wesensgemäße politische Form des deutschen Volkes sei. Die so entstandene Zwiespältigkeit des Buches zeigt sich schon in seiner Form. Als Interviewbuch (mit dem Stichwortgeber Sebastian Hennig) soll es sich deutlich von Hitlers Bekenntnisschrift Mein Kampf unterscheiden. Doch die strukturelle Ähnlichkeit bleibt dennoch erkennbar: Höcke erzählt wie Hitler zunächst von ländlicher Heimat, Kindheit und Familie, um Sympathie beim Leser zu wecken und einige kulturpessimistische Nostalgie anzubringen. Wer mag einem Knaben gram sein, der sich warme Milch aus dem Euter der Kuh in den Mund spritzen lässt? Der als jugendlicher Naturbursche einsam durch den deutschen Wald läuft, um zu sich selbst zu finden? Es folgt die Geschichte einer Karriere, in der ein begabter und ehrlicher Kerl an ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert, was ihn dazu zwingt, in die Politik zu gehen, um das Land zu retten. Bei Hitler ist’s die Kunst, bei Höcke die Pädagogik. In beiden Büchern besteht der Rest sodann aus einem Mischmasch von weiteren persönlichen Bekenntnissen, Anekdoten, politischen Forderungen und parteitaktischen Ansagen.

Jeder, der schon einmal Mein Kampf gelesen hat, stößt bei Höcke auf geradezu haarsträubend offensichtliche Anleihen. So zum Beispiel, wenn er seine Eignung zum Führer durch seine wildromantische Kindheit beglaubigt: „Ich war meistens Bandenführer, bei den Keilereien oft ganz vorne mit dabei.“ Bei Hitler lautet die entsprechende Stelle: „Das viele Herumtollen im Freien, der weite Weg zur Schule, sowie ein besonders die Mutter manchmal mit bitterer Sorge erfüllender Umgang mit äußerst ‚robusten‘ Jungen, ließ mich zu allem anderen eher werden als zu einem Stubenhocker. […] Ich glaube, daß schon damals mein rednerisches Talent sich in Form mehr oder minder eindringlicher Auseinandersetzungen mit meinen Kameraden schulte. Ich war ein kleiner Rädelsführer geworden, der in der Schule leicht und damals auch sehr gut lernte, sonst aber ziemlich schwierig zu behandeln war.“ Höckes Versuch, in seinem Buch sein Programm in einem halb staatsmännischen, halb bildungsbürgerlichen Ton vorzutragen, muss wenigstens bei allen nicht völlig blauäugigen Lesern einen ziemlich zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Man sieht und hört einen Björn Höcke, der zwar Kreide gefressen, sich aber kein Schafsfell übergeworfen hat. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Doppeldeutigkeit Methode, wie auch Höckes Reden zeigen. Seine Anspielungen auf den Nationalsozialismus sind für einschlägige Kameraden erkennbar, eher schlicht konstruierte Durchschnittsossis hingegen können den Eindruck gewinnen, hier sei doch alles gar nicht so schlimm, wie die Lügenpresse immer behaupte.

Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun, versucht Höcke an wenigen Stellen im Text, sich vom historischen Nationalsozialismus zu distanzieren: „Selbstverständlich dürfen wir unsere Augen nicht vor den Fehlern und Verbrechen der NS-Zeit verschließen.“ Seine abfällige Rede über das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ erklärt er wie folgt: „Damit sollte das furchtbare Leid und die vielen Opfer der Juden während der NS-Zeit nicht in Frage gestellt oder verharmlost werden, sondern nur unsere Art des Umgangs mit diesem factum brutum.“ Und an einer weiteren Stelle kritisiert er den „NS-Imperialismus“, der „eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrecht [sic] der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ Stets verwendet Höcke in solchen Passagen die Abkürzung „NS“, als wollte er das heilige Wort „Nationalsozialismus“ nicht entweihen, für das vorläufig noch die Ersatzvokabel „solidarischer Patriotismus“ einspringen muss. Nie werden die Täter der nationalsozialistischen Verbrechen genannt: nicht die Deutschen, nicht die Nazis, nicht einmal der sonst als Alleinschurke so beliebte Hitler. Es scheint fast, als wären die Verbrechen einfach geschehen, gleich einem schicksalhaften Verhängnis. Aus Höckes Ladig-Schriften wissen wir, dass er tatsächlich den Feinden Deutschlands die Schuld für die Weltkriege und ihre Opfer zuschiebt. Die Obszönität schließlich, von „Fehlern“ eines Regimes zu sprechen, das im Ganzen nichts als ein einziges gewaltiges Verbrechen war, muss nicht weiter kommentiert werden. Seine halbherzige Distanzierung vom biologistischen Rassismus wird übrigens an anderen Stellen konterkariert, etwa jener, an der er über die Zulässigkeit dunkler Hautfarben in Deutschland schwadroniert.

