Zur Durchsicht

In der Stadt Leipzig wurden in den vergangenen Jahren öfter einmal Leichen entdeckt, vorzugsweise in Parks, Seen oder modrigen Kanälen, entsorgt dort wahrscheinlich von unguten Gestalten. Von einem grausigen Fund ähnlicher Art musste man jüngst erneut in den Zeitungen lesen: An einem einzigen Tag wurden 38 Meisen tot nebeneinander am Technischen Rathaus von Leipzig gefunden. Naturschützer diagnostizierten, die Tiere seien bei der Kollision mit der gläsernen Verbindungsbrücke zwischen zwei der Verwaltungsgebäude gestorben. Vier Blaumeisen und vierunddreißig Kohlmeisen brachen sich am Glas das Genick. Diese armen Tiere mussten sterben, damit Sören aus dem Hochbauamt, ohne dabei Treppen steigen oder frische Luft atmen zu müssen, schnell mal rüber zu Marlies vom Tiefbauamt gehen kann – wahrscheinlich, um mit ihr heimlich einen Eierlikör zu trinken. Das könnten die beiden sogar tun, ohne dabei den Tod geflügelter Geschöpfe zu verursachen, wäre nur die Verbindungsbrücke nicht aus Glas gefertigt worden. Aber das ist offenbar unmöglich. In der Architektur der Moderne hat sich weithin die Maxime durchgesetzt: Die Wände von Geschäftsgebäuden sