Der Buchtitel, den der Soziologe Wulf D. Hund für seine „Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus“ gewählt hat, irritiert und soll irritieren: „Wie die Deutschen weiß wurden“. Waren die Deutschen denn nicht schon immer weiß? Hund spielt nicht etwa auf die neuesten Ergebnisse biogenetischer Forschungen an, nach denen alle Europäer (sogar die Sachsen!) aus Afrika stammen. Vielmehr geht es ihm um folgende Einsicht: „Die Wahrnehmung von Hautfarben schließt nicht automatisch rassistische Konstruktionen von Schwarzen und Weißen ein.“ Erst in modernen Zeiten wurde aus diesen äußerlichen Unterschieden eine vermeintlich eindeutige Einteilung des Menschengeschlechts in Rassen unterschiedlichen Wertes abgeleitet.
In den ersten Kapiteln seines Buches zeigt Hund, wie bis weit in die Neuzeit hinein vor allem die Religion die wesentliche Kategorie bei der Beschreibung der Menschheit gewesen ist. Nicht nur wird das Christentum selbstverständlich auch Amerikanern, Asiaten und Afrikanern gepredigt, es gibt auch schwarze Heilige. Der Hass, den die Kirchen gegen Andersgläubige anfachen, ist allerdings nicht weniger mörderisch als der spätere Rassenhass. Aber mit einem Glaubensübertritt können sich selbst Juden vor ihren Verfolgern retten, noch niemand hängt dem modernen Aberglauben an, der Charakter des Menschen sei unveränderlich durch das „Blut“ bestimmt.
Dies ändert sich mit der Aufklärung, die – wie Hund zurecht betont – gerade in dieser Hinsicht keinen Fortschritt bringt. Die europäischen Bürger, die im Namen der Gleichheit gegen den Adel rebellieren, denken nicht daran, selbst auf die Beherrschung und Ausbeutung der Völker auf den anderen Kontinenten zu verzichten. Den Widerspruch im Bewusstsein heilt die moderne Wissenschaft: Sie beweist unwiderleglich den niederen Rang der „schwarzen“, „gelben“ und „roten“ Menschen, die von der Natur selbst zur Beherrschung durch die „Weißen“ bestimmt seien, gleichsam als ewige Kinder. Dass sich unter den aufgeklärten „Rassenmachern“ zum Beispiel auch Immanuel Kant befindet, belegt, wie wenig selbst die größten Geister sich den Vorurteilen ihrer Epoche entziehen können.
Die moderne Rassentheorie bleibt nicht auf den Kreis der Gebildeten beschränkt. Die kolonialistische Propaganda verbreitet sie im 19. Jahrhundert auch unter der einfachen Bevölkerung. Die Verpackungen von Kolonialwaren zieren Bilder dienstfertiger „Neger“, in Zoos werden bei „Völkerschauen“ exotische Menschen präsentiert wie Tiere. Aber der Rassismus weckt nicht nur Verachtung und Aggression den entfernten Fremden gegenüber, er wirkt verhängnisvoll auch auf die privilegierten „Weißen“ daheim zurück: „Die Einteilung der Menschen in hierarchisch geordnete Rassen schlug nach innen als der Verdacht durch, zur Rasse der ‚Herrenmenschen‘ könnten ‚Untermenschen‘ gehören.“ Das Gift des weißen Rassismus zersetzte auch die europäischen Gesellschaften. Rassisten fingen an, in ihren eigenen Völkern nach fremden und minderwertigen Elementen zu fahnden. Sie fanden nicht nur die Juden und die „Zigeuner“. Auch Arme, Behinderte und Kranke wurden zu biologischen Feinden erklärt und – etwa von den Nationalsozialisten – im Namen der Volksgesundheit zur Vernichtung freigegeben.
