Es ist nicht schwer, aus dem Rückblick Voraussagen zu machen. Allzu leicht ist es deswegen auch, in Mein Kampf schon deutliche Hinweise auf Hitlers spätere Verbrechen zu entdecken. Der Verführung zur nachträglichen Besserwisserei sollte man widerstehen. Dennoch kann man die Verbindungen zwischen politischem Entwurf und späterer Praxis auch nicht ignorieren, denn das Bestürzende am Phänomen Hitler ist ja, dass hier ein Mann ein Vernichtungsprogramm erst offen präsentierte und dann zum Erstaunen der Welt auch konsequent umsetzte. Die Lächerlichkeit, der Irrsinn und die Bösartigkeit dieses Programms wurden durchaus schon von zeitgenössischen Beobachtern wahrgenommen. Erledigung Hitlers nannte ein Journalist gar seine Besprechung des Buches. Aber Hitler war weder durch rationale Kritik noch durch satirischen Spott zu erledigen. Der Erfolg selbst schien ihm recht zu geben und überwältigte schließlich die Mehrheit der Deutschen, die sich für ihn begeisterte oder sich zumindest mit ihm abfand. Und dies bestätigte wiederum in fataler Weise Hitler, der davon ausging, dass wichtige Fragen nicht durch die Vernunft, sondern allein „durch die Gewalt und – den Erfolg“ entschieden werden. Werfe ich nun einen Blick auf die erfolgreichen Populisten unserer Gegenwart, denen ebenfalls unablässig Irrtümer und Lügen nachgewiesen werden, ohne dass es ihnen in der Gunst der Massen schadete, dann wird mir trüb zumute.
Im dritten Kapitel seines Buches präsentiert der Autor einige politische Lehren, die er aus den Erfahrungen seiner Wiener Zeit gewonnen haben will. Als völkischer Nationalist hasst er selbstverständlich den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und die Herrscher dieses „Völkerbabylons“, die Habsburger. Die „Entdeutschung“ dieses Staates erscheint ihm als Grundübel. Nur die Einheit des Blutes kann in seinen Augen einen echten „Volksstaat“ begründen. Wie aber soll so ein Staat regiert werden?
In einer langen Suada attackiert Hitler die liberale, repräsentative, parlamentarische Demokratie nach dem Modell des Westens. Solche Kritik war schon damals nicht originell, denn der Parlamentarismus war immerzu Angriffen von rechts wie von links ausgesetzt. Gerade in Deutschland wurde, wie etwa Heinrich Mann beklagte, die repräsentative Demokratie schon verspottet und verachtet, bevor sie überhaupt errungen war. Die konservative Kritik stellte die Fähigkeit der ungebildeten und wankelmütigen Masse in Frage, die richtigen Repräsentanten zu wählen. Die sozialistische Kritik monierte vor allem den übergroßen Einfluss von ökonomisch Mächtigen auf die vorgeblich dem Volk verpflichteten Abgeordneten. Hitlers Kritik kommt von rechts. Und sie ist dabei – verglichen etwa mit der Parlamentarismus-Kritik von Carl Schmitt oder Oswald Spengler – außerordentlich dumpf formuliert. Hitler verachtet die Herrschaft der repräsentativen Mehrheit, weil er die Mehrheit der Menschen, ja im Grunde alle Menschen verachtet. Die Masse ist in seinen Augen dumm, feig und träge. Deswegen sind auch die von der Mehrheit gewählten Abgeordneten nur eine „Hammelherde von Hohlköpfen“. Das „politische Verständnis der breiten Masse“ sei
gar nicht so entwickelt […], um von sich aus zu bestimmten allgemein politischen Anschauungen zu gelangen und die dafür in Frage kommenden Personen auszusuchen.
Mit seinen vor allem von Ressentiment befeuerten Attacken könnte Hitler jedoch ohne Zweifel auch heute noch Leute begeistern. Die „Politiker“ hielt er für eine
Sorte von Menschen, deren einzige wirkliche Gesinnung die Gesinnungslosigkeit ist, gepaart mit frecher Aufdringlichkeit und einer oft schamlos entwickelten Kunst der Lüge.
Welches deutsche Kabarettpublikum unserer Tage applaudierte da nicht? Es sind ziemlich heikle und ziemlich aktuelle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Verwandelt sich nicht auch heute die Kritik an korrupten Politikern schnell in eine Ablehnung der Demokratie? Neigen nicht auch wir dazu, die Mehrheit zu verachten, wenn sie bei Wahlen und Abstimmungen nicht unserer eigenen politischen Anschauung folgt? Aber sind denn Politiker nicht auch oft wirklich verlogen? Und die Leute nicht wirklich oft gar zu blöd? Ich fürchte, der Weg zur Sympathie mit der Diktatur ist gar nicht so weit, gleichgültig aus welcher politischen Richtung man kommt.
Heute erschallt in Deutschland wieder einmal der Ruf nach „direkter Demokratie“, welche die korrupte und volksfeindliche westliche Demokratie ablösen soll. Vielleicht hat Hitler ja eine passende Idee? Ihm schwebt eine „germanische Demokratie“ vor. Es gibt in der deutschen Geistesgeschichte eine reiche, vom Kommentar der neuen kritischen Ausgabe leider hier nicht erwähnte Tradition der „germanischen Freiheit“, die auf die Berichte des Tacitus über die alten Germanen zurückgeht. Diese „Germanorum libertas“ bestand angeblich in der Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen und der Wahl der Anführer, aber auch in der Unabhängigkeit von Fremden und der Reinheit des Blutes. Im 19. Jahrhundert wurde diese völkische Gemeinschaftsidee in Deutschland zunehmend gegen die westliche Demokratie ausgespielt. (Näheres kann man z.B. bei Klaus von See nachlesen.) Hitler kannte von dieser Debatte vermutlich wie so oft nur Schlagwörter. Aber die setzte er geschickt ein. Die „wahrhaftige germanische Demokratie“ besteht nach ihm in
der freien Wahl des Führers, mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen. In ihr gibt es keine Abstimmung einer Majorität zu einzelnen Fragen, sondern nur die Bestimmung eines einzigen, der dann mit Vermögen und Leben für seine Entscheidung einzutreten hat.
Amüsant ist es zu sehen, wie Hitler genau wie die von ihm verachteten „Politiker“ von der Last der „Verantwortung“ spricht, wenn er den Genuss der Macht meint. Ansonsten scheint die „germanische Demokratie“ auf eine Art von Wahldiktatur hinauszulaufen. Doch hatte Hitler seltsamerweise ein paar Seiten zuvor noch Folgendes erklärt:
Eher geht auch ein Kamel durch ein Nadelöhr, ehe ein großer Mann durch eine Wahl „entdeckt“ wird.
Hielt Hitler sich also gar nicht für einen großen Mann und die Leute für dumm genug, trotzdem einen Hitler zu wählen? Nein, vermutlich dachte er anders. Die „Wahl“ des Führers war für ihn gar keine Abstimmung des Volkes, sondern eine Wahl des Schicksals. Der „aristokratische Grundgedanke der Natur“ sollte den Ausschlag geben, die natürliche Auslese die Wahl treffen. Derjenige, der stark, brutal und rücksichtslos genug war, um die Herrschaft zu erringen, der hatte sie auch verdient. Die gewaltsame Herrschaft war für Hitler die eigentlich legitime. Wer die Macht errang, der hatte auch das Recht, unumschränkt zu befehlen, seine persönliche Weltanschauung durchzusetzen und alle Gegner zu vernichten.
Der oberflächliche Betrachter konnte allerdings den Eindruck gewinnen, Hitlers „germanische Demokratie“ erfülle bloß die alte Sehnsucht der Deutschen nach dem starken Mann, dem überparteilichen Führer, der das ganze Volk verkörpert. Dass Hitler sich später seine eigene Herrschaft noch durch Volksabstimmungen bestätigen ließ, die am Anfang auch nicht ganz und gar gefälscht waren, diente vor allem der Propaganda. Seltsam übrigens, dass diese Tradition direkter Demokratie in Deutschland von ihren Verfechtern so selten erwähnt wird.
***
Mein Kampf mit Mein Kampf (2): Im Elternhaus
Mein Kampf mit Mein Kampf (3): Wiener Lehr- und Leidensjahre (1)
Mein Kampf mit Mein Kampf (4): Wiener Lehr- und Leidensjahre (2)
Mein Kampf mit Mein Kampf (5): Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (6): München
Mein Kampf mit Mein Kampf (7): Der Weltkrieg
Mein Kampf mit Mein Kampf (8): Kriegspropaganda
Mein Kampf mit Mein Kampf (9): Die Revolution
Mein Kampf mit Mein Kampf (10): Beginn meiner politischen Tätigkeit
Mein Kampf mit Mein Kampf (11): Die Deutsche Arbeiterpartei
Mein Kampf mit Mein Kampf (12): Ursachen des Zusammenbruches
Mein Kampf mit Mein Kampf (13): Volk und Rasse
Mein Kampf mit Mein Kampf (15): Weltanschauung und Partei
Mein Kampf mit Mein Kampf (16): Der Staat
Mein Kampf mit Mein Kampf (17): Staatsangehöriger und Staatsbürger
Mein Kampf mit Mein Kampf (18): Persönlichkeit und völkischer Staatsgedanke
Mein Kampf mit Mein Kampf (19): Weltanschauung und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (20): Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede
Mein Kampf mit Mein Kampf (21): Das Ringen mit der roten Front
Mein Kampf mit Mein Kampf (22): Der Starke ist am mächtigsten allein
Mein Kampf mit Mein Kampf (23): Grundgedanken über Sinn und Organisation der S.A.
Mein Kampf mit Mein Kampf (24): Der Föderalismus als Maske
Mein Kampf mit Mein Kampf (25): Propaganda und Organisation
Mein Kampf mit Mein Kampf (26): Die Gewerkschaftsfrage
Mein Kampf mit Mein Kampf (27): Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege
Mein Kampf mit Mein Kampf (28): Ostorientierung oder Ostpolitik
Mein Kampf mit Mein Kampf (29): Notwehr als Recht
***
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermeyer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel unter Mitarbeit von Pascal Trees, Angelika Reizle und Martina Seewald-Mooser. Zwei Bände. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 4., durchges. Aufl. 2016
Die Lektüre von „Mein Kampf mit Mein Kampf“ macht einem Hitler regelrecht unsympathisch.