Immerhin eines haben die verfeindeten politischen Lager in den Staaten des Westens noch gemeinsam: Linke wie Rechte fühlen ein Unbehagen angesichts des Abgrundes, der sich da innerhalb der Gesellschaften auftut. Zumindest in den Reihen der Linken mehren sich auch die Bemühungen, die gegnerische Seite erst einmal zu verstehen, ohne vorschnell zu verurteilen oder nur zu belehren. Denn unter den Wählern der Rechtspopulisten finden sich auch viele Arbeiter, deren Vertretung früher Sache der Linken war. Warum haben sie die Seiten gewechselt? Wie lassen sie sich zurückgewinnen?
Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat mit dem Buch „Fremd in ihrem Land“ den Versuch unternommen, die „Empathiemauer“ zu überwinden. Hochschild, die lange an der traditionell linken Universität Berkeley in Kalifornien lehrte, nahm für ihr Projekt einigen Mühen auf sich. Fünf Jahre lebte sie zeitweise in Louisiana, tief im konservativen Süden der USA, sprach mit Anhängern der Tea-Party-Bewegung, besuchte Gottesdienste und Familienfeiern, schließlich auch eine Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump. Mehr als 4000 Seiten an Interviews hatte Hochschild am Ende zusammengetragen, mit vielen ihrer Gesprächspartner freundete sie sich trotz aller politischen Gegensätze an. In ihrem Buch erzählt sie nur vom Schicksal einiger ausgewählter Protagonisten. Auf diese Weise gelingt es ihr mit literarischem Geschick, auch bei den Lesern Sympathie für diese Menschen zu wecken.
Ausgangspunkt der Autorin ist ein „großes Paradox“: Warum wählen weiße Amerikaner der Arbeiter- und Mittelklasse so oft die Republikaner, deren Politik doch vor allem an den Interessen der Vermögenden und Kapitalisten dient? In Louisiana zeigt sich dieser Widerspruch besonders drastisch: Hochschild erzählt von Menschen, die ihr Haus und ihre Gesundheit eingebüßt haben, weil Öl- und Chemiekonzerne rücksichtslos die Umwelt zerstörten. Dieselben Menschen unterstützen aber Politiker, die sich für die Abschaffung von Umweltbehörden und die Lockerung von ökologischen Vorschriften einsetzen. Ein Mann wie Mike Schaff, eine der zentralen Figuren des Buches, engagiert sich sogar zugleich gegen Umweltverschmutzung und für die Tea Party, die staatlichen Umweltschutz als Kommunismus verdammt.
Der deutsche Leser lernt bei der Lektüre dieser Geschichten zunächst, dass es einen einzigen globalen Rechtspopulismus nicht gibt. Von den deutschen Verhältnissen unterscheiden sich die amerikanischen trotz mancher Gemeinsamkeiten erheblich, die Rechte in den USA funktioniert anders als die in Europa. Eine viel größere Rolle spielen nicht nur christliche „Familienwerte“, sondern auch eine eingefleischte Staatsfeindlichkeit, die jede Maßnahme der Bundesregierung in Washington als Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrnimmt. Hinzu kommt die Geschichte der Sklaverei in den Südstaaten: Die überwiegend arme weiße Bevölkerung zog hier ihren Stolz lange daraus, wenigstens noch über den Schwarzen zu stehen. Den Reichen gegenüber empfanden sie nicht Hass, sondern Bewunderung, so wie heute für Donald Trump. Die Durchsetzung der Bürgerrechte auch für Minderheiten empfinden noch immer viele Weiße in den Südstaaten, wo seit den sechziger Jahren die treusten Wähler der Republikaner wohnen, als Bevormundung des Nordens.
