Es lebe der Volkstod!

Über Friedrich Nietzsche wissen leider die meisten nicht mehr als: Gott – tot, Weib – Peitsche, Bestie – blond. Doch verdiente Nietzsche es, gerade jetzt, da kleinbürgerliches Ressentiment überall Triumphe feiert, eifrig gelesen zu werden. Er war nicht nur einer der größten Stilisten der deutschen Sprache. Er war in seinen frühen Schriften auch ein radikalaufklärerischer Kritiker des deutschen Spießbürgertums. Erst später umnebelte Größenwahn seinen Geist, seine schon leicht übergeschnappte Vision vom „Übermenschen“ konnten die Nazis dennoch nur mit Hilfe von Fälschungen und Missdeutungen für ihre Ideologie nutzbar machen. In Nietzsches Buch Menschliches, Allzumenschliches finden wir die folgende, heute wieder sehr beachtenswerte Passage:

Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen. — Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Kultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, — diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschließung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Not- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Klassen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man dies einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zusein, mitzuhelfen vermögen. — Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Tatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Kapital, in einem neid- und hasserweckenden Maße zum Übergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt — und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden —, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Konservierung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest.

Der unpatriotische Europäer Nietzsche war vom biologistischen Denken seiner Zeit stark beeinflusst, umso erstaunlicher ist es, dass er in der Terminologie eben dieses Denkens dem damals grassierenden Nationalismus und Antisemitismus widersprach. Nietzsches Prophezeiung einer Vereinigung der Völker hätte sich vielleicht längst erfüllt, wäre die Entwicklung nicht durch die beiden Weltkriege gewaltsam unterbrochen worden. In ihnen tobte sich der Nationalismus noch einmal auf bestialischste Weise aus. Ob dies nur ein letztes Aufbäumen des Nationalismus vor seinem Untergang war, entscheiden die jetzt lebenden Generationen. Es sieht nicht danach aus.

Nietzsches Prophezeiung ist bemerkenswert. Sie spricht nicht von einer Koexistenz der Völker, einem „Europa der Vaterländer“, sondern von einer „Vernichtung“ der Nationen, aber nicht durch Gewalt, sondern durch eine Aufhebung in Vereinigung. Die Prophezeiung scheint mir nicht nur kaum veraltet, sondern noch immer visionär. Viele glauben, es sei im Kampf gegen den völkischen Nationalismus und Rassismus der beste Weg, die Begriffe „Volk“ und „Rasse“ theoretisch zu dekonstruieren. Ich glaube, es ist noch wirkungsvoller, Volk und Rasse praktisch durch eine fröhliche Völkermischung aufzulösen. Jene „liebevolle Verschmelzung der Nationen“, von der schon der Philosoph Friedrich Schlegel träumte, vollzieht sich von ganz allein, wenn die Staaten nicht mit Verboten dazwischenhauen. Sie wird in Deutschland von den Völkischen zur Zeit besonders gerne als „Volkstod“ bezeichnet. Der „Volkstod“ ist der ewige Alptraum der Rassisten – sehen wir zu, dass dieser Traum wahr wird! Machen wir alle Grenzen durchlässig, sodass die Kinderlein zu- und miteinander kommen können! Jene „durchmischte und durchrasste Gesellschaft“, die den jungen Edmund Stoiber in Angst und Schrecken versetzte, die brauchen wir!

Ein Land, in dem niemand mehr allein wegen seines Äußeren als „normal“ oder „fremd“ gelten könnte, wäre glücklicher als wir. Der Staat, der diesem Ideal am nächsten kommt, sind heute die USA. In dieser Gesellschaft, die fast ausschließlich aus Einwanderern und ihren Nachkommen besteht, gibt es zwar auch schlimmsten Rassismus, besonders gegen die Nachkommen der Sklaven. Aber seit alle Amerikaner wählen dürfen, ist offener Rassismus zumindest nicht mehr mehrheitsfähig. Und seit die Rassen nicht mehr gewaltsam getrennt werden, verschwimmen langsam auch die Grenzen zwischen ihnen. Deswegen kämpfen völkische Nationalisten mit allergrößter Wut immer gegen zwei Dinge: das Wahlrecht für alle und die Mischehe. Inzwischen kämpfen sie erfreulicherweise meist auf verlorenem Posten. Die USA sind der „Völkermischmasch“, den die Völkischen, auch jene der neuen „Querfront“, am erbittertsten hassen. Mag uns der amerikanische Kapitalismus auch suspekt sein, als praktisches Beispiel für einen Vielvölkerstaat sind die USA trotz aller ihrer Gebrechen unersetzlich.

