Als ich jüngst einmal in einen Fernseher schaute, sah ich da einen Werbefilm für ein Medikament namens Meditonsin. Die natürliche Heilkraft seines „Tri-Komplexes“, so erfuhr ich, aktiviere die Selbstheilungskräfte des Körpers und könne so grippale Infekte abkürzen und die Erkältungssymptome lindern. Meditonsin werde seit Jahrzehnten von Millionen Deutschen eingenommen, die von der heilenden Kraft der Arznei überzeugt seien. Wie passend, dachte ich, dass die Reklame pünktlich zum Start der Erkältungssaison läuft! Die Leute würden ohne Werbung vielleicht ganz vergessen, rechtzeitig krank zu werden!
Ich erinnerte mich prompt daran, dass auch mir als Kind von meiner Mutter Meditonsin verabreicht wurde, wann immer ich eine Erkältung mit nach Hause geschleppt hatte. Mehrmals am Tag musste ich aus der roten Trinkkappe, mit der das kleine, braune Fläschchen verschlossen war, eine ganz bestimmte Anzahl von Tropfen schlürfen. Auch ich war von der Wirkung der Arznei völlig überzeugt. Schließlich schmeckte der klare Saft alkoholisch und bitter, ganz so wie Medizin nun einmal zu schmecken hat. Auch der Name Meditonsin verbürgte Seriosität. Was nach medizinischem Fachlatein klingt, das weckt Vertrauen, es mag auch Quacksalbofil oder Scharlatanium Forte heißen. Klarster Beweis für die Heilkraft von Meditonsin aber war der Erfolg: Ich kam bei jeder Erkältung mit dem Leben davon. Nach nur sieben Tagen fühlte ich mich wieder gesund, während Menschen, die Meditonsin nicht kannten, womöglich eine ganze Woche leiden mussten. Vielleicht hätte auch ich ohne Meditonsin knapp überlebt, aber gewiss wären die Symptome weit schlimmer ausgefallen. Zum Glück kam es nie dazu, dass ich diese Erfahrung machen musste.
Je älter ich wurde, desto mehr ergriff leider die Skepsis von meiner Seele Besitz. Ich habe den Hang dazu wohl von meinem Vater geerbt, der weder an Gott noch den Kommunismus glauben mochte. Als mir irgendwann auffiel, dass Meditonsin ein homöopathisches Arzneimittel ist, war es mit der Heilkraft des Elixiers für mich vorbei. Der natürliche „Tri-Komplex“, so las ich im Beipackzettel, besteht aus Tollkirsche, Eisenhut und Quecksilber. Glücklicherweise werden diese Gifte vom Hersteller aber so lange verdünnt, bis sich kaum noch eine Spur von ihnen im fertigen Medikament findet. Als eingefleischter Materialist gehe ich aber von der kühnen These aus, dass es keine Wirkung ohne Ursache gibt. Ich schluckte Meditonsin nimmermehr. Ohne den festen Glauben des Kranken kann die Homöopathie ihn leider nicht heilen. Sie gleicht darin dem Christentum der alten Schule, das nur den Gläubigen erlöst. Der Gottesleugner hingegen schmort in der Hölle wie der Feind der Homöopathie im Fieberbett.
Aus Rache dafür, dass ihnen die Homöopathie nicht mehr helfen kann, versuchen Skeptiker, auch anderen Menschen dieses Gottesgeschenk aus den Händen zu winden. Seit Jahren erklären sie im Namen der Wissenschaft: Die Homöopathie wirke nicht über den Placebo-Effekt hinaus. Alles, was die Arznei bewirken könne, seien Effekte des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Die Homöopathie verursache immerhin tatsächlich keine Nebenwirkungen, aber nur, weil sie auch keine Hauptwirkungen habe. Doch die Arbeit der Aufklärer ist vergebens: Die Deutschen lieben die Homöopathie nach wie vor. Und welchen Vorwurf will man ihnen machen? Solange sie glauben, hilft ihnen der Glaube ja auch wirklich ein bisschen. Brenzlig wird es nur, wenn die Krankheit so ernst ist, dass guter Wille allein nichts bessern kann. Der harmlose Blödsinn hat die schlechte Angewohnheit, sich ab und zu in gefährlichen zu verwandeln.
Vor einer Weile erzählte mir einmal eine Mutter von einem Arztbesuch mit ihrem Kind. Empört berichtete sie davon, der Arzt habe ihr Kind nicht angefasst. Überhaupt hätten es sich Ärzte ja inzwischen abgewöhnt, ihre Patienten anzufassen. Ihre Beschwerde leuchtete mir sofort ein, erst nachträglich dachte ich darüber nach, warum eigentlich. Wenn wir zum Arzt gehen, dann nicht, weil wir den Rat eines Wissenschaftlers suchen, wenigstens nicht allein deswegen. Wir sehnen uns im Innersten auch nach einem Medizinmann, der uns von unserer Krankheit befreit, indem er uns die Hand auflegt, die bösen Geister in unserem Leib bespricht und uns Pflichten zur Buße für unsere Sünden auferlegt. Ein Arzt, der uns nüchtern und sachlich behandelt, enttäuscht uns. Erst recht ist uns die moderne Medizin in Kliniken zuwider. Wir geraten in die Maschinerie einer Gesundheitsfabrik und bekommen das Gefühl, auch selbst behandelt zu werden wie ein defektes Gerät.