Erhellend auch für Europäer ist Hochschilds Einsicht, dass die Zugehörigkeit zu politischen Bewegungen, anders als Linke oft meinen, weniger von ökonomischen Interessen als von Gefühlen und Geschichten abhängt. Hochschild hat eine „Tiefengeschichte“ entworfen, in der sich ihre Gesprächspartner wiedererkannten, weil sie ihre „gefühlte Wirklichkeit“ treffend beschrieben sahen: „Du wartest geduldig in einer langen Schlange, die wie bei einer Wallfahrt auf einen Berg führt. … Gleich hinter der Bergkuppe befindet sich der amerikanische Traum, das Ziel aller, die in der Schlange warten. … Die Sonne brennt, und die Schlange rührt sich nicht vom Fleck. Oder bewegt sie sich sogar rückwärts? … Du siehst, wie Leute sich vordrängen! Du hältst dich an die Regeln, sie nicht. … Schwarze, Frauen, Einwanderer … Ein Mann beaufsichtigt die Schlange … Sein Name ist Barack Hussein Obama. Hey – du siehst, wie er den Vordränglern winkt. Er hilft ihnen und hat für sie besondere Sympathien, die er für dich nicht aufbringt.“
Geschichten wie diese schlummern gewiss auch auf dem Seelengrund vieler Deutscher. Auch sie haben das Gefühl, „ältere weiße Männer“ seien inzwischen zur vernachlässigten, ja unterdrückten Minderheit geworden, zu „Fremden im eigenen Land“. Diese Selbststilisierung zum Opfer hat mit den Tatsachen nur bedingt etwas zu tun, viel aber mit verletzten Gefühlen des Stolzes und fehlender Anerkennung. Daraus lassen sich Lehren ziehen: Wer die Mehrheit zurückgewinnen will, sollte es vermeiden, nur als Lobbyist von Minderheiten wahrgenommen zu werden. Und wer die Arbeiter ansprechen will, sollte zuerst einmal die Arbeit würdigen, die geleistet wird, bevor er Utopien des bedingungslosen Einkommens entwirft.
Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt: Campus, 2017
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Diese Rezension erschien zuerst in der Sächsischen Zeitung.
Zitat: „Erhellend auch für Europäer ist Hochschilds Einsicht, dass die Zugehörigkeit zu politischen Bewegungen, anders als Linke oft meinen, weniger von ökonomischen Interessen als von Gefühlen und Geschichten abhängt.
[…]
,Du wartest geduldig in einer langen Schlange, die wie bei einer Wallfahrt auf einen Berg führt. … Gleich hinter der Bergkuppe befindet sich der amerikanische Traum, das Ziel aller, die in der Schlange warten. … Die Sonne brennt, und die Schlange rührt sich nicht vom Fleck. Oder bewegt sie sich sogar rückwärts? … Du siehst, wie Leute sich vordrängen! Du hältst dich an die Regeln, sie nicht. … Schwarze, Frauen, Einwanderer … Ein Mann beaufsichtigt die Schlange … Sein Name ist Barack Hussein Obama. Hey – du siehst, wie er den Vordränglern winkt. Er hilft ihnen und hat für sie besondere Sympathien, die er für dich nicht aufbringt.‘“
Ist das Bild erhellend, obwohl es die Realität womöglich gar nicht richtig widerspiegelt und gibt es denn den amerikanischen Traum überhaupt? Das würde ja bedeuten, dass jeder Amerikaner ein Millionär ist, der nur vorübergehend mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Vielmehr ist es doch so, dass nicht jeder reich werden kann, insbesondere nicht, wenn er oder sie im Niedriglohnsektor arbeitet und sich mit mindestens zwei Jobs über Wasser halten muss.
Mein Eindruck ist, dass sich viele republikanische Wähler aus den unteren Einkommensschichten leicht mit Themen, die sie eigentlich nichts angehen, wie Abtreibung und Homoehe, von den Themen, die sie betreffen, ablenken lassen. Zumindest ist es doch widersprüchlich, einerseits stets von Freiheit zu palavern, aber andererseits anderen Menschen Vorschriften zu machen, wen sie heiraten dürfen und ob sie ein Kind austragen sollen oder nicht.