Die meisten Geschichten des Rassismus konzentrieren sich auf die rassistischen Theorien und ihre politische Umsetzung. Wulf D. Hund setzt hier andere Akzente: Er widmet sich vor allem der Ausbreitung des Rassismus in der Populärkultur und nutzt als Quellen neben Gemälden und Romanen auch Werbegrafiken, Schlager und erfolgreiche Filme. Das macht die Lektüre anschaulich und unterhaltsam, wenngleich der Leser gelegentlich zwischen all den knallbunten Beispielen den rote Faden der Erzählung aus dem Blick verliert.
Ein anderer Mangel des Buches wiegt schwerer: Hunds Geschichte des Rassismus macht sich selbst der Schwarzweißmalerei schuldig. Es gibt in seiner Darstellung nur die rassistischen Weißen und auf der anderen Seite deren Opfer, die Schwarzen, Asiaten, „Zigeuner“, Muslime und Juden. Hund, der im Text einmal von einem anderen Autor Dialektik einfordert, wäre besser auch selbst dialektischer zu Werke gegangen. Dann hätte er kaum die schmerzliche Einsicht unerwähnt gelassen, dass es auch Menschen gibt, die zugleich Opfer von Rassismus und rassistische Täter sind. Dies zeigt sich in unseren Tagen überdeutlich etwa in dem Hass gegen Juden, der in einigen muslimischen Gemeinschaften grassiert. Manch einem Leser wird dieses Fortleben des Rassismus in der Gegenwart sogar gefährlicher scheinen als die „Mohren-Apotheke“, der Hund die letzten Seiten seines Buches widmet.
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Diese Rezension erschien zuerst in der Sächsischen Zeitung.
Zitat aus dem Text: „Ein anderer Mangel des Buches wiegt schwerer: Hunds Geschichte des Rassismus macht sich selbst der Schwarz-Weiß-Malerei schuldig. Es gibt in seiner Darstellung nur die rassistischen Weißen auf der einen Seite und auf der anderen deren Opfer, die Schwarzen, Asiaten, ,Zigeuner‘, Muslime und Juden. Hund, der im Text einmal von einem anderen Autor Dialektik einfordert, wäre besser auch selbst dialektischer zu Werke gegangen.“
Echt jetzt? Das klingt wie eine Relativierung à la „Ja, der Rassismus der Deutschen bzw. Europäer ist schlimm, aber die anderen sind auch nicht viel besser, also kann es gar nicht so schlimm sein!“
Abgesehen davon, dass der Rassismus der Weißen nicht durch den Verweis auf den Rassimus von Nicht-Weißen besser wird, würde dieser Aspekt, so glaube ich, den Rahmen des Buches sprengen, dessen Autor nach Ihrer Beschreibung sowieso schon Mühe hat, „den roten Faden der Erzählung“ im Blick zu behalten.
Es ist die Macht der Europäer, zu denen auch die Amerikaner mit europäischen Vorfahren zählen, die den Rassismus der Weißen meines Erachtens zurecht in den Fokus rückt, Stichwort „white privilege“.
„Das klingt wie …“ = Es geht zwar in keiner Weise aus dem Text hervor, aber ich werfe es einfach trotzdem mal vor.
Leider habe ich einfach schon zu viele Kommentare gelesen, um mir einen Reim zu machen, worauf eine derartige Feststellung hinauslaufen soll, außer auf eine Relativierung.
Streng genommen haben Sie allerdings Recht: Sie relativieren den Rassismus der Weißen in keinster Weise. Worauf wollen Sie mit der Feststellung dieses „Mangels“ dann hinaus?
Wenn man den Rassismus in der Gegenwart, auch den in Deutschland, erkennen und begreifen will, dann muss man alle Phänomene erfassen, die dazugehören, und darf keine ausblenden. Dazu gehören eben auch die von mir angeprochenen, im Buch aber nicht erwähnten. Ich sehe nicht, wieso der Hinweis, dass es neben den einen Übeltätern auch noch andere Übeltäter gibt, zwangsläufig „Relativierung“ sein müsste. (Dass es Leute gibt, die in solcher Absicht argumentieren, mag sein.) Wenn ich darauf hinweise, dass es neben ausländischen Sexualstraftätern auch deutsche Sexualstraftäter gibt – ist das dann auch Relativierung?
