Der gegenwärtige Papst, geheißen Franziskus, ist ein bescheidener und sympathischer Mann. Ich wundere mich, wie es einigen Politaktivisten und Kabarettisten gelingt, ihn trotzdem zu hassen. Bei den Atheisten unter ihnen mag da der alte protestantische Hochmut gegen die rückständigen Römlinge nachwirken. Auf der anderen Seite hat Franziskus aber auch unter Linken eine merkwürdig große Anhängerschaft gewonnen, fast so, als wäre Karl Marx zum Papst gewählt worden. Ich selbst fühle mich dagegen eher unbefangen. Wenn der Papst etwas Vernünftiges über die soziale Frage sagt, freue ich mich. Wenn er etwas Unvernünftiges über die Züchtigung von Kindern sagt, ist es mir egal. Ich bin ja kein Katholik, der gezwungen wäre, auf die Anweisungen des Bischofs von Rom zu hören. Jüngst erfuhr ich nun, der Papst habe eine Enzyklika zur ökologischen Frage veröffentlicht und wolle sich damit „an jeden Menschen wenden, der auf diesem Planeten wohnt.“ Da wurde ich neugierig. Auf diesem Planeten wohne ich auch, also möchte der Papst offenbar auch mit mir ins Gespräch kommen. Warum also nicht mal hören, was der Papst mir zu sagen hat?
Diese Enzyklika ist schon ein eigenartiger Text: eine Dreifaltigkeit aus politischem Manifest, ökologischer Bestandsaufnahme und spiritueller Erbauungsschrift. Kampfrufe nach Gerechtigkeit stehen neben ermüdenden Aufzählungen von Studienergebnissen und Bibelzitaten über den Wert des lieben Viehs. Doch wer geduldig im Text stöbert, der stößt auf ganz beachtliche Aussagen. So findet sich die Einsicht, dass die Umweltzerstörung direkt mit der gesellschaftlichen Ungleichheit zusammenhängt:
Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise.
Wir kommen jedoch heute nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.
Und obwohl das Wort „Kapitalismus“ ängstlich vermieden wird, klingt es doch beinahe marxistisch, wenn Franziskus die Übel der verkehrten Welt auf „ein strukturell perverses System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen“ zurückführt. Der Papst beklagt die ökonomische Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften, noch mehr aber zwischen den Staaten:
Wir wissen, dass das Verhalten derer, die mehr und mehr konsumieren und zerstören, während andere noch nicht entsprechend ihrer Menschenwürde leben können, unvertretbar ist. Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt eine gewisse Rezession zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann.
Die Menschen der reichen Länder sollen also auf Wohlstand verzichten, die Wirtschaft der Industriestaaten soll nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen! Die Begeisterung vieler Fans des Papstes in der Ersten Welt dürfte nachlassen, wenn ihnen diese Forderung nach globaler Umverteilung zu Ohren käme. Solidarität gut und schön, aber der Spaß hört auf, wenn mir jemand mein Smartphone wegnehmen möchte!
Was ist nun aber in den Augen des Papstes die Wurzel des Übels? Geklagt wird im Text öfter über das „Paradigma der Technokratie“, die rücksichtslose Beherrschung und Ausbeutung der Natur. Dass Technik nicht an sich verwerflich ist, weiß der Papst aber natürlich auch. Eine schlüssige Unterscheidung zwischen guter und schlechter Technik bietet der Text nicht, was nicht verwundert, denn technische Mittel befinden sich prinzipiell jenseits von Gut und Böse, auf den Zweck ihres Gebrauchs kommt es an. So gelangt der Papst denn auch zur Kritik am ökonomischen „Ziel der Gewinnmaximierung“, das dem „Prinzip des Gemeinwohls“ widerspreche:
Der Markt von sich aus gewährleistet aber nicht die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und die soziale Inklusion.
Die Ressourcen der Erde werden auch geplündert durch ein Verständnis der Wirtschaft und der kommerziellen und produktiven Tätigkeit, das ausschließlich das unmittelbare Ergebnis im Auge hat.
Aufzuhören, in die Menschen zu investieren, um einen größeren Sofortertrag zu erzielen, ist ein schlechtes Geschäft für die Gesellschaft.
In der Tat! Aber was tun? Müsste man etwa die Produktionsmittel gesellschaftlich kontrollieren, auf globaler Ebene womöglich? Nein, gar so weit will Franziskus nicht gehen. Er bleibt in den Bahnen der guten alten katholischen Soziallehre und appelliert ans christliche Gewissen der Unternehmer:
Die Unternehmertätigkeit, die eine edle Berufung darstellt und darauf ausgerichtet ist, Wohlstand zu erzeugen und die Welt für alle zu verbessern, kann eine sehr fruchtbringende Art und Weise sein, die Region zu fördern, in der sie ihre Betriebe errichtet, vor allem wenn sie versteht, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen ein unausweichlicher Teil ihres Dienstes am Gemeinwohl ist.