Warum nur demonstrieren bei den Märschen in Ostdeutschland gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ und gegen „Überfremdung“ vor allem Männer? Und warum ist das schlimmste Schreckbild dieser Männer der „allein reisende junge Südländer“? Mit Hilfe von Friedrich Nietzsche kommen wir diesem psychologischen Rätsel auf die Spur. Die stachelköpfigen Funktionsjackenträger, die da auf die Straße gehen, haben die nicht unbegründete Angst, ihre Frauen und Töchter könnten Gefallen an den exotischen Fremden finden. Das geben sie freilich nicht zu, stattdessen warnen sie, diese Ausländer seien ja alle potenzielle Vergewaltiger. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass eine deutsche Frau sich freiwillig dem erotischen Reiz der deutschen Biedermänner entziehen könnte! Aber so etwas soll schon mal passieren. Sind doch jetzt schon in vielen Regionen Ostdeutschlands die Männer beinahe unter sich, weil viele agile Frauen sich in die überfremdeten Großstädte oder ganz ins Ausland verabschiedet haben! Volkstum und Heimat gut und schön, aber jeden Abend an der Bushaltestelle besoffen Frei.Wild hören, das ist für die meisten jungen Frauen nicht eben sehr verlockend. Vielleicht kämpft Lutz Bachmann gegen die Überfremdung auch deswegen so entschieden, weil er als ehemaliger Ludenbüttel die schlimme Not vereinsamter Volksdeutscher besonders gut kennt.

Sollte die völkische Idiotie irgendwann einmal überwunden sein, was allerdings so schnell nicht zu erwarten ist, werden gewiss neue Formen der Menschenfeindlichkeit an ihre Stelle treten. Aber damit müssen sich dann unsere scheckigen Enkel herumärgern.

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Kommentare
  1. Hugo

    Fortwährende Bildung, dabei genüssliche Unterhaltung kombiniert mit politischen Bausteinen und/oder Anregungen – Herr Bittner, ich danke Dir für diese Insel schöner Worte im Netz. Für die Vermischung!

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  2. Pflaster Stein

    Fallen die Grenzen, fallen auch die Nationen und stellen dem kulturellen Genozid ein Einfallstor bereit. Die Verschiebung des geopolitischen und geokulturellen Gefüges durch massenhafte Migration ist im allgemeinen Tenor ganz übereinstimmend mit dem des hegemonialen Leitgedankens. Die EU und andere Organisationen der politischen Gleichschaltung sind dabei, die Errichtung einer Oberhoheit im Sinne einer Autokratie zu installieren. Die unabdingbare Souveränität der Völker ist die einzig wirksame Waffe gegen den Imperialismus.

    Querlesen: http://www.neopresse.com/gesellschaft/anotherview/kommentar-kann-die-linke-heute-noch-die-nationale-frage-bedienen/

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  3. WanderingStar

    Sehr geehrter Herr Pflasterstein!

    Ein guter Psychotherapeut könnte ihnen dabei helfen die Grenzen in ihrem Kopf aufzulösen. Sie würden dabei den angenehmen Nebeneffekt verspüren, dass interkulturelle Kommunikation gar nicht weh tut und doch sehr angenehm sein kann ;-)
    Ihr Geschreibsel vom „kulturellen Genozid“ finde ich, mit Verlaub, völligen Schwachsinn!

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  4. kastkommentaro

    „Warum nur demonstrieren bei den Märschen in Ostdeutschland gegen die “Islamisierung des Abendlandes” und gegen “Überfremdung” vor allem Männer?“
    warum denn nur?
    deshalb: „Sind doch jetzt schon in vielen Regionen Ostdeutschlands die Männer beinahe unter sich,“
    oder deshalb: „haben die nicht unbegründete Angst, ihre Frauen und Töchter könnten Gefallen an den exotischen Fremden finden“

    weil es in Ostdeutschland keine Frauen mehr gibt, gehen die Männer auf die straße, denn sie haben angst vor den sexeull attraktiven Ausländern, welche ihnen die Frauen nicht mehr wegnehmen können? oder sind die Demonstranten die letzten ostdeutschen, die noch Weibchen besitzen?

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    • Michael Bittner

      Der Einwand wäre treffend und witzig, wenn ich behauptet hätte, es gäbe in Ostdeutschland keine Frauen mehr. Ich habe aber nur bemerkt, dass vielerorts Frauenmangel herrscht, der sich noch zu verschlimmern droht. Und da kann Verlustangst und Sexualneid natürlich auch bei Männern aufkommen, die im Moment noch eine Frau haben. Aber dass Lutz Bachmann immer genügend Frauen zur Verfügung stehen werden, das glaube ich! Es soll sogar eine geben, die eigens aus Hamburg übersiedelt!

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  5. kastkommentaro

    nach ihrem text sind Männer in vielen Regionen Ostdeutschlands beinahe unter sich und bei märschen in Ostdeutschland marschieren hauptsächlich Männer.
    wenn ich ihren text als Grundlage nehme, wundert mich der männerüberschuß beim marschieren nicht. dann wäre natürlich ihre argumentationskette fraglich, aber das würde mich nicht stören.

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