Zufällig entdeckte ich in einer Zeitschrift den Hinweis auf eine Veranstaltung: „Jonathan Meese und Durs Grünbein geben eine Pressekonferenz zur Diktatur der Kunst.“ Ich strich mir den Tag rot im Kalender an. Durs Grünbein, der hochdekorierte Großdichter aus Dresden gemeinsam auf einer Bühne mit Jonathan Meese, dem berüchtigten Kunstprovokateur? Das wollte ich mir gerne ansehen.
Der große Saal des Hauses der Berliner Festspiele ist nur spärlich gefüllt, als ich in einen der gepolsterten Sessel sinke. Ein Manifest von Meese und ein Gedicht von Grünbein werden an die Bühnenwand geworfen. In beiden geht es um die Kunst, das Manifest ist stumpf und klar, das Gedicht rätselhaft und fragil. Die zwei Protagonisten betreten den Saal, freundlicher Applaus. Grünbein eröffnet die Pressekonferenz, er zappelt auf seinem Stuhl wie ein Schuljunge und verknotet immer wieder seine dünnen Beine unter dem Tisch. Jonathan Meese trägt eine schwarze Lederjacke, langes schwarzes Haar und verschiedene schwarze Sonnenbrillen, die er in kurzen Abständen wechselt. Er müsse viel leiden für seinen Einsatz für die Diktatur der Kunst, sagt Meese. Er sei auch einsam, denn er habe ja kaum Anhänger. Vor Jahren seien es drei gewesen, heute nur noch zwei. Niemand wolle ihm auf seinem Weg folgen. Und dann verliert Meese sich in eine Vision: Er ist auf einem Schiff unterwegs, einem Schiff der Kunst. Und von den Inseln locken ihn die Stimmen der Sirenen von Politik und Religion. Alle Freunde gehen einer nach dem anderen von Bord, er allein bleibt auf Kurs und der Kunst absolut treu.
Grünbein sagt, er habe noch nicht alles verstanden und stellt Nachfragen. Vor sich auf dem Tisch hat er Notizzettel ausgebreitet, offenbar hat er sich auf eine gemütliche Podiumsdiskussion vorbereitet. Aber Meese achtet nicht weiter auf die Fragen, sondern bricht gleich wieder in eine Predigt aus. Nach wenigen Sätzen schlägt seine etwas quäkige Stimme in Geschrei um. Es klingt, als versuchte Kermit der Frosch sich an einer Imitation von Adolf Hitler. „Der Kunst darf man sich nicht in den Weg stellen!“, brüllt er. „Die Diktatur der Kunst richtet sich gegen die Weltdiktatur der Demokratie! Alle Macht muss von der Kunst ausgehen, nicht vom Volk!“ Und dann zählt er auf, womit Kunst nichts zu tun haben dürfe: mit Politik, mit Religion, aber auch mit Individualität und Kreativität und Freiheit. Alle Parteien seien gleich scheiße, alle Religionen gleich überflüssig. „Bei den Tieren funktioniert es doch auch ohne! Tiere haben keinen Gott, Tiere gehen auch nicht wählen! Sie folgen ihrem Instinkt! Sie sind die wahren Künstler! So müssen wir auch der Kunst gehorchen! Die Kunst gibt Befehle und wir haben zu dienen! Niemand darf mehr wählen gehen, niemand darf mehr beten oder beichten! Das verbietet sich von selbst! Die Kunst ist versachlichte Führung! Das ist die neue Gesellschaftsordnung, die wir brauchen! Das ist doch geil! Das ist doch Wahnsinn! Ich verstehe nicht, warum das nicht alle so geil finden wie ich!“
Es gibt vereinzelte Klatscher im Publikum und vereinzelte Zwischenrufe, aber keine Empörung. Nur einige ältere Herrschaften verlassen den Saal – wahrscheinlich, weil ihr Held Durs Grünbein kaum zu Wort kommt. Der erzählt unterdessen eine Anekdote: Lady Gaga habe sich ein Zitat von Rilke auf den Arm tätowieren lassen, in dem es auch um den absoluten Anspruch der Kunst geht. Aber Meese ist überfordert damit, ein gewöhnliches Gespräch zu führen. Oder er hat keine Lust dazu. Eine junge Frau beschwert sich, dass Meese auf eine E-Mail nicht geantwortet habe. „Das muss ich auch nicht! Du sollst nichts fragen, du sollst strammstehen!“ Der Saal lacht. Dieser Meese hat auch einen unwiderstehlichen Lausbubencharme, der so gar nicht zum Diktator der Kunst passen will. Ist das vielleicht alles nur Spaß? Man weiß es nicht.