Immer wenn Menschen an der Zivilisation leiden, suchen sie Zuflucht bei der Natur. Die Natur erscheint ihnen als Paradies des Friedens oder ganz leibhaftig als liebende Mutter, die alle Geschöpfe an ihrem Busen mit Biomilch säugt. Wie leicht vergessen wir, dass uns die Natur erst als liebenswert erscheint, seit wir sie bezwungen und unschädlich gemacht haben. Tatsächlich ist die Natur ziemlich kalt und unbarmherzig; sie kümmert sich überhaupt nicht um das Leid und den Tod von Individuen. Als liebende Mutter erscheint sie besonders Menschen, die unter ihresgleichen Wärme und Herzlichkeit vermissen. Es sind gerade die Gutmütigen, die sich als ökologisch Bewegte glühend jedem noch so absonderlichen Aberglauben verschreiben, wenn er nur im Namen der Natur spricht. Dass der Aidsvirus nicht weniger natürlich ist als das Katzenbaby, ein Erdbeben nicht weniger natürlich als ein Regenbogen, will ihnen nicht einleuchten. Gegen alles Künstliche hegen die Naturgläubigen Misstrauen. Dass sie die Gelegenheit dazu erst der Wissenschaft verdanken, die dafür gesorgt hat, dass sie nicht mehr in jungen Jahren an Masern, faulen Zähnen oder der Pest sterben wie die Menschen in früheren Zeiten, wissen sie nicht recht zu schätzen. Die Naturwissenschaft, die unsere liebende Allmutter so unverschämt entblößt, berechnet und seziert, ist ihnen verdächtig. Sie haben eine starke Abneigung gegen die Chemie, die sie deswegen auch schon in der neunten Klasse abgewählt haben. Ebenso stark ist ihre Furcht vor Atom und Genen. Ach, gäbe es doch nur eine Welt ohne Atome! Und genfreies Leben!
Der Streit um die Homöopathie trifft besonders die Partei Die Grünen hart. Die Grünen sind selbst schuld, denn sie waren unvorsichtig. Leichtfertig haben sie die Naturwissenschaft gepriesen und verteidigt, als es darum ging, die Leute vor dem menschengemachten Klimawandel zu warnen. Nun aber, da Wissenschaftler die liebe Homöopathie zum Unsinn erklären, ist ihre Liebe zur Vernunft einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Denn nicht wenige ihrer Anhänger schwören auf diese „alternative Medizin“. Naturfreunde, die eben noch mit heiligem Eifer die Wissenschaft gegen die Leugner der Klimakatastrophe verteidigt haben, beschwören in Sachen Homöopathie das gesunde Volksempfinden gegen das weltfremde Geschwätz der Wissenschaft. Menschen, die sich darüber wundern, wie Chinesen so dumm sein können, daran zu glauben, Nashornpulver ertüchtige das männliche Glied zur Höchstleistung, verabreichen ihren Kindern Zuckerkügelchen gegen Grippe. Sie sind fest davon überzeugt: Ein Sachse namens Hahnemann hat im 19. Jahrhundert eine sanfte Methode zur natürlichen Heilung der Krankheiten gefunden, noch bevor die Menschen überhaupt wussten, wodurch Krankheiten verursacht werden.
Auch Samuel Hahnemann war kein bloßer Scharlatan, sondern ein gutmütiger Mensch. Er verabscheute aus gutem Grund die barbarischen Methoden der traditionellen Medizin, die nichts als akademische Quacksalberei war. Seine vermeintlich universelle und sanfte Heilmethode für sämtliche Krankheiten war damals tatsächlich ein Fortschritt: Sie bewirkte nichts, während die barbarische alte Medizin mit ihren Aderlässen, Senfpflastern und Bleikuren meist sogar schadete. Wer aber heute im Zeitalter wissenschaftlicher Medizin zur Homöopathie zurückkehren möchte, der möge das dann bitte auch konsequent nach den Regeln Hahnemanns tun. Und beispielsweise den Bandwurm im Darm in Frieden leben lassen, da er völlig harmlos ist, solange nicht eine rein geistartige Verstimmung der Lebenskraft zur Erkrankung führt.
Es gibt wohl einfach nichts, was den gesunden Menschenverstand mehr verwirrt als der verzweifelte Wunsch nach Gesundheit. Als Skeptiker kann ich nur einmal mehr eine alte Beobachtung bestätigt finden: Die Menschen lieben die Wahrheit genau so lange, bis sie ihrem liebsten Aberglauben in die Quere kommt. Wen diese deprimierende Einsicht krank macht, dem kann auch eine Überdosis Meditonsin nicht helfen.
***
Lesevorschlag: Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden und Leipzig: Arnold, 5. verb. und verm. Aufl. 1833