Die missliche Lage. Über Natascha Strobls Essay „Radikalisierter Konservatismus“

Wer zu den Lieblingsfeinden der Neuen Rechten gehört, muss wohl verdienstvolle Arbeit leisten. Das gilt auch für die Wiener Politikwissenschaftlerin und Publizistin Natascha Strobl. Zahlreiche Anfeindungen und Drohungen bringen sie nicht dazu, in ihrer Kritik an faschistischen Tendenzen in Europa nachzulassen. Strobl ist Mitautorin eines Handbuchs zur „Identitären Bewegung“, ein großes Publikum erreicht sie auch auf Twitter, wo sie unter dem Hashtag #NatsAnalyse über Sprache und Strategie der Neuen Rechten aufklärt. Nun hat sie im Suhrkamp-Verlag ein politisches Sachbuch zum Thema veröffentlicht. Strobl widmet sich einem Phänomen, das sie „radikalisierten Konservatismus“ nennt.

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Freiheit für Sachsen

Der ganze Planet seufzt unter einer Plandemie, mit deren Hilfe die Globalisten eine Gesundheitsdiktatur errichten wollen. Doch es regt sich auch Widerstand aller Orten. Menschen, die bisher geduldig auf ihrem Sofa alles ertrugen, was die Herrschenden ihnen zumuteten, sind endlich zum Protest erwacht, seit der Staat ihnen vorschreibt, sich Wattestäbchen in die Nase zu stecken. Nirgendwo ist aber der Widerstand stärker als im Freistaat Sachsen. Denn dort wohnen die Freien Sachsen. Und dies kündet ihr Manifest:

Am 26. Februar 2021 versammelten sich in Schwarzenberg die Gründungsmitglieder (darunter eine mittlere zweistellige Zahl kommunaler Mandatsträger verschiedener Organisationen) aus dem gesamten Freistaat, um über die formale Gründung der „Freien Sachsen“ zu befinden und der Sammlungsbewegung aus verschiedensten freiheitlichen und patriotischen Initiativen eine Organisationstruktur zu geben. Erklärte Zielstellung ist eben nicht, eine weitere politische Organisation als Konkurrenz zu bereits Bestehenden zu sein, sondern allen bestehenden Gruppen und auch einzelnen Aktivisten ein gemeinsames Dach zu bieten, unter dem die Kräfte wirkungsvoll gebündelt und Aktivitäten (z.B. Demonstrationen, Netz- und Öffentlichkeitsarbeit) koordiniert werden, ohne dass die Einzelnen sich einer fixen Doktrin unterwerfen müssen. Niemand muss mit seiner bisherigen Gruppe, Partei oder Verein brechen – Doppelmitgliedschaften sind möglich und erwünscht!

Ein solch inklusives Treffen hat es wohl seit Woodstock nicht mehr gegeben. Niemand muss mit seiner Gruppe, seiner Partei oder seiner Verein brechen – alle dürfen bleiben, wie sie sind. Keine fixe Doktrin! Nur freiheitlich und patriotisch muss man sein und der Meinung, dass in Sachsen nicht zum großen Teil Esel leben, sondern die prächtigsten Menschen des Kontinents.

Der gemeinsame Grundkonsens der „Freien Sachsen“ ist das Bekenntnis zu einem freiheitlichen Sachsen, das seine historisch gewachsene Identität bewahrt und sich selbstbewusst gegenüber dreisten Vorgaben aus Brüssel und Berlin behaupten kann und will. „Wir wollen als freie Sachsen in einem freien Sachsen leben!“ So fasste der zur Gründung der sächsischen Sammlungsbewegung zum Vorsitzenden gewählte Martin Kohlmann (Stadtrat in Chemnitz) das Wollen zusammen.

Die freien Sachsen kämpfen für das freie Sachsen und für das Menschenrecht auf Tautologie. Denn warum sollte man genauer sagen, was Sachsentum eigentlich bedeutet, solange man stattdessen auch einfach Feindbilder pinseln kann?

Dies drücke sich – gerade im Angesicht der staatlichen Corona-Zwangsmaßnahmen – dadurch aus, dass die derzeitige freiheitlich-demokratische Ordnung völlig aus dem Ruder gelaufen und oftmals nur noch eine hohle Phrase sei und wir auf Kommunal- und Landesebene dafür sorgen müssen, dass wir endlich als freie Sachsen in einem Freistaat leben können, der diesen Namen auch verdient.

So eine freiheitlich-demokratische Grundordnung ist schon ein merkwürdiges Ding. Hat man schon jemals zuvor eine Phrase gesehen, die hohl war und es dennoch schaffte, auch noch aus dem Ruder zu laufen? Kein Wunder, dass die Freien Sachsen noch nicht so recht zu wissen scheinen, ob die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerettet oder abgeschafft werden soll. Aber immerhin ein Menschenrecht verteidigen sie ohne Wenn und Aber: das Recht auf Asyl.

Impfzwang ab Februar in Österreich: Jetzt müssen wir Sachsen helfen und verfolgten Bürgern Asyl gewähren! Nun kommt wirklich eine nationale Kraftanstrengung auf uns zu, um politisch Verfolgten Asyl zu gewähren: Soeben hat die ÖVP-Regierung neben einem umfassenden Lockdown eine Impfpflicht für jeden Österreicher angekündigt. Es drohen also Zwangsimpfungen durch Polizei und Militär!  Wir Sachsen sind ein gastfreundliches Volk und helfen anderen deutschen Völkern, die sich in Not befinden – Sachsen hat nicht erst seit der Reformation eine lange Tradition an gelebter Solidarität. Alle Sachsen sind aufgefordert, schon jetzt praktische Hilfe zu organisieren. Es braucht neben Unterkünften sicherlich materielle Hilfe, aber auch eine Einbindung in unsere sächsische Gesellschaft – Bürger, die sich von der Regierung nicht unterkriegen lassen und für ihre Freiheit eintreten, sind bei uns jederzeit willkommen! Diese Hilfe müssen und werden wir fernab der Regierung organisieren!

Die Bereitschaft der Sachsen, Menschen auf der Flucht Asyl zu gewähren, ist weltweit bekannt. Wie oft werden Geflüchtete in sächsischen Dörfern sogleich laut begrüßt von den einheimischen Männern, die den Fremden auch gleich einheizen, damit ihnen die neue Heimat nicht kalt vorkommt. Noch freundlicher behandelt werden nur Impfasylanten aus Österreich, die Glück haben, dass sich wenigstens noch die Freien Sachsen daran erinnern, dass Österreicher keine Österreicher, sondern Deutsche sind. Aber auch für die verfolgten Sachsen selbst halten die Freien Sachsen Hilfe bereit:

Hinweise zum Verhalten bei CoStaPo-Kontrollen in Gastronomie, Freizeitsektor und Handel! Täglich rückt die Corona-Staatspolizei (kurz „CoStaPo“) zu Gewerbetreibenden in Sachsen aus, um sie mit Kontrollen – insbesondere im Hinblick auf die Durchsetzung der 2G-Spaltung – zu belästigen. Wir haben, in Abstimmung mit der Rechtsanwaltskanzlei Kohlmann, einige Praxistipps (sowohl für Gewerbetreibende, als auch für Gäste) zusammengestellt, wie sich bei solchen Kontrollen verhalten werden sollte.

Wer aber kontrolliert die CoStaPo? Der sächsische Diktator Michael Kretschmer von der linksradikalen Staatspartei CDU.

Es gibt sogar Gerüchte, der kleine, rothaarige Mann mit dem slawischen Namen sei womöglich gar kein echter Sachse, sondern in Wahrheit etwas ganz anderes:

Kein Wunder, dass der Volkszorn in Sachsen sich gegen diesen Mann richtet, so stark, dass man mit der Wut sogar noch Geld verdienen kann, was die Kleinunternehmer, die sich bei den Freien Sachsen vorzugsweise tummeln, dann auch tüchtig tun:

Immer mehr Sachsen fordern: Kretschmer verhaften! Ein Ministerpräsident, der uns Bürger wieder einsperren will? Das ist zuviel! Es wird Zeit, die Verantwortlichen dieser Politik, die von vielen Rechtsbrüchen begleitet ist, endlich zu bestrafen. Statt uns Bürgern sollte der Ministerpräsident eingesperrt werden, dann wäre die Corona-„Krise“ in Sachsen mit einem Mal vorbei. Und natürlich in der Staatskanzlei frischer Wind wehen. Immer mehr Sachsen zeigen offen, was sie von diesem Ministerpräsidenten halten. Ihr wollt auch Flagge zeigen? Das Banner gibt es hier, perfekt für den Garten, Balkon oder den nächsten Bürgerprotest.

