Vor einer Weile besuchte ich die Linken Buchtage im Berliner Mehringhof. Gelockt hatte mich die Ankündigung einer Buchpremiere. Das eben im Verbrecher Verlag erschienene Lesebuch Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! sollte vorgestellt werden. Ein Teil des Publikums erwies dem Anarchisten, Dichter und exzessiven Lebenskünstler Erich Mühsam schon dadurch die Ehre, dass munter jede Ordnung ignoriert und weiter fleißig gequascht und gesoffen wurde. Die Protagonisten auf der Bühne ließen sich aber keineswegs beirren. Markus Liske, einer der Herausgeber, las einige Texte und erläuterte das Konzept des Lesebuches: Es enthält nicht nur ausgewählte Gedichte, Glossen und Essays Mühsams, sondern auch Auszüge aus seinen Memoiren Unpolitische Erinnerungen und aus Tagebüchern und Briefen. Alles zusammen ergibt, chronologisch geordnet, nicht nur eine Blütenlese, sondern auch eine kleine Biografie des Dichters. Die zweite Herausgeberin des Bandes ist Manja Präkels, die zugleich als Sängerin mit ihrer Band Der singende Tresen wunderbare Vertonungen von Mühsams Gedichten vortrug.
Markus Liske schreibt in seinem Nachwort, Mühsam gehöre gewiss weder zu den größten deutschen Dichtern noch zu den besten Theoretikern des Anarchismus. Seinen Wert mache vor allem die unvergleichliche Einheit von Persönlichkeit, Leben und Werk aus. In der Tat: In dieser Hinsicht lässt sich Mühsam in der deutschen Literaturgeschichte kaum jemand an die Seite stellen. Sein unbeirrbares Verlagen, die literarische Utopie unmittelbar im Leben zu verwirklichen, war romantisch und politisch zugleich. Als sein Hauptwerk werden deshalb vielleicht auch in nicht ferner Zukunft die sensationellen Tagebücher gelten, die von Chris Hirte und Conrad Piens ebenfalls im Verbrecher Verlag herausgegeben werden, aber auch online schon zugänglich sind. Aber fünfzehn Bände liest man nicht mal nebenbei, weswegen sich das neue Lesebuch als Einstieg für Neugierige sehr empfiehlt.
Aus jeder Zeile Mühsams spricht seine Integrität, Toleranz und beinahe naive Menschenfreundlichkeit. „Er war einer der besten und gutmütigsten Menschen, denen ich begegnet bin“, notierte selbst Ernst Jünger. Alle Lebensabschnitte Mühsams sind im Buch gleichgewichtig vertreten: Kabarettistische Glossen und Trinklieder aus der Vorkriegszeit in der Berliner und Münchner Bohème; Berichte über seine Mitwirkung beim scheiternden Versuch, in Bayern eine Räterepublik zu errichten; Tagebuchblätter aus der darauf folgenden Zeit in Festungshaft; Pamphlete aus der anarchistischen Zeitschrift Fanal, in der er in der späten Weimarer Republik die Fassadendemokratie und die sowjet-marxistische Parodie des Kommunismus gleichermaßen attackierte. Nur mit Mühe liest man schließlich die Berichte seiner Frau Zenzl, die erzählt, wie Mühsam in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten buchstäblich zu Tode gefoltert wurde.
Die Lektüre dieser Texte ist keineswegs nur etwas für sentimentale Freunde linker Historie. Mühsam schreibt – in Lyrik wie in Prosa – einen klaren und witzigen, an Heinrich Heine geschulten Stil. Sein alkoholfreies Trinklied namens Der Gesang der Vegetarier kann man noch immer gut an Freunde der Gesinnungsethik schicken, um sie zu ärgern. Seine Betrachtungen zur Stimmzettelbeerdigung in Urnen unter dem Titel Zur Naturgeschichte des Wählers sind gerade heute wieder äußerst lesenswert. Gleiches gilt für sein unsterbliches Porträt des ewigen Sozialdemokraten: Der Revoluzzer. Nichts ist leichter als der Einwurf, wie diese utopische Anarchie denn bitte funktionieren solle. Unsere Gesellschaft funktioniert allerdings reibungslos. Erich Mühsam repräsentiert eine Radikalität im Denken und im Leben, die befreiend schon wirkt, wenn man nur von ihr liest.
Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Hg. von Markus Liske und Manja Präkels. Berlin: Verbrecher Verlag, 2014, 352 Seiten, 16 Euro