Ein Beispiel sind die Gouverneurswahlen 2015 in Kentucky: Dort siegte der Republikaner Matt Bevin, der versprochen hatte, die Landesmittel für das Medicaid-Programm enorm zu kürzen und das landesweite Kynect-Krankenversicherungsprogramm abzuschaffen. Gerade in Countys, in denen ein hoher Anteil der Menschen auf Medicaid bzw. Kynect angewiesen war, hatte Bevin hohe Stimmenanteile erhalten: „,Ehrlich gesagt sind viele Menschen in Owsley County zur Wahl gegangen, um gegen Homoehe und Abtreibung zu stimmen, und haben dadurch, so befürchte ich, für die Abschaffung ihrer Krankenversicherung gestimmt‘, so Turner. ,Das war zwar ihr gutes Recht, denke ich. Dennoch ist es traurig. Viele Menschen hier nahmen am Kynect-Programm teil, und das war für sie eine echte Hilfe, ein wahrer Segen.‘“
(“‘To be honest with you, a lot of folks in Owsley County went to the polls and voted against gay marriage and abortion, and as a result, I’m afraid they voted away their health insurance,’ Turner said. ‘Which was their right to do, I guess. But it’s sad. Many people here signed up with Kynect, and it’s helped them, it’s been an absolute blessing.’” – Quelle: http://www.kentucky.com/news/politics-government/article45093165.html )
Selbst wenn jemand versucht, wie Hochschild, „die Empathiemauer zu überwinden“, lassen die Äußerungen der Protagonisten einen doch ratlos zurück. Insbesondere das in den USA verbreitete Narrativ vom bösen Staat, der angeblich mit seinen Sozialprogrammen faule Menschen unterstützt, ist nach wie vor ziemlich infam.
Ja, es ist in der Tat deprimierend, das paradoxe, zum Teil selbstschädigende Verhalten dieser Menschen zu beobachten. Das Buch von Hochschild kann es aber zumindest teilweise etwas verständlicher machen. Da sind zum einen die christlichen Werte, die – in einem bestimmten, oft zweifelhaften Verständnis – die einfachen Leute an die Rechte fesseln. Zum anderen spielt aber auch der Stolz eine große Rolle: Die weißen Arbeiter auf dem Land beziehen ihn oft daraus, staatliche Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen, obwohl sie diese gut brauchen könnten. So können sie sich zumindest von den sozial noch weiter unten stehenden Schichten abgrenzen.
Ähnliche Erscheinungen gibt es in Deutschland in kleinerem Maßstab ja auch: Arbeiter, die frustriert über ihre schlechte Bezahlung und ihre unwürdigen Arbeitsbedingungen sind, den Zorn aber nicht an ihren Chefs auslassen, sondern an den vermeintlichen Schmarotzern, die sich auf Staatskosten ein schönes Leben machen.
Zitat: „Das Buch von Hochschild kann es aber zumindest teilweise etwas verständlicher machen. Da sind zum einen die christlichen Werte, die – in einem bestimmten, oft zweifelhaften Verständnis – die einfachen Leute an die Rechte fesseln. Zum anderen spielt aber auch der Stolz eine große Rolle: Die weißen Arbeiter auf dem Land beziehen ihn oft daraus, staatliche Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen, obwohl sie diese gut brauchen könnten. So können sie sich zumindest von den sozial noch weiter unten stehenden Schichten abgrenzen.“
Aber bringt das diejenigen, die über eine Lösung dieser paradoxen Situation nachdenken, weiter? Die Erkenntnisse klingen jetzt nicht unbedingt neu für mich. Es gibt nämlich ein Zitat, das Lyndon B. Johnson zugeschrieben wird, das eben letztere Erkenntnis beschreibt: „If you can convince the lowest white man he’s better than the best colored man, he won’t notice you’re picking his pocket. Hell, give him somebody to look down on, and he’ll empty his pockets for you.“ (vgl. https://en.wikiquote.org/wiki/Lyndon_B._Johnson#Attributed )
Zitat: „Ähnliche Erscheinungen gibt es in Deutschland in kleinerem Maßstab ja auch: Arbeiter, die frustriert über ihre schlechte Bezahlung und ihre unwürdigen Arbeitsbedingungen sind, den Zorn aber nicht an ihren Chefs auslassen, sondern an den vermeintlichen Schmarotzern, die sich auf Staatskosten ein schönes Leben machen.“
Allerdings gibt es hierzulande weder die religiös aufgebauschte Debatte über Abtreibungen noch ein solches Ausmaß an Ablehnung gegen staatliche Eingriffe in den Markt.