Doch die erfundene Corona-„Krise“ ist nicht das Einzige, was den sächsischen Mittelstand bedroht. Eine wirkliche Seuche gibt es auch: Gewerkschaften!

Um 19.00 Uhr gibt es bei den FREIEN SACHSEN wieder ein Sonntagsgespräch – dieses Mal zu Gast: Ein Vertreter der alternativen Gewerkschaft Zentrum Automobil, die in den Betrieben hartnäckig gegen die Dominanz der regierungsnahen IG Metall ankämpft. Wofür braucht es alternative Gewerkschaften? Sind Gewerkschaften tatsächlich auf der Seite der Arbeiter? Welche Möglichkeiten gibt es, sich selber einzubringen?

Alternative Gewerkschaften gibt es natürlich aus demselben Grund, aus dem es überhaupt eine Alternative für Deutschland gibt. Die Arbeiter müssen endlich einsehen, dass regierungsnahe Gewerkschaften sie auf den Irrweg des Konflikts führen. Alternative Gewerkschaften machen das besser: Sie haben gleich von Anfang an die Interessen des Kapitals im Auge und suchen dazu nur noch Arbeiter, die demütig genug sind, sich bei ihren Chefs durch Gehorsam auszuzeichnen.

So wenig sich die Sachsen vor irgendeinem Virus fürchten müssen, so sehr ist eine andere Bedrohung des Volkskörpers real: Flüchtlinge, die leider nicht aus Österreich kommen. Um sie zu stoppen, gehen die Freien Sachsen nicht bloß auf die Straße, sie gingen sogar auf die Autobahn, wenn man sie denn ließe.

Kundgebung auf der A4: Endstation für Asyl-Schleuser! Seit Tagen nimmt der Ansturm auf die sächsische Ostgrenze zu, die Bundespolizei hat sich mit einem Hilfeschrei an die Politik gewendet (und wird von dort im Stich gelassen). Wir wollen Aufmerksamkeit schaffen und zeigen: Für Sicherheit können wir alle zusammen sorgen, durch ausreichenden Druck auf die Verantwortlichen! Am Freitagabend (29. Oktober) führen wir ab 19 Uhr eine Kundgebung auf der A4 durch. Kundgebungsort ist die Fahrspur Richtung Dresden in Höhe des Rastplatzes „An der Neiße“, unmittelbar hinter dem Grenzübergang. Die Anreise kann bequem per PKW zum Parkplatz erfolgen. Sollte uns die Versammlungsbehörde Steine in den Weg legen wollen, sind wir optimistisch, unser Recht gerichtlich durchzusetzen. Wir schweigen nicht, sondern sorgen dafür, dass die aktuelle Asylflut thematisiert werden muss. Wir sind der sächsische Grenzschutz!

Wenn das der Erbauer der Autobahnen noch hätte erleben können, ihm wären Tränen der Rührung gekommen. Sachsen, die sich der Asylflut entgegenstemmen. Mit Fluten haben sie ohnehin Erfahrung und wenn erst einmal die Fremden gestoppt sind, werden sie mit den nächsten Elbefluten auch ganz gewiss allein fertig.

Was aber soll geschehen, wenn alle friedlichen Bemühungen der Freien Sachsen um die Wiederherstellung des Rechts scheitern? Dann bleibt wohl nur noch die letzte Zuflucht:

Mehr Autonomie und notfalls der Säxit

Die Rechte Sachsens, seine Angelegenheiten selbst zu regeln, sind innerhalb der Bundesrepublik neu zu verhandeln. Ziel dieser Verhandlung muss sein, dass Sachsen wichtige Fragen seiner Gegenwart und Zukunft im Sinne des vorliegenden Programms wieder selbst bestimmen kann (Autonomie). Als Vorbild dienen dabei autonome Regionen wie Südtirol in Italien, das Baskenland in Spanien oder Schottland in Großbritannien. Sollte die Berliner Zentralregierung dazu nicht bereit sein, ist als äußerstes Mittel vom Kündigungsrecht Gebrauch zu machen, welches sich aus dem Einigungsvertrag ergibt.