Entweder Meese ist die höchste Konsequenz der Avantgarde oder ihre Karikatur. Die Kunst ist ihm das Absolute, sie soll autonom sein und nur ihr eigner Zweck. Aber gleichzeitig soll an der absoluten Kunst auch die Welt genesen, die Realität soll Kunst werden. „Ich will, dass die ganze Welt eine Bühne wird“, sagt Meese. „Wenn heute diese Bühne, auf der wir sitzen, sich nur um fünf Zentimeter ausweitet, haben wir schon viel erreicht.“ Aber für Meese ist die Kunst nichts als die bewusstlose Ordnung der Natur, also liefe so eine Diktatur der Kunst auf die Abschaffung der Zivilisation hinaus. Was Meese sagt, ist so absurd, dass man es nicht ernst nehmen kann. Aber er sagt es mit einem Ernst, der keine Zweifel zulassen will. Meese nimmt einen Standpunkt ein, der so radikal ist, dass er nicht weniger als alles verwerfen kann. Und zugleich spielt er seine Rolle so naiv, dass ihm mit keinem vernünftigen Argument beizukommen ist.
„Es geht auch nicht um mich“, sagt Meese. „Ich habe keine eigene Kunst, ich diene der Kunst. In der Kunst etwas zu können, ist abträglich. Es gibt Leute, die sagen, ich könne gar nicht malen. Natürlich nicht! Warum auch?“ – „Sie sind aber auch arrogant!“, ruft eine Frau aus dem Publikum. „Nein, das kommt Ihnen nur so vor!“, ruft Meese zurück. „Ich muss hier ja auch meine Rolle spielen, damit mir überhaupt jemand zuhört.“ Grünbein will wissen, warum Meese sich denn zur Kunst berufen fühle. „Weil es so leicht ist!“, sagt Meese. „Es ist Instinkt. Malen ist wie Scheißen! Natürlich und notwendig.“
„Ich hab noch ein Geschenk für dich mitgebracht, Urs!“, sagt Meese irgendwann. „Ich meine: Durs – Urs, Durs, Schnurs, egal.“ Meese öffnet seine Tasche und holt zwei kleine Plüschtiere heraus, eine Grille und eine Mücke, die auf Knopfdruck Geräusche von sich geben. „So, und jetzt lese ich noch mein Manifest!“ – „Wollen wir das nicht vielleicht weglassen?“, fragt der sichtlich erschöpfte Grünbein zur Erleichterung des Publikums. „Nein, ich lese das jetzt!“, lehnt Meese ab. „Sie können ja gehen, wenn Sie wollen. Ich lese das ja nicht für Sie, sondern für die Kunst!“ Und so liest er sein Manifest, jeden Punkt mit sadistischer Lust an der Qual mehrfach wiederholend. Traubenweise verlassen Zuschauer den Saal. Als das verbliebene Publikum endlich mit einem stürmischen Schlussapplaus das Ende einfordert, hält Meese noch einmal die Plüschmücke ans Mikrofon und lässt sie summen: „Ist das nicht wahre Kunst?“
Eine kürzere Fassung dieses Berichts erschien bereits in der Sächsischen Zeitung. Der Autor dankt für die Möglichkeit zur Wiederveröffentlichung. Meine wöchentliche Kolumne in der Sächsischen Zeitung kann man immer am Sonnabend im “Magazin” lesen.