Es fällt ein wichtiger Unterschied zwischen dem Heilsversprechen des amerikanischen Way of Life und dem Heilsversprechen der Linken auf: Das Heilsversprechen der Linken, das alle gleiche Chancen erhalten, ihr Leben zu gestalten, unabhängig von der sozialen Herkunft, unglaubwürdig wirkt. Bei der Arbeiterpartei SPD kommt die Unglaubwürdigkeit daher, dass sie häufig nur eine Chance hatte, an die Macht zu kommen, wenn es galt, einen Scherbenhaufen zu beseitigen, bei dem meistens unbequeme Entscheidungen getroffen werden mussten.
Der amerikanische Traum verspricht aber keine gesellschaftliche Änderung, sondern lediglich einen individuellen Aufstieg, der scheinbar noch immer einzelnen Personen wie Jeff Bezoz oder Mark Zuckerberg gelingt, wobei diese Neureichen in der Regel aus Mittelklassefamilien kommen, in denen meistens ein Elternteil eine höhere Bildung hat, z. B. ist Zuckerberg Sohn eines Zahnarztes und Bezos Stiefsohn eines Ingenieurs.
Dass die Situation in den USA sich von der in Europa unterscheidet, sehe ich ja auch. Hochschilds Buch hilft insofern, als die sicherlich nicht unbekannten Tendenzen an den Biografien einzelner Menschen sichtbar und dadurch verständlicher werden. (Das erschließt sich natürlich nur durch komplette Lektüre.) Konkrete Handlungsanweisungen enthält das Buch keine und ich selber habe auch nur bedingt welche anzubieten. Aber um ein Problem anzugehen, muss man es ja erst einmal verstehen.
Vielleicht sollte man sich zudem noch „Democracy in Chains“ von Nancy MacLean und „The Best Democracy Money Can Buy“ von Greg Palast als Ergänzung lesen, um mehr über die Hintergründe der Denkweise und den Einfluss der Parteien auf die Wahlen in den jeweiligen Bundesstaaten zu verstehen.
Danke für den Hinweis!
„Bei der Arbeiterpartei SPD kommt die Unglaubwürdigkeit daher, dass sie häufig nur eine Chance hatte, an die Macht zu kommen, wenn es galt, einen Scherbenhaufen zu beseitigen, bei dem meistens unbequeme Entscheidungen getroffen werden mussten.“
Das finde ich das Erbärmliche an der SPD, dass man nicht nur Sozialabbau betreibt (und die Arbeiter verrät), und dann noch nicht mal dazu steht, sondern sich lieber hinter angeblichen Sachzwängen verschanzt. Jetzt sollen es ja ad hoc „die Vereinigten Staaten von Europa“ richten, mit viel EU-Schildbürger-Bürokratie und Superbürokraten an der Spitze, die mehr als das 20x eines einfachen Arbeiters verdienen und ihre eigenen Kinder auf die Privatschule schicken. Anders als der Arbeiter, der nach 30 Jahren Arbeit ein Jahr Stütze kassiert und dann nach H4 abgeschoben wird, wird der ausgeschiedene SPD-Staatssekretär dann mit einen fett dotierten Entspannungsposten als Direktor irgendeiner einer Landesbehörde versorgt, wie gerade in NRW geschehen. Ich frage mich immer, warum es als Verletzung der Menschenwürde angesehen wird, wenn man nicht mit seinem bevorzugten Genderpronomen angeredet wird (failure to do so wird in Kalifornien übrigens inzwischen mit Gefängnis bestraft), aber förderlich für eigene Identität und Charakter, wenn man samt seiner Kinder aus seiner Wohnung gekickt wird, weil man die Miete nicht mehr zahlen kann.
Ich finde, dieses SPD-Verständis von sozialer Gerechtigkeit ist Sozialkälte-Porno pur, da braucht es nicht noch extra Förderung feministischer Pornos.