Die Freien Sachsen ahnen gar nicht, welches Erfolgspotenzial ihr Programm hat.

Sie sollten sich unbedingt bundesweit Gehör schaffen und auch bei Wahlen antreten. Der Plan, Sachsen aus Deutschland zu entfernen, wird eine überwältigende Mehrheit begeistern. Säxit? Ja, bitte! Fast möchte ich da zum Schluss bekennen: Auch ich bin ein freier Sachse!

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Quellen: https://freie-sachsen.info, https://www.facebook.com/freie.sachsen (Zugriff: 23.11.2021)

Dieser Text entstand für die satirische Medienschau Phrase & Antwort, die ich gemeinsam mit dem Kollegen Maik Martschinkowsky in Berlin im Salon des Franz-Mehring-Platz 1 präsentiere. Unsere nächste Show gibt es am 29. Dezember um 20 Uhr. Ich würde mich freuen, wenn ihr vorbeischaut und Karten im Vorverkauf erwerbt.

Termine der Woche

Am Mittwoch (24. November) gibt’s eine neue Ausgabe von Phrase und Antwort, der Satireshow, die ich gemeinsam mit Maik Martschinkowsky von der Lesebühne Lesedüne fabriziere. Unter anderem begebe ich mich diesmal zu den Freien Sachsen und ergötze mich an der neuen Kriegsbegeisterung der deutschen Presse. Wir haben auch einen wunderbaren musikalischen Gast: Der Songwriter Elis C. Bihn kehrt aus Frankfurt in seine alte Heimatstadt zurück. Tickets gibt’s im Vorverkauf oder an der Abendkasse. Start um 20 Uhr im Salon des Franz-Mehring-Platz 1. 2G!

Am Donnerstag (25. November) lese ich Neues bei meiner Berliner Lesebühne Zentralkomitee Deluxe. Mit dabei sind nicht nur die Kollegen Christian Ritter, Piet Weber, Tilman Birr und Noah Klaus, sondern auch zwei Gäste: Luca Swieter und Aidin Halimi. Karten bekommt ihr im Vorverkauf oder an der Abendkasse im Crack Bellmer ab 19:30 Uhr. Um 20 Uhr geht’s los! 2G!

Termine der Woche

Am Mittwoch (10. November) gibt’s eine neue Ausgabe meiner Dresdner Lesebühne Sax Royal. Neue Geschichten lesen mit mir nicht nur die Stammautoren Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth, wir begrüßen als besonderen Gast auch noch den Autor, Kabarettisten und Songwriter Tilman Birr aus Berlin. Los geht’s um 20 Uhr in der Groove Station. Kauft euch Tickets gerne schon im Vorverkauf. Nach den geltenden Corona-Regeln in Sachsen gibt es Zutritt nur für nachweislich Geimpfte und Genesene (2G).

Am Sonntag (14. November) bin ich endlich einmal wieder Gastautor bei Die Lesebühne Ihres Vertrauens in Frankfurt am Main. Gastgeber sind die Stammautoren und -musiker Tilman Birr, Elis und Severin Groebner. Los geht es um 20 Uhr im Ponyhof. Auch hier gilt: 2G.

 

Zitat des Monats November

Unser Mutterplanet, das ist ja die eigentliche Göttin, auf der wir leben, dass die sagt „Leute, 7,7 Milliarden – mir trampeln hier zu viele rum! Ich nehm jetzt mal zwee Milliarden mit!“ Und was machen wir? Mir impfen! Also, ich mein das so: Wenn’s einmal im Kopf is, warum darf man das nicht aussprechen?