Höcke steckt in der Klemme, in der alle Nationalisten stecken: Als unbedingter Liebhaber „seiner“ Nation kann er, soll das „eigene“ Herz nicht brechen, deren Verbrechen nur verharmlosen, verdrängen, leugnen oder rechtfertigen. Diese Selbstverstümmelung von Geist und Seele müsste man bedauern, wäre sie zugleich nicht auch gefährlich. Der nationalistische Verbrecher versucht stets, den Beweis seiner Unschuld durch die Ermordung seiner Ankläger zu erbringen. Nie vergisst er, dabei immerzu seine Unschuld zu beteuern:

Wir sollten ganz selbstbewußt darauf hinweisen, daß die Kategorie ‚Volk‘ der zentrale Orientierungspunkt in unserem politischen Denken und Handeln ist. Und daß das Eigene an erster Stelle kommt. Was soll auch daran verwerflich sein, sich seinem eigenen Volk mehr verbunden und verpflichtet zu fühlen als einem anderen? Eltern tun das ebenso mit ihren Kindern, ohne deswegen gleich zu Menschheitsfeinden zu mutieren.

Man könnte schlicht und richtig erwidern: Ein Staat ist keine Familie. Aber selbst wenn wir uns auf diese Metapher einlassen: Gibt es denn Widerwärtigeres als den Anblick von Nahkampfeltern, die morgens ihre Brut um jeden Preis als erste in die Schule tragen wollen, selbst wenn sie dafür fremde Kinder niederwalzen müssen? Solch eine egoistische Affenhordengesinnung möchten Höcke und seine Freunde offen zum Leitbild der Politik machen. Ganz wie für Hitler ist auch für Höcke, diesen im Innersten hohlen, nihilistischen Menschen, das Recht des Stärkeren letztlich höchstes Gesetz. So heißt es zum Beispiel über den europäischen Kolonialismus: „Möglicherweise besteht die größte Schuld der Kolonisten in ihrem oft kampflosen Rückzug aus der Verantwortung für Landschaften, die sie kultiviert haben.“ Was Höcke hier predigt, ist das sogenannte Recht der Eroberung, das jahrhundertelang wider jede Vernunft durch die Geistesgeschichte geschleppt wurde, um Ausbeutung und Unterdrückung staatsphilosophisch zu begründen. Was von Höckes Absage an den „NS-Imperialismus“ wirklich zu halten ist, entlarvt sich damit wohl auch.

Die Liste der Widersprüche innerhalb der Ideologie Höckes ließe sich noch fortsetzen. So räumt er ein, Völker seien keine unveränderlichen Wesen, sondern dem geschichtlichen Wandel unterworfen, ja in gewisser Weise sogar Ergebnis von „Konstruktion“. Ratlos steht der Leser aber sodann vor der Behauptung, der Islam habe einen „eigenen, geographisch umreißbaren Raum“, in dem die Muslime gefälligst zu verbleiben hätten. Woher hat der Islam diesen Raum? Ist er ihm unabänderlich zugewiesen worden? Von wem? Und mit welchem Recht werden die vermeintlichen Versuche der Muslime, den Westen zu kolonisieren, verdammt, während die westlichen Kolonisten für ihre zivilisatorische Leistung belobigt werden? Was unterscheidet die segensreiche Europäisierung Afrikas von der „Afrikanisierung“, die Höcke für Europa fürchtet wie schon Hitler die „Vernegerung“? Es passt einfach nichts zusammen. Um den Vorwurf des biologistischen Rassismus zu entkräften, sagt Höcke, in Ausnahmefällen sei ihm Einwanderung durchaus willkommen. Was versöhnlich klingt, bekräftigt tatsächlich aber nur den Machtanspruch: Denn natürlich sollen Höcke und seine Kameraden die Richter sein, die beurteilen, welche Menschen „ethnisch-kulturell […] verwandt“ genug sind, um aufgenommen werden. Wenn Höcke „Tropfeneinwanderung“ für akzeptabel hält, bringt schon die Sprache unwillkürlich an den Tag, dass sein beschränkter Geist Einwanderung nur in Analogie zur Infektion begreifen kann.

Am Nationalismus von Björn Höcke wird niemand zweifeln. Aber wie steht es mit dem Sozialismus? Was sollen wir von dem Versprechen, mit dem er gerne Linke in sein nationales Lager locken möchte, halten, auch er wolle den Kapitalismus „überwinden“?

Mit Kapitalismus meine ich also nicht eine sinnvolle Marktwirtschaft, die in einer erneuerten Volkswirtschaft ihren wichtigen Platz haben wird, sondern die einseitige Dominanz und Extremisierung eines Produktionsfaktors – des Kapitals – unter Vereinnahmung der beiden anderen: Arbeit und Boden. Man kann dieses System mit der Formel zusammenfassen: Geld regiert die Welt! Dagegen stellen sich völlig zurecht linke wie rechte Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker.