(Nebenbei gesagt ist übrigens der Rassismus, den es in der islamischen Welt gibt, in gewisser Weise auch ein „weißer“, denn über Jahrhunderte wurden von arabischen Staaten Afrikaner versklavt.)
Zitat: „Wenn man den Rassismus in der Gegenwart, auch den in Deutschland, erkennen und begreifen will, dann muss man alle Phänomene erfassen, die dazugehören, und darf keine ausblenden. Dazu gehören eben auch die von mir angeprochenen, im Buch aber nicht erwähnten.“
Dazu müsste erst einmal geprüft werden, ob der Rassismus der Nicht-Weißen auf dieselben Ursachen zurückzuführen ist, wie der der Weißen.
Zitat: „Ich sehe nicht, wieso der Hinweis, dass es neben den einen Übeltätern auch noch andere Übeltäter gibt, zwangsläufig ,Relativierung‘ sein müsste.“
Ist es auch nicht zwangsläufig, aber dann sollte das Ziel der Forderung schon deutlich gemacht werden, gerade um zu vermeiden, dass Forderung einer dialektischen Darstellung nicht von Dritten missbraucht wird, um Ressentiments zu verbreiten.
Wie ich bereits schrieb, birgt dieser dialektische Ansatz die Gefahr, den Rahmen des Themas für solch ein Buch zu sprengen. Daher wäre es besser dies in einem gesonderten Text ausführlich zu behandeln, da mir z. B. nicht klar ist, ob eine rassistische Argumentation von Nicht-Weißen mit der Geschichte des Rassismus in Deutschland zu erklären ist.
Eine interessante Fragestellung wäre in diesem Kontext, wie man Nicht-Weiße für das Thema sensibilisiert. Das hat aber möglicherweise nur noch am Rande mit der im Buch thematisierten Geschichte des Rassismus in Deutschland zu tun.
Zitat: „Wenn ich darauf hinweise, dass es neben ausländischen Sexualstraftätern auch deutsche Sexualstraftäter gibt – ist das dann auch Relativierung?“
Nein, darin sehe ich keine Relativierung, denn jemand der eine qualitative Unterscheidung zwischen ausländischen und deutschen Sexualstraftätern konstruieren will, versucht Ressentiments zu verbreiten, die auf einer falschen – konstruierten – Prämisse aufbauen. Jemand, der den von Ihnen aufgeführten Hinweis als Gegenargument nutzt, versucht die konstruierte Prämisse zu hinterfragen und geradezurücken.
Zitat: „Nebenbei gesagt ist übrigens der Rassismus, den es in der islamischen Welt gibt, in gewisser Weise auch ein ,weißer‘, denn über Jahrhunderte wurden von arabischen Staaten Afrikaner versklavt.“
Haben die Araber das mit derselben Rechtfertigung wie die Europäer gemacht?
Zudem sind nicht alle Muslime Araber bzw. nicht alle Araber. Einige Muslime sind selbst Afrikaner oder Roma. (Ich schreibe das, weil in Ihrem Ausgangstext vom „dem Hass gegen Juden, der in einigen muslimischen Gemeinschaften grassiert“ die Rede ist.)
Ich könnte nun höchst dialektisch erwidern, dass die Forderung, man solle den Rassismus von „Nicht-Weißen“ doch bitte anders und woanders behandeln als den Rassismus von „Weißen“, selbst unwillentlich die rassistische Farbentrennung wiederholt. Ich könnte aber stattdessen auch sagen, dass das alles ein bisschen viel theoretisches Brimborium ist angesichts meines ganz einfachen Anliegens: Auch wenn in der Neuzeit zumeist die Europäer die Propagandisten und Täter des Rassismus waren und sind, ist Rassismus keine Eigenschaft der Weißen, sondern ein Denken und eine Praxis, die potenziell jede Gruppe von Menschen annehmen kann. Deswegen ist es sinnvoll, auch „nicht-weißen“ Rassismus zu besprechen oder zumindest zu erwähnen in einem Buch, das sich ausdrücklich dem Rassismus in Deutschland widmet.