Uwe Steimle, sächsischer Volkskomiker

Urlaub in Deutschland

Urlaub in Deutschland – eigentlich ein guter Name für eine Punkband. Allerdings gibt es kaum Wörter, die nicht geeignet wären, zum Namen einer Punkband zu werden: Gurkenhobel, Einkommenssteuerbescheid, Seniorentanz – alles sehr gute Namen für Punkbands. Für mich wurde Urlaub in Deutschland im Jahre 2021 vom Witz zur Wirklichkeit. Gewöhnlich meide ich Ferien in Deutschland, denn es reicht mir, im ganzen Rest des Jahres vornehmlich mit Deutschen zu tun zu haben. Im Urlaub verlasse ich üblicherweise Deutschland, denn ich brauche ja Urlaub gerade von diesem Staat. Nun war ich aber im Sommer noch nicht vollständig geimpft und verspürte wenig Lust, mit etwas Pech im Ausland in eine Quarantäne zu geraten. Gemeinsam mit der Frau im Haus beschloss ich: Wenn schon, denn schon. Wenn Urlaub in Deutschland, dann auch in den Schwarzwald. Wenn schon Heimat, dann muss der Hirsch auch röhren.

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Herrschaft des Unrechts

Es gibt eine Faustregel: Wenn Rechte sich auf das Recht berufen, dann ist Heuchelei im Spiel. Denn das Recht interessiert Rechte nur so lange, wie es ihren Zwecken dient. Ist es ihren Wünschen hingegen im Weg, verabschieden sie es mühelos zugunsten des Faustrechts. 2016 schwadronierte Horst Seehofer noch von einer „Herrschaft des Unrechts“, weil seine Bundeskanzlerin Angela Merkel Geflüchtete aus Syrien nicht an der deutschen Grenze zurückweisen ließ. Nun herrscht an den Grenzen der Europäischen Union tatsächlich das Unrecht – Seehofer findet lobende Worte. Die europäische Rechte applaudiert, während Geflüchteten ihr Recht verwehrt wird, einen Asylantrag zu stellen. Stattdessen werden sie von Grenzpolizisten verprügelt und davongejagt.

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Joachim Krause im Westfernsehen

„Westfernsehen“ – so nennen deutsche Patrioten inzwischen die Neue Zürcher Zeitung. Zum Beispiel Hans-Georg Maaßen, ehemals Chef des Verfassungsschutzes und heute frei flottierender Rechtsradikaler. In Deutschland herrscht bekanntlich die linksmerkelianische Meinungsdiktatur der DDR 2.0. Rechte Medien existieren nicht mehr, Konservative sitzen geknebelt hinter Gittern. Da bleibt nur der heimliche Blick über die Schweizer Grenze, um in der NZZ zu erfahren, wie es im eigenen Land wirklich zugeht. Ein Geschäft mit doppeltem Gewinn: Die NZZ kann mit Hilfe des Geldes der deutschen Wutleser gut der allgemeinen Zeitungskrise trotzen. Allerdings muss sie nun auch regelmäßig Futter liefern und öffnet daher fast täglich einem bundesdeutschen Hobbydissidenten ihre Spalten. Jüngst war es ein Professor Joachim Krause aus Kiel, ein echter Politrebell, der aus seinem Ruhestand das Klagelied anstimmen durfte.

Als Deutscher begegne ich vor allem in Ostmitteleuropa und zunehmend auch in Skandinavien dem Vorwurf, die Deutschen stünden heute für liberale Intoleranz.

Wir wissen ja inzwischen schon länger, dass eine große Bedrohung vom Linksfaschismus ausgeht. Aber offenbar gibt es noch eine Paradoxie, vor der wir Angst haben müssen: den intoleranten Liberalismus. Worum mag es sich da handeln?

Als Liberaler habe ich mich lange gegen diese Kritik gewehrt, aber mittlerweile muss ich einsehen, dass viele von diesen Vorwürfen berechtigt sind. Es gibt fünf Felder, in denen die liberale Intoleranz vieler Deutscher unangenehm bei Nachbarn auffällt.

Unangenehm bei den Nachbarn auffallen – Joachim Krause kitzelt sehr geschickt eine Urangst der Deutschen, die bekanntlich seit jeher ängstlich darum bemüht sind, nicht durch exzentrisches Verhalten aus der Norm zu rutschen. Umgekehrt sitzt der Deutsche dann aber auch selbst auf Beobachterposten am Fenster, um zu überprüfen, ob nicht die Nachbarin vielleicht durch Normverstöße auffällt, die man maßregeln könnte.