Keine Ahnung von Ökonomie zu haben, ist kein Verbrechen. Sich aber als Ahnungsloser zum Reformator der Weltwirtschaft aufzuwerfen, das erfüllt den Straftatbestand der Beleidigung des gesunden Menschenverstandes. Höckes ökonomische Theorie bewegt sich durchgängig auf dem Niveau der Kapitalismuskritik von Onkel Heinz, der sich nach dem dritten Bier darüber aufregt, dass die Brötchen schon wieder teurer geworden sind und man immer noch keine deutschen Bananen kaufen kann. Es ist nichts als die alte nationalsozialistische Leier: Wenn nur erst die fremden Zinswucherer (zwinker, zwonker!) ausgesperrt und vertrieben sind, wird die deutsche Volkswirtschaft erblühen. Die ehrlichen deutschen Unternehmer und die fleißigen, gehorsamen „deutschen Arbeiter“ werden einander umarmen und brüderlich das Volkswohl mehren. Es gibt bekanntermaßen viele Tröpfe, die für solche Propaganda empfänglich sind. Aber ein „linker Globalisierungskritiker“, der auf einen solchen Lockruf hereinfiele, hätte es wahrlich verdient, für den Rest seines Lebens Eicheln zu fressen.

An nichts erkennt man den Faschisten deutlicher als an seinem Hang zur Projektion, also seiner Neigung, dem Gegner die Verbrechen zu unterstellen, die er selbst plant. So heißt es über die finstere Verschwörung der ominösen „Machthaber, die zu einer geschlossenen transatlantischen Politelite gehören“:

Wir sollen abstrakte, reine Menschen werden, ausgestattet mit universalen Menschenrechten – möglichst ohne Verschmutzung durch irgendeine Volkszugehörigkeit und nationale Traditionen. Wenn man so will, eine ‚ethnische Säuberung‘ der ganz besonderen Art!

Die Linksversifften wollen also in Wahrheit säubern? Kann das denn sein? Das sieht ihnen doch gar nicht ähnlich! Und tatsächlich sind’s auch allein die Nationalisten, die unter einem Putzfimmel leiden. Linke und Liberale wollen niemandem irgendeine kulturelle Identität stehlen oder abtrainieren, sondern nur allen die gleichen Rechte geben, ihre Identität frei zu wählen und so weit als möglich auszuleben oder stattdessen: einfach auf jede Identität zu pfeifen. Das ist dem Nationalisten, dem es um die „Wiederherstellung von Identitäten“ geht, natürlich ein Graus. Um sich selbst ein wenig Mut einzuflößen, entwirft er schon einmal die sadistische Vision einer künftigen ethnischen Säuberung Europas:

Ja, neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein großangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein. Und bei dem wird man, so fürchte ich, nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘, wie es Peter Sloterdijk nannte, herumkommen. Das heißt, das sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden. Man sollte seitens der staatlichen Exekutivorgane daher so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig vorgehen.

Hätte Höcke doch geschwiegen, statt seine Leser so das Gruseln zu lehren! Jeder geschickte neurechte Demagoge fasst sich an den Kopf: Natürlich wollen wir das, aber wir sagen das doch nicht laut! Aber Höcke steht und kann nicht anders. Er ist einer von den Männern, deren Sendungsbewusstsein ihre Klugheit überwiegt. Sonst hätte er sich gewiss auch nicht auf so dreiste Weise dazu bereit erklärt, Deutschland künftig als Diktator zu dienen:

Ein verantwortungsvoller Politiker darf sich bei aller Bürgernähe nicht von den schwankenden Stimmungen des Volkes abhängig machen, zumal diese manipuliert sein können. Auch bei einer wiederhergestellten inneren Einheit muß er ein Sensorium für die ‚volonté generale‘ besitzen und notfalls auch gegen die aktuellen öffentlichen Befindlichkeiten und für das Volk die richtigen Entscheidungen treffen – also nicht selbstherrlich-autokratisch, sondern im dienenden Sinne. Das zeichnet einen Staatsmann gegenüber einem reinen Populisten aus, der immer ochlokratisch abzustürzen droht.

Wer das Volk ist, bestimme ich! Und was es wirklich will, weiß ich am besten! Am lustigsten an diesem Dokument des Größenwahns ist es, wie Höcke aus Versehen eben jene Verachtung des Volkes demonstriert, die er selbst Angela Merkel und dem Rest der Volksverräter vorwirft. Es kann also vorkommen, dass die Mehrheit des Volkes sich als οχλος erweist, also Pöbel, Mob und Pack? Gegen das dann stramm durchzuregieren ist? Wird in der Zukunft vielleicht gegen den Diktator Höcke, der die Stimme des Volkes missachtet, einmal eine montägliche Straßenbewegung aufbegehren? Wahrscheinlicher ist dann wohl doch, dass die unerklärliche, göttliche Macht, die das Universum durchwaltet, gar nicht im Sinn hat, sich die Erde vom nationalen Erlöser Björn Höcke extremisieren zu lassen.

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Nie zweimal in denselben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Mit einem Vorwort von Frank Böckelmann. Lüdinghausen und Berlin: Manuscriptum, 2. Aufl. 2018

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