Ach ja, die reichen Politiker hie, die armen Großmütterchen da – bisschen platt, oder? Die um ein Vielfaches schamlosere Selbstbereicherung von kapitalistischen Funktionären erwähnen Sie seltsamerweise nicht. Nun ja, zumindest ist Bereicherung wohl kein Privileg von SPD-Politikern, oder? Ich hab gehört, es soll sogar schon Fälle bei der AfD geben. Dabei war ich fest davon ausgegangen, die wären ganz anders, ehrlich und volksnah!
Zitat von Frans Bonhomme: „Das finde ich das Erbärmliche an der SPD, dass man nicht nur Sozialabbau betreibt (und die Arbeiter verrät), und dann noch nicht mal dazu steht, sondern sich lieber hinter angeblichen Sachzwängen verschanzt.“
Machen Sie das bei wichtigen Entscheidungen in Ihrem Leben so, dass Sie Sachzwänge ignorieren? Nach meinem Verständnis wird das Leben durch Sachzwänge bestimmt. Wer das in der Politik nicht wahr haben will, der kann es sich zwar in der Opposition bequem machen, wie die Linke oder neuerdings die Allianz faschistischer Demagogen, aber erstens erreicht man damit politisch so gut wie gar nichts und außerdem ist es wohlfeil, so zu tun, als wüsste man es besser, ohne wirklich Verantwortung zu übernehmen!
Was ist denn ein kapitalistischer Funktionär?
Klar sorgen Politiker aller Partei nur allzu gern für das eigene Wohl, doch so ungeniert dabei die moralische Luftüberlegenheit für sich reklamieren tut nur die Genossen, weshalb sie auch besonders unglaubwürdig erscheinen.
But what aboutAfD? Ja, ich stimme ganz zu, die AfD ist böse, aber hier ging es ja darum, warum denn der Proletarier nicht die SPD wählen will weil die will doch bitte schön so viel Gutes tun. Ich versuchte zu erklären.
Was kapitalistische Funktionäre sind? Jene älteren Herren in Vorständen und Aufsichtsräten, die es schaffen, der Welt weiszumachen, sie leisteten so unverzichtbare und brillante Arbeit, dass man sie dafür naturgemäß mit Abermillionen vergüten müsse. Gehen ihre Banken oder Konzerne vor die Hunde, haben sie dann damit allerdings ursächlich nichts zu tun, zur Entschädigung für erlittenes Leid erhalten sie nochmals Millionenabfindungen. Verglichen damit sind auch die raffgierigsten Politiker – nun ja, „Peanuts“.
Ganz falsch! Das sind Unternehmen im Privatbesitz. Diese gehören den Aktionären, und genau die entscheiden, wen zu welchem Gehalt mit dem Management ihres Ladens beauftragen. So wie Sie völlig frei darin sind, welchen Gärtner Sie für Ihren Garten engagieren und was sie dem zahlen. Die Aktionäre zahlen so viel, weil sie die alten erfahrenen Säcke wollen, die Ihnen am meisten Gewinn aus dem Markt ziehen. Wenn sich Aktionäre blenden lassen von Selbstdarstellern – ihr privates Problem. So wie es ihr privates Problem ist, wenn Sie einen Quacksalber aufsitzen. So wie Sie volles Risiko für Ihre Investition tragen, tun das auch die Aktionäre. Das ist ganz anders als öffentlich-rechtliche Konstrukte, wo man nur die Zwangsgebühren anderer Leute ausgeben muss, die so oder so zahlen müssen. Der Unternehmer muss ein Produkt anbieten, das jemand haben will. Zwischen dem, und ich verteile andere Leute Geld, liegen Welten im Skillset und in der Persönlichkeit. Und keine (private) Bank kann irgendeinen Politiker zwingen, sie zu retten. Das ist sogar völlig falsch und dumm, diese Banken zu retten. Aber erklären Sie das mal einem Politiker, der an den Futtertrog will. Das ist alleine Verantwortung der Politik und der Leute, die sie wählen. Sie können übrigens auch Aktionär werden und mitbestimmen, oder gleich eine Firma gründen – die das Elekroauto mit 1000km Reichweite baut in der Dritten Welt und dafür Spitzenstundenlöhne zahlt. Nur zu! Gleich morgen kann es losgehen! Jeder darf das! Warum zahlt denn Air Berlin kurz vor der Pleite so ein fettes Managergehalt, das es trotzdem gibt, auch wenn der Laden pleite geht? Na weil sie jemand wollen, der woanders genauso viel Kohle bekommt, der aber das Risiko für den Wechsel vergütet haben will, weil er auch weiss das AB zu 99% Pleite ist. Den Aktionären steht es selbstverständlich frei, jemand billiges zu nehmen, der statt 99% Chance 100% Chance hat, den Laden an die Wand zu fahren.