Erstens gibt es eine Verachtung für die Nation und für alles, was mit staatlicher Souveränität zusammenhängt. Diese Haltung ist nachvollziehbar angesichts des Missbrauchs der Nation und des Patriotismus durch die Nationalsozialisten. Aber die Deutschen fallen oft von einem Extrem ins andere.

Wer erinnert sich nicht daran, wie die Deutschen gleich nach 1945 von einem Extrem ins andere gefallen sind, sämtliche Nazis an Laternen aufknüpften und die friedliche Selbstauflösung Deutschlands beschlossen?

Heute belehren deutsche Politiker und Vertreter der Medien und der Wissenschaft andere Europäer darüber, wie schädlich Nationalismus sei und wie wichtig vertiefte europäische Integration wäre. Von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen mag das richtig sein. Nur geht dieser Impuls an der Realität Europas vorbei. Die Mehrzahl der Staaten Europas sind Nationen, die lange um ihre Souveränität haben bangen müssen, die oft klein sind und wo die Menschen sich im Rahmen ihrer Nation geborgen fühlen. Das vor allem aus Deutschland kommende Drängen in Richtung auf mehr Integrationsfortschritte wird mit grosser Skepsis beobachtet. Europa ist für sie die Hülle, innerhalb deren ihre Nation Bestand hat, aber nicht das Brecheisen, mit dem die Nation ausgehebelt werden soll.

Hier muss ich Joachim Krause widersprechen: Für mich ist die Nation ganz eindeutig ein Brechmittel. Aber andere fühlen anders, zum Beispiel die 89 Prozent der Deutschen, die sich nach einer Umfrage selbst als Patrioten bezeichnen. Wenn es einen Plan zur Abschaffung der Nation gibt, scheint der nicht sonderlich gut zu funktionieren, in Deutschland nicht und noch weniger in Europa, wo Provinzdiktatoren ziemlich ungestört machen können, was sie wollen. Und dort, wo die Europäische Union etwas zu sagen hat, zum Beispiel an ihren Grenzen, verhält sie sich auch nur wie ein Nationalstaat, den man zu kontinentaler Größe aufgeblasen hat.

Zweitens ist in Deutschland zunehmend eine Herablassung gegenüber traditionellen Gesellschaftsvorstellungen zu beobachten. Es setzt sich mehr und mehr ein Narrativ durch, wonach die normale Form der Gesellschaft eine solche sei, bei der die traditionelle Familie ausgedient habe. Jedes Individuum soll seine Lebenschancen in freier Selbstbestimmung wahrnehmen – angefangen bei der Wahl des eigenen Geschlechts bis zum Studium für alle oder zum Berufsleben für Frauen als Regelfall. In vielen Ländern Ostmitteleuropas und Südeuropas ist grosse und berechtigte Skepsis gegenüber diesem deutschen Weg zu beobachten. Bei vielen herrschen traditionelle Vorstellungen von Gesellschaft und Familie vor.

„Jedes Individuum soll seine Lebenschancen in freier Selbstbestimmung wahrnehmen“ – das ist also für Joachim Krause eine Dystopie? Ich will eigentlich gern glauben, dass Herr Krause wirklich ein Liberaler ist, so wie er es von sich selbst behauptet. Aber es ist schon eine merkwürdige Form von Liberalismus, die er da pflegt. Gibt’s dafür schon einen Namen? Intoleranter Liberalismus vielleicht? Aber nein, das sind ja die anderen:

Mit grosser Sorge wird die bei vielen Deutschen zu beobachtende Intoleranz gegenüber traditionellen Vorstellungen gesehen. In Polen und Ungarn machen sich populistische und tendenziell demokratiefeindliche Kräfte diese Sorge zunutze, um sich an der Macht zu halten. Und auch der russische Präsident Putin bläst in dieses Horn.

Verstehen wir es richtig? Weil Demokratiefeinde im Osten mit Erfolg gegen individuelle Selbstbestimmung agitieren, sollten wir aufhören, für individuelle Selbstbestimmung zu kämpfen? Wir sollen also mehr Toleranz für die Intoleranz aufbringen, damit wir von Herrn Joachim Krause nicht als intolerante Liberale gegeißelt werden?

