Noch nie wurde in Deutschland so viel geredet wie heute. Und noch nie wurde dabei von so vielen gesagt, man dürfe ja in Deutschland nichts mehr sagen. Ein Teil der Bevölkerung weiß genau, dass in Deutschland Zensur herrscht. Ich blauäugiger Mensch lebte hingegen bisher in der Überzeugung, die freie Rede habe einen recht weiten Spielraum. Stellte doch jüngst etwa eine sächsische Staatsanwaltschaft fest, die Redefreiheit umfasse sogar das Recht, sich die Hinrichtung von politischen Gegnern zu wünschen, ja diese Hinrichtung mit Hilfe von selbst gebastelten Galgen symbolisch vorwegzunehmen. Ich gehe davon aus, dass es dementsprechend auch nicht ungesetzlich ist, wenn ich mir wünsche, den zuständigen Staatsanwalt möge ein Blitz beim Scheißen erschlagen.
„Eine Zensur findet nicht statt“, behauptet das Grundgesetz. Aber viele Bürger behaupten anderes. Wer hat recht? Auf den Straßen, auf den Titelseiten, in den Fernsehstudios, ja mittlerweile sogar im Parlament dürfen Männer erklären, die linke Meinungsdiktatur lasse sie nichts mehr sagen. Wenn so viele das behaupten, muss es dann nicht stimmen? Ein gewisser Thilo Sarrazin, Mitglied der SPD, ist Millionär geworden, indem er sagte, was man nicht sagen darf. Er hat inzwischen unzählige Nachahmer inspiriert, die ebenfalls von der verbotenen Frucht naschen. In Deutschland kann einem Publizisten in finanzieller Hinsicht offenbar nichts Besseres passieren, als von der Zensur verboten zu werden. Wurde einem Mann erst einmal das Maul gestopft, hängen die Leute ihm an den Lippen. Aber man muss schon tüchtig rechts sein, wenn man in den Genuss dieses verkaufsfördernden Verbotes kommen will. Denn nur Rechte, die Linke kritisieren, sind Helden der Meinungsfreiheit. Linke, die Rechte kritisieren, sind hingegen Gegner der Meinungsfreiheit. Denn die Redefreiheit der Rechten umfasst bekanntlich auch das Recht, keine Gegenrede ertragen zu müssen. Völlig zurecht wird darum der Dresdner Turmschriftsteller Uwe Tellkamp trotz einigen kleinen Lügen als mutiger Kritiker gefeiert, während die Kritiker des Kritikers ernstlich verwarnt werden, sie mögen doch den empfindlichen Mann nicht durch den Hinweis auf die Wahrheit stigmatisieren.
„Nein, nein!“, ermahnen mich die Kämpfer gegen die politische Korrektheit. „Die Zensur ist heute natürlich nicht mehr so altmodisch, mit Verboten vorzugehen, ihr gelingt es, tapfere Streiter für die Wahrheit mit der Nazi-Keule zur Strecke zu bringen!“ Wenn ich das Wort „Nazi-Keule“ höre, stellen sich bei mir leider immer noch die falschen Assoziationen ein. Vielleicht liegt’s daran, dass ich aus der ostdeutschen Provinz komme. Beim Wort „Nazi-Keule“ denke ich immer noch an einen Baseballschläger, von dem Blut tropft, weil gerade irgendein Nazi jemanden damit erschlagen hat. Aber wie albern! Die „Nazi-Keule“, von der unsere neuen Rechten sprechen, ist natürlich eine viel gefährlichere Waffe. Sie zerstört nicht bloß das Leben von Minderwertigen, sondern viel Kostbareres, den Ruf von Patrioten, die zu Unrecht beschuldigt werden, Nazis zu sein. Mein Mitleid mit diesen Männern kennt keine Grenzen und wird auch nicht im Mindesten durch den Eindruck gedämpft, als wirkte ein Volltreffer der „Nazi-Keule“ auf manche Rechte nicht niederschmetternd, sondern wie ein Ritterschlag. Ja, die „Nazi-Keule“ gleicht einem Zauberstab, durch den Rechte in Helden verwandelt werden. Kein Wunder, dass mancher sich selbst mit diesem Zauberstab bearbeitet, wenn es partout an Linken mangelt, die zur „Nazi-Keule“ greifen wollen. Wo kein Linker zur Stelle ist, um mit Hitler zu vergleichen, malt sich gewiss ein Rechter selber ein Hitlerbärtchen unter die Nase. Oder hat jemand Björn Höcke einen Revolver an den Kopf gehalten, um ihn dazu zu bringen, freundliche Worte über den Nationalsozialismus zu sagen? Wer hat in Pirna beim „Politischen Aschermittwoch“ der AfD die Meute angesoffener Frührentner dazu gezwungen, vor den Augen der Welt einen geselligen Abend im Sportpalast nachzustellen?
Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass schon Adolf Hitler ein Opfer der Zensur gewesen ist. Immer wieder hatte er Schläge mit der Nazi-Keule zu erdulden. Man erhob die absurde Anschuldigung, er sei kein Demokrat, man warf ihn ins Gefängnis, erteilte ihm Redeverbote. Kein Wunder, dass Hitler immer wieder klagte, er werde vom Weimarer Schandsystem „geknebelt“ und von der verräterischen „Judenpresse“ diffamiert. Hätte man doch nur das konstruktive Gespräch mit Hitler gesucht! Hätte man seine Sorgen angesichts der grassierenden Verjudung Deutschlands ernstgenommen! Hätte man ihn nur freiwillig an der Regierung beteiligt, um ihn zu mäßigen und zu entzaubern! Welches Leid wäre Deutschland erspart geblieben! Wer dem gerechten Volkszorn nicht die Gesetze anpasst, der muss sich nicht wundern, wenn der gerechte Volkszorn sich jenseits der Gesetze austobt. Seien wir doch vernünftig! Kapitulieren wir in vorauseilendem Gehorsam vor dem Faschismus, um unsere Demokratie zu bewahren!
„Diffamiert“ – das Wort ist auch heute noch die liebste Vokabel des Rechten, der es mit vollem Recht unerträglich findet, dass Linke ihn öffentlich kritisieren dürfen. Wer so wie ich das unerhörte Glück hat, regelmäßig Post von besorgten Bürgern zu bekommen, der weiß, dass jeder zweite Brief mit folgender Klage beginnt: „Sie haben wieder was gegen die PEGIDAFD geschrieben! Das ist eine unerhörte Diffamierung! Sie haben keinen Respekt vor Andersdenkenden! Sie wollen die Meinungsfreiheit abschaffen!“ Wir müssen neidlos den Propagandisten der politischen Inkorrektheit gratulieren. Es ist ihnen in jahrelanger Arbeit gelungen, dieses Argument so fest in die Hirne von Millionen zu meißeln, dass es dort niemand je wieder herausbefördern wird. Es besticht aber auch ganz enorm durch seine Logik: Wenn die Rechten Kritik üben, nutzen sie die Redefreiheit. Wenn an den Rechten Kritik geübt wird, dann ist das Zensur. Wahrhafte Meinungsfreiheit herrscht nach dieser Logik erst, wenn niemand mehr die Freiheit hat, den Rechten zu widersprechen. Einige Länder im Osten Mitteleuropas sind schon auf dem besten Wege, einen solchen Triumph der Redefreiheit zu bewerkstelligen. Aber wenn schon nicht gleich ganz Deutschland, so kann doch zumindest Sachsen nachziehen! Schon bald gibt es hier Wahlen, die den richtigen Weg weisen können!
Da ich nun die Rechten schon mit so viel Lob bedacht habe, möchte ich auch die Linken nicht vergessen. Das gebietet schon die Fairness. Ich finde es wirklich formidabel, wie viele Linke gerade jetzt ihre Hypersensibilität entdecken, da die Rechten mit dem Vorschlaghammer anrücken. Einen besseren Zeitpunkt hätten sie sich für ihre Entdeckungsreise zu den äußersten Grenzen der Empfindsamkeit nicht aussuchen können. Ich kann ihnen deswegen auch nicht verübeln, dass sie sich inzwischen schon die Ohren zuhalten und über „unerträgliche Hassrede“ klagen, wenn ein Rechter auch nur den Mund aufmacht, um seine Meinung zu sagen. Dass die Linken mit den Rechten in einen Wettbewerb eingetreten sind, wer leberwurstiger ist, wer schneller beleidigt und wer das größere Opfer, das versetzt mich wahrlich in Hochstimmung und macht mir große Hoffnung für die Zukunft. Wie schlau sind jene Linken, die den öffentlichen Streit mit den Rechten nach Möglichkeit vermeiden, um sich die Finger nicht schmutzig zu machen! Wie souverän und mutig wirkt das! Wie überzeugend ist es auch, dass die Linken beständig über böse Wörter, kaum noch aber über die Sachen selbst reden! Es spart ja auch jede Menge Arbeit, wenn man darauf verzichtet, zu überprüfen, ob die Rechten Recht oder Unrecht haben, und sich stattdessen damit begnügt, den Rechten vorzuwerfen, dass sie rechts sind. Kurzum: Bei den linken Parteien läuft alles kolossal gut und ihre Wahlergebnisse bestätigen das ja auch blendend.
Ich komme zum Schluss: Es steht um die Redefreiheit ganz hervorragend in Deutschland, geradezu optimal. Es wird ja unerhört viel geredet bei uns, vor allem aneinander vorbei und übereinander hinweg, aber immerhin. Das Selbstgespräch ist doch die angenehmste Form der Kommunikation; im Spiel mit sich selbst geht man immer als Gewinner vom Platz. Hauptsache ist, es wird stets so laut geredet, dass niemand in die Versuchung gerät, nachzudenken. Zweifel ist nur hinderlich dabei, auf jede Frage auf Anhieb die richtige Antwort geben zu können. Wir haben vielleicht keine Streitkultur, aber unsere Kultur der Zerredung ist unvergleichlich. Aber das alles soll uns keine Sorgen bereiten, im Grundgesetz steht ja nur etwas vom Recht, sich zu äußern, aber nichts von der Pflicht, auch einmal zuzuhören. Hoffentlich kommt nie jemand auf die Idee, die Redefreiheit könnte auch darin bestehen, sich – wenigstens für ein Weilchen ab und an – vom Zwang zum unablässigen Reden zu befreien. Denn das würde ja dazu führen, dass Demokraten, statt auf das Gekläff von Rechtsradikalen routiniert mit verletztem Gejaule zu antworten, einmal in Ruhe darüber nachdächten, mit welchen eigenen Ideen es gelingen könnte, die Leute wieder zu überzeugen und zu begeistern.
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Dieser Text wurde am 11. März 2018 im Kabarett Breschke & Schuch bei der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die nationalsozialistische Bücherverbrennung in Dresden vorgetragen. Die Gedenkveranstaltung findet jedes Jahr auf Initiative der Dresdner SPD statt. Informationen zur Vorreiterrolle Dresdens im Kampf „wider den undeutschen Geist“ findet man zum Beispiel in diesem Beitrag der FAZ.
Stimmt
Wie soll man aber mit Menschen diskutieren, wenn sie signalisieren, dass sie selbst kein Interesse am Standpunkt des Gegenübers zeigen, sondern vielmehr den Eindruck vermitteln, ihre Propaganda zu verbreiten?
Wenn sie z. B. auf eine Argumentation, die sich auf Statistiken stützt, entgegnen, die seien doch eh alle gefälscht oder es gäbe eine Dunkelziffer, die viel höher sei, ohne dies irgendwie zu belegen?
Oder wenn jemand, wie oben beschrieben, den Vorwurf der Diffamierung oder Zensur erhebt, um Kritik abzuwehren bzw. einer Entgegnung auszuweichen?
Erste Antwort: Um herauszufinden, ob sich jemand wirklich in jedem Fall so verhält, muss man erst einmal mit ihm geredet haben. Zweite Antwort: Sollte sich jemand so verhalten, ist ein privates Gespräch mit ihm in der Tat sinnlos. Ein öffentlicher Streit mit so jemandem kann aber durchaus sinnvoll sein, weil er dem Publikum die Argumentationsschwäche des Propagandisten vor Augen führt. Allerdings gibt es – wie ich gern einräume – keine Garantie dafür, dass diese Entlarvung gelingt. Der demokratische Kontrahent muss rhetorisch geschickt sein, das Publikum für sachliche und logische Argumentation offen. Alle wird man ohnehin nie aufklären. Es gibt auch keinen Grund, die öffentliche Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen krampfhaft zu suchen, Ignorieren kann manchmal die bessere politische Taktik sein. Wenn sich aber der öffentliche Streit nicht vermeiden lässt, ohne dass man mutlos wirkt, sollte man ihn nicht fliehen.
Hitler übrigens bestand darauf, nie öffentlich mit einem Gegner debattieren zu müssen, er wollte stets nur inszenierte Monologe halten. Sollte uns das nicht in der Annahme bestärken, dass Debatten im Kampf gegen Antidemokraten vielleicht doch helfen?
Zitat: „Ein öffentlicher Streit mit so jemandem kann aber durchaus sinnvoll sein, weil er dem Publikum die Argumentationsschwäche des Propagandisten vor Augen führt. Allerdings gibt es – wie ich gern einräume – keine Garantie dafür, dass diese Entlarvung gelingt.“
Also bei der Diskussion zwischen Tellkamp und Dürs konnte anscheinend kein besorgter Bürger überzeugt werden. Dort haben sich im Publikum bloß die Lager einer gespaltetenen Gesellschaft gezeigt. Wobei ich nicht weiß, ob es hier noch eine Nachwirkung geben wird. Manchmal muss man das Erlebte ja erst einmal sacken lassen, bevor man daraus Schlüsse zieht.
Besorgniserregend ist vor allem, wenn sich das Lagerdenken so stark manifestiert wie in den USA, wo ein Großteil der Jünger Trumps jeden Mist durchgehen lassen, den er anstellt bzw. von sich gibt.
Zitat: „Wenn sich aber der öffentliche Streit nicht vermeiden lässt, ohne dass man mutlos wirkt, sollte man ihn nicht fliehen.“
Stimmt, wenn sie z. B. im Parlament sitzen, lässt es sich leider nicht vermeiden. Man kommt wohl nicht drum rum.
Welche Wirkungen die Debatte Tellkamp/Grünbein hatte, lässt sich kaum sagen: Man kann nicht in die Köpfe der Leute schauen. Die PEGIDAFD versteht es sehr geschickt, Diskussionsveranstaltungen mit ihren lärmenden Anhängern zu fluten, um Stärke zu demonstrieren. Man sollte sich dadurch nicht einschüchtern lassen. Dass eine Aufweichung der Lager an diesem Abend kaum stattgefunden haben wird, verdankt sich der Schützengrabenattitude von Tellkamp. Auf einige nachdenklichere Geister könnte aber die bemühte Differenziertheit von Grünbein durchaus Wirkung gehabt haben, der ja gerade alles versucht hat, um nicht als „linker“ Gegenpart zu erscheinen.