Amüsant, wie Sie Ihr Differenzierungsvermögen wiederentdecken, wenn es darum geht, unsere braven Kapitalisten zu verteidigen, während Ihnen bei „den Politikern“ der Holzhammer reicht. Ihre Verteidigung hat zwei Schwächen: Erstens leiden unter dem Versagen von Managern nicht nur die Aktionäre, sondern auch und oft vor allen die Arbeiter, welche aber auf die Auswahl und Bezahlung ihrer Bosse kaum Einfluss haben. Und zweitens ist Ihre Vorstellung, das Gehalt der Manager ergebe sich ganz marktgemäß aus Angebot und Nachfrage, auch herzlich naiv. Die Führungskräfte bilden vielmehr ein Kartell, in dem sich die Angehörigen wechselseitig obszön überhöhte Gehälter bewilligen – weil sie es können! Denn sie kontrollieren selbst die Geldmittel, die sie verteilen. Und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Aber ich möchte Ihnen Ihren rührenden Glauben an die Fairness des Kapitalismus nicht nehmen. Bleiben Sie weiter stark im Glauben!
Ich denke, mein Differenzierungsvermögen ist auch hinsichtlich Politikern intakt, und für H4 hat sich die SPD gemeinschaftlich entschieden, wonach sollte denn da differenziert werden? Nach der individuell vorgetragenen Seelenpein, mit der man „unangenehme Entscheidungen“ getroffen haben will? Ich denke, da ist meine Empathie anderswo besser investiert.
Zu Ihren 2 Argumenten möchte ich folgendes sagen: ja, die Arbeiter leiden unter Managementfehler, dass ist aber zu akzeptieren, denn niemand zwingt sie, für das Unternehmen zu arbeiten. Wenn die Arbeiter kündigen, weil sie merken, dass das Management schlecht ist, hat das Unternehmen umgedreht ja auch Pech gehabt. (Im übrigen haften Arbeiter als Wähler auch für das Unvermögen ihrer Politiker, die sie wählen.) In einem gebe ich ihnen aber Recht: Arbeiter haben (meist!) nicht die gleiche Verhandlungskraft wie die Unternehmen, weil sie aus existentiellen Gründen Geld verdienen müssen. Hier kann z.B. ein bedingungsloses Grundeinkommen Abhilfe schaffen, dass ich ja wie gesagt ganz gut finde. Dann können Arbeitnehmer eben wieder mehr auf Augenhöhe verhandeln. Ein andere Möglichkeit wäre z.B. die gewerkschaftliche Organisation. Zum 2ten:
Das die Führungskräfte ein Kartell bilden, dass müssten Sie dann schon belegen, und ich bezweifle es auch: was genau hindert denn einen Eigentümer daran, jemanden talentiertes einzustellen, der nicht Teil dieses Kartells ist?
Wenn sich die Kartellbehauptung belegen liesse, dann könnte man auch dagegen vorgehen. Daher bezweifle ich ebenfalls, dass sie sich belegen lässt. Jetzt könnten sie natürlich einwenden, es braucht keine Belege, es reicht, das Linke das so fühlen. Dann können sie aber genauso gut Kartelle in allen anderen Bereichen unterstellen, z.B. ein Identitätspolitik-Kartell, und dann würde ich Sie fragen, wozu Sie ein Kartell durch ein anderes ablösen wollen?
Bzgl. Ihrer sarkastischen Anmerkung bzgl. „Glaube an den Kapitalismus“ möchte ich hinzufügen, dass Sozialismus nachweislich noch nie funktioniert hat und bisher niemand eine funktionsfähige Alternative zu sozialer Marktwirtschaft präsentiert hat. Sobald Sie eine haben, immer her damit!
„die Arbeiter leiden unter Managementfehler, dass ist aber zu akzeptieren, denn niemand zwingt sie, für das Unternehmen zu arbeiten.“ Sie merken selber, wieso das nicht so richtig hinhaut, oder?
Natürlich kann ich nicht „beweisen“, dass Manager in einem Kartell im buchstäblichen Sinne organisiert sind, gleichwohl scheint mir meine Beobachtung doch mehr zu sein als nur ein linkes Gefühl. Glauben Sie allen Ernstes, dass Manager, und zwar oft selbst versagende, das Hundert- oder auch Tausendfache des Gehaltes von Professoren oder Fachärzten oder Theaterintendanten verdienen, eben weil sie auch hundert- oder tausendmal so klug und fleißig und deswegen unverzichtbar sind? Ihr Argument, die Höhe ihres Einkommens beweise ja schon ihre Leistung, ist ein Fehlschluss. Die guten Leute stecken sich einfach wechselseitig Geld in die Taschen, weil sie den Kontozugriff haben.
Es ist sehr aufschlussreich, dass jede Kritik am Kapitalismus immer mit denselben zwei Argumenten abgebügelt wird: Er funktioniert ja aber doch! Und es gibt keine Alternative, denn der Sozialismus ist gescheitert! Dagegen lässt sich sagen: Ich habe nicht behauptet, der Kapitalismus funktioniere nicht, ich habe nur festgestellt, dass er ungerecht ist. Kapitalismusfreunde sind oft nicht einmal in der Lage, den Unterschied zu begreifen. Oder sie machen es wie Hans-Werner Sinn: „Ungerecht lebt es sich besser!“ Es unterbleibt aber die Frage: Für wen? Zweitens: Man kann eine Sache kritisieren, ohne schon eine bessere Alternative parat zu haben. Oder darf man nicht sagen, dass man einen Roman langweilig findet, ohne einen besseren schreiben zu können? Daraus, dass bislang alle Systemalternativen zum Kapitalismus gescheitert sind, folgt auch nicht logisch, dass es keine geben kann. Überhaupt führt die Schwarz-Weiß-Entgegensetzung hier wohl in die Irre. Die Marktwirtschaft lässt sich ja fortentwickeln, sie wurde auch schon fortentwickelt und hat einige Elemente aufgenommen, die früher als sozialistisch betrachtet wurden. Voraussetzung für eine Fortentwicklung ist aber, dass nicht jede Kritik sogleich mit dem Argument „Er funktioniert doch! Gulag!“ abgebügelt wird.
Im Übrigen muss ich dabei bleiben: Der Eifer, mit dem sie die traurige alte SPD hier wegen Ungerechtigkeit verdammen, passt mit dem Eifer, mit dem sie zugleich unsere heldenhaften Wirtschaftsführer verteidigen, einfach nicht richtig zusammen.
Glauben Sie, dass ein Roman, der sich millionenfach verkauft, obwohl dessen Wiederholungsfrequenz der immer gleichen Phrasen kein Gymnasiallehrer durchgehen lassen würde, automatisch besser ist, bzw. dessen Autor talentierter und fleissiger, als der eines anderen Schriftstellers, der nur einen kleinen, aber feinen Bewundererkreis hat? Natürlich nicht! Hier geht es um Angebot und Nachfrage, den Geschmack möglichst vieler Leute zu treffen und ja, im Einzelfall auch um Glück. Management ist übrigens ein Haifischbecken, wo sie schneller rausintrigiert sind als sie sich einen Hustentee kochen können. Da müssen Sie den Machiavelli aus dem Effeff beherrschen, ohne ihn je gelesen zu haben. Und diese Fähigkeit honoriert der Markt mit solchen Gehältern. Oder die Fähigkeit, ein schnödes Kästchen Elektronik mit so einer Aura zu umgeben, das Milliarden Konsumenten das kaufen müssen. „Die guten Leute stecken sich einfach wechselseitig Geld in die Taschen, weil sie den Kontozugriff haben.“ Ja, aber nur so lange, wie die Leistung für die Aktionäre stimmt. Und noch mal, wenn sie eine Klüngelbande einstellen wollen, die sich gegenseitig Geld in die Taschen steckt – warum sollten Sie das nicht tun dürfen, es ist doch ihr Unternehmen? Sie können es auch beim Würfelspiel verzocken, dass ist ihre private Freiheit.