Aber leider, leider ist weder die Schaffung von Arbeitsplätzen noch der Dienst am Gemeinwohl unausweichlich, ganz im Gegensatz zum „Ziel der Gewinnmaximierung“. Das Streben nach dem größtmöglichen Profit ist das Prinzip des Kapitalismus, und dies nicht aufgrund der Gier oder Böswilligkeit der Unternehmer, sondern aus Notwendigkeit. Wer keinen Profit erwirtschaftet, geht pleite oder wird geschluckt. Für jeden Aussteiger aus dem kapitalistischen Kampf ums Dasein findet sich ein Ersatz. Darum sind alle moralischen Appelle an die Haie, sie mögen sich doch bitte in Zukunft von Seegras ernähren, nichts als vergebliche Liebesmüh. Der Kapitalismus wird die Früchte der Erde so lange erst in Waren und dann in Müll verwandeln, bis die Erde ausgequetscht ist wie eine Zitrone.
Ist es realistisch zu hoffen, dass derjenige, der auf den Maximalgewinn fixiert ist, sich mit dem Gedanken an die Umweltauswirkungen aufhält, die er den kommenden Generationen hinterlässt?
Nein, es ist nicht realistisch, dies zu hoffen. Und doch will der Papst die Hoffnung nicht begraben, die Kapitalisten durch gutes Zureden zum Besseren zu bekehren. Für ihn ist der Kern des Problems naturgemäß gar nicht materiell, sondern spirituell. Wir hören die altbekannten katholischen Klagen über den fatalen „Individualismus“, über den „modernen Anthropozentrismus“ und über eine „Kultur des Relativismus“. Kurz: Das Problem wird vom Politischen doch wieder ins Moralische verschoben. Und wo es an Moral fehlt, da muss natürlich nach der Religion gerufen werden. So ist das Grundübel schließlich doch wieder
die Idee, dass es keine unbestreitbaren Wahrheiten gibt, die unser Leben lenken, und deshalb der menschlichen Freiheit keine Grenzen gesetzt sind.
Wo aber finden wir sie nur, die absoluten Wahrheiten? Man ahnt es.
Die beste Art, den Menschen auf seinen Platz zu verweisen und seinem Anspruch, ein absoluter Herrscher über die Erde zu sein, ein Ende zu setzen, besteht darin, ihm wieder die Figur eines Vaters vor Augen zu stellen, der Schöpfer und einziger Eigentümer der Welt ist. Denn andernfalls wird der Mensch immer dazu neigen, der Wirklichkeit seine eigenen Gesetze und Interessen aufzuzwingen.
Der liebe Gott also ist der Eigentümer der Erde und hat sie nur an uns vermietet? Und das soll uns dazu bringen, sie möglichst schonend zu behandeln? Als ob nicht jeder Mieter schlampiger mit seiner Wohnung umgeht als ein Eigentümer, eben weil sie ihm nicht gehört und er nur übergangsweise in ihr haust! Das Christentum hat mit seiner Lehre, die Erde sei nur Durchgangsstation zum Himmel, die Leichtfertigkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen ganz gewiss nicht wenig befördert. Befiehlt nicht gar der Gott der Bibel den Menschen, sich die Erde „untertan“ (1. Mose 1,28) zu machen, sie also zu beherrschen und auszubeuten? Aber nein: „Das ist keine korrekte Interpretation der Bibel, wie die Kirche sie versteht.“ Na dann.
Auch der Bischof von Rom ist nur ein Priester. Wenn vor Jahrhunderten irgendwo ein Erdbeben, eine Sturmflut oder eine Feuersbrunst wütete, dann trat gewiss ein Priester auf, der in der Katastrophe eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen sah und sie zur reuigen Rückkehr in den Schoß der Kirche aufrief. So benutzt nun auch Franziskus die Umweltkatastrophen der Gegenwart, um verirrte Schäfchen wieder in den Stall des alten Glaubens zu treiben. Der Klimawandel erlaubt es, mit einer neuen Sündflut zu drohen. Immerhin, so muss man billigerweise einräumen, hält Franziskus es nicht für unmöglich, dass auch ungläubigen Menschen die „ökologische Umkehr“ gelingt, dies sei nur „nicht leicht“.
Was in dieser Enzyklika vernünftig ist, stammt aus den Erkenntnissen der Wissenschaft und den Erfahrungen der sozialen Bewegungen. Was die Religion beiträgt, ist hingegen überflüssig oder Unsinn. Kann die Enzyklika dennoch nützlich sein? Gewiss. Sie kann wissenschaftliche Einsichten an jene vermitteln, sie sich nur von Priestern belehren lassen. Sie kann jene zu richtigem Handeln bewegen, die dazu Befehle eines unsichtbaren Weltherrschers nötig haben. Alle anderen Menschen muss sie nicht weiter kümmern.