Drittens stösst die Fixierung auf Gerechtigkeit und den Gleichheitsgrundsatz als Grundmaximen einer Politik auf, die nationalstaatlich und international handeln will. Am deutlichsten wird das beim Thema Migration. […] Wenngleich es sich nicht um eine Mehrheit handelt, so gibt es in Politik und Medien viele, die fordern, dass Deutschland und Europa mehr oder weniger unbegrenzt Menschen aufnehmen sollen – im Namen von Humanität und Gerechtigkeit. Oftmals wird diese Offenheit mit den Verbrechen des Kolonialismus, mit den Auswirkungen des Kapitalismus oder damit begründet, dass unser Energieverbrauch Millionen von Klimaflüchtlingen hervorbringe, die wir jetzt aufnehmen müssten. Diese deutsche Vorstellungswelt erregt gerade bei Menschen in kleinen Nationen zu Recht völliges Unverständnis.

Die westlichen Staaten sollen eine Verantwortung tragen für Menschen, die wegen westlicher Kolonialkriege, westlicher Ausbeutung und westlicher Treibhausgase auf der Flucht sind? Ich gestehe, dass ich diesen Gedanken nicht gar so unverständlich finde.

Viertens wird die liberale Intoleranz deutlich in der Herablassung gegenüber Bedrohungsängsten der Ost- und Nordeuropäer. Nach der russischen Annexion der Krim und von Teilen der Ukraine geht in den baltischen Staaten, Polen, Schweden und Finnland die berechtigte Angst vor einer russischen Invasion um.

Schon wieder verstehe ich etwas nicht: Wenn die kleinen Staaten im Osten und Norden den westlichen Liberalismus so verabscheuen, wieso fürchten sie sich dann vor Väterchen Putin, der ihnen doch nur Rettung brächte vor den grausamen Zerstörung der traditionellen Familie?  Warum eilen sie nicht stattdessen in seinen warmen Schoß?

Potenziell gefährlich ist fünftens die Verabsolutierung der Klimaproblematik. Es ist unbestritten, dass der Klimawandel eine Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellt und dass es weitgehender Umstellungen unserer Wirtschaft und unseres Lebens sowie umfangreicher technologischer Innovationen bedarf, um den Ausstoss der Treibhausgase zu stoppen und die Folgen des Klimawandels abzumildern. Aber die Art und Weise, wie heute in Deutschland im Sinne eines intoleranten Liberalismus Klimapolitik betrieben wird, ist hysterisch, kurzsichtig und anmassend. Sie zielt darauf ab, alle anderen politischen Anliegen und alle Alternativen zu einer weitgehend von den Grünen vorgegebenen Klimapolitik zu unterdrücken. Das hier deutlich werdende autokratische Moment einer intoleranten liberalen Klimapolitik stellt eine Gefährdung der Demokratie dar.

Kurz gesagt: Wir brauchen einfach mehr Hitzetoleranz. Und in Ländern, die genug Geld haben, um Klimaanlagen, Löschflugzeuge und Dämme zu bauen, sagt sich das erfrischend leicht.

In Deutschland haben wir erlebt, wie die beiden grossen Volksparteien – die SPD und die Unionsparteien CDU/CSU – sich von der Welle des intoleranten Liberalismus haben einnehmen lassen. […] Merkel hat in ihrer Amtszeit viele Positionen des intoleranten Liberalismus übernommen und Kritiker aus ihrer eigenen Partei verstummen lassen. Es ist zu hoffen, dass nach den hohen Verlusten bei der Bundestagswahl die Stimmen der Vernunft in der Union wieder Auftrieb bekommen. Denn ein Deutschland, dessen Politik von der Intoleranz eines progressiv gewandelten, postmodernen Liberalismus gesteuert wird, ist eine Belastung für Europa.

Hoffen wir also alle gemeinsam, dass Deutschland nach der Merkel-Diktatur endlich wieder zu dem regressiven, vormodernen Liberalismus zurückkehrt, mit dem es in vergangenen Zeiten für Europa und die Welt ein einziger Segen war.

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Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/gerechtigkeitswahn-oder-klimawandel-deutschland-eckt-an-ld.1650483

Dieser Text entstand für die satirische Medienschau Phrase & Antwort, die ich gemeinsam mit dem Kollegen Maik Martschinkowsky in Berlin fabriziere. Die nächste Ausgabe gibt es am 24. November um 2o Uhr im Franz-Mehring-Platz 1.