Ungerecht ist vielleicht, dass sie auf eine Welt kommen, wo alles schon jemanden gehört, und sie selber nichts geerbt haben. Deshalb bin ich übrigens für eine höhere Erbschaftssteuer.
Aber das ist ja nicht der Punkt.
Ich finde den Kapitalismus ebenfalls ungerecht, und möchte ihn gerne gerechter machen, ohne ihn seiner positiven Eigenschaften zu berauben. Sozusagen weiterzuentwickeln. Was ich der SPD ankreide, ist, dass sie nur so tut, als würde sie ihn gerechter machen wollen, und es immer noch – aber immer weniger – Leute gibt, die sich mit diesem Mimikri hinter die Fichte führen lassen und die Genossen wählen.
An H4 und die anderen Missetaten der SPD wird man sich noch in hundert Jahren erinnern, und den Genossen ist zu empfehlen sich bei ihren Opfern zu entschuldigen, mit reinem Herz Abbitte zu leisten, statt umzudrucksen. Ohne ehrlichen Neuanfang wird da nix.
Ich bin ja mit dem, was Sie über die SPD sagen, ganz einverstanden. Nur Ihre seltsam fatalistische Haltung der Wirtschaft gegenüber („Der Markt funktioniert eben so!“) irritiert mich. Mit denselben Argumenten könnte man doch auch Hartz IV rechtfertigen: Wenn die Leute mit Hartz IV nicht einverstanden wären, könnten sie doch die Politiker abwählen, die Hartz IV befürworten, also CDU, SPD, Grüne und FDP – das machen sie aber nicht, also ist wohl alles in Ordnung und Hartz IV funktioniert und ist spitze.
Wissen Sie, wenn Sie wollen, dass statt Olaf Schubert Beyonce Ihre Partygäste unterhält, dann müssen Sie eben entsprechend tief in die Tasche greifen. Da nützt es nicht, zu nölen, und zu sagen, Olaf Schubert ist billiger und warum bekommt die mehr, schliesslich geht es um den gleichen Job und bisschen Zoten reissen kann doch nicht so schwer sein. Tja, ist eben nicht das gleiche. Nennt sich Angebot und Nachfrage. Und wenn das so leicht ist, einen auf Topmanager oder Beyonce zu machen, warum macht’s dann eigentlich nicht jeder?
Prinzipiell ja. In der Tat könnten sich von H4 Betroffene eng zusammenschliessen und ihre Interessen durchsetzen. Das würde wohl auch funktionieren, wenn Sie es richtig machen: ein paar Millionen Menschen, die z.B. Regierungsviertel in Berlin demonstrieren, sich nicht teilen lassen, zusammenhalten und beharrlich bleiben – da wäre es plötzlich möglich, den Regelsatz zu erhöhen. Von der Gründung einer Interessenpartei ganz zu schweigen.
Aber hätten die Leute es damals wissen können, als sie 2002 SPD gewählt haben? Schauen wir mal ins Wahlprogramm:
„Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.“
Wahlprogramm der SPD 2.6.2002
http://www.documentarchiv.de/brd/2002/wahlprogramm_spd_2002.html#4
Aha. Und daraus wurde dann:
„Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) für Erwerbsfähige zum Arbeitslosengeld II (ALG II) zum Teil auf ein Niveau unterhalb der bisherigen Sozialhilfe.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Hartz-Konzept#Hartz_IV