Ein Presselügner

Vor drei Tagen. Ich verlasse gegen 1:12 Uhr die Kellerkneipe Zum Gerücht in der brandenburgischen Kleinstadt Schmelchow. Ich bin wackelig auf den Beinen. Ich habe Bier getrunken. Mit zwei alten Freunden aus dieser Stadt, die früher mit mir zur See gefahren sind. Es war ein tiefes, ehrliches Gespräch. Unter Männern. Jetzt steige ich die fünfzehn Stufen der Treppe hinauf. Auf dem Weg zu meinem Auto überquere ich den Marktplatz. Der Mond wirft ein merkwürdiges Zwielicht auf die stille Stadt. Der eisige Winterwind bläst mir Flocken ins Gesicht. Da sehe ich einen Mann auf einer Bank sitzen. Großgewachsen. Blond. In einem zerknitterten Anzug. Neben ihm steht eine leere Flasche Wodka. Und eine halb ausgelöffelte Dose Katzenfutter. Kaum hörbar summt er ein Lied vor sich hin. Es ist Little Lies von Fleetwood Mac.

Eilig versucht der Mann, sich eine Papiertüte über den Kopf zu ziehen. Aber ich habe ihn schon erkannt. „Claas Relotius! Der SPIEGEL-Fälscher!“, spreche ich ihn freundlich an. Er lässt den Kopf sinken. „Ja, ich bin’s. Nicht mal hier finde ich Ruhe. Los, tun Sie sich keinen Zwang an! Beschimpfen Sie mich dafür, dass ich Sie betrogen habe!“ Ich setze mich neben ihn. „Ach, mir haben Sie ja gar nichts angetan. Ich lese den SPIEGEL seit Jahren nicht mehr. Mir fiel’s auf die Nerven, wie da jede Angelegenheit krampfhaft in eine menschelnde Story gepresst wird. Ich mag auch den Nähe und Gegenwart heuchelnden Stil dieser Geschichten nicht. Das letzte Mal, als ich einen Blick in das Magazin geworfen habe, fand ich eine Story über Sahra Wagenknecht. Der Reporter besuchte sie zuhause und ist dann mit ihr ein paar Stunden Fahrrad gefahren. Ich habe beim Lesen erfahren, welche Laune Oskar Lafontaine hatte, wie schnell Sahra Wagenknecht radeln kann und wie groß ihre Schweißflecken am Ende waren. Über ihr politisches Programm stand in dem Text nichts. Nach der Lektüre dachte ich: Wer braucht so etwas? Da lese ich doch lieber die konkret.“

Aber Relotius hört mir gar nicht zu. Zu sehr ist er in seinen eigenen Gedanken gefangen. Sein Gewissen foltert ihn. „Ich habe doch nur geliefert, was die Chefs wollten! Spannende Storys mit echten Emotionen. Ich weiß noch, wie es los ging. Ich hatte diese traurige Geschichte, aber bei meiner Recherche schien die ganze Zeit die Sonne. Dabei weiß jeder, dass in traurigen Geschichten Regen zu fallen hat! Da habe ich dann eben geschrieben, es hätte geregnet. Merkt doch keiner. Schon gar nicht die Nullblicker von der weltberühmten SPIEGEL-Dokumentationsabteilung. Niemandem ist die kleine Korrektur aufgefallen, also habe ich weitergemacht. Mein Gott, ihr habt ja alle keine Ahnung, was für langweiliges Zeug die gewöhnlichen Leute so erzählen. Und sie widersprechen sich auch noch dauernd selbst. Wer will das bitte hören? Was soll falsch daran sein, die Leute interessanter zu machen als sie in Wirklichkeit sind? Habe ich nicht allen damit einen Gefallen getan? Natürlich habe ich auch Kitsch fabriziert. Ich meine, Leute! Syrische Geschwisterlein, die Lieder über Königskinder singen und von Angela Merkel als Prinzessin mit seifenglatter Haut träumen! Als ich das Ding geschrieben hatte, dachte ich kurz: Jetzt hab ich’s wirklich übertrieben, jetzt fliege ich auf. Das muss doch jeder merken, wie ich hier buchstäblich ein Märchen erzählt habe. Aber die Konsumenten waren zufrieden. Ich habe die tiefsten Wünsche ihrer Seele erfüllt. Man hat mich mit Preisen überschüttet! Und jetzt soll alles falsch gewesen sein, wegen ein paar läppischer Fakten?“

Relotius blickt mich traurig an. Seine bläulichen Augen sind feucht. Ich stehe auf. „Ich bedaure, mein Bester! Von mir bekommen Sie kein Mitleid. Wenn Sie nur Ihren Mangel an journalistischem Talent durch literarische Fantasie ausgeglichen hätten – dann wären Sie bloß ein eitler Scharlatan und man könnte Ihnen verzeihen. Aber Sie haben mehr verbrochen. Sie haben nicht nur Ihre Leser betrogen, Sie haben Menschen verraten, die Ihnen ihr Heim geöffnet und ihr Leben erzählt haben. Sie besuchen eine amerikanische Kleinstadt, die Leute heißen Sie freundlich willkommen und was tun Sie? Sie entstellen diese Menschen zu billigen Karikaturen, damit der deutsche Leser seine Vorurteile bestätigt bekommt, über die dummen Amis lachen kann und Ihnen Applaus spendet. Das ist schäbig. Aber es ist schon richtig: Der einzige Schuldige in dieser Affäre sind Sie wirklich nicht. Lügen lassen sich nur verkaufen, wenn es auch Händler und Abnehmer gibt. Das werde ich demnächst auch mal aufschreiben.“ Relotius blickt auf. „Sie schreiben die Wahrheit?“ – „Natürlich“, erwidere ich. „Nichts als die Wahrheit! Und ich rechne damit, dass mir für meine Reportage mindestens der Katholische Medienpreis verliehen wird.“

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Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien zuerst am 28. Dezember 2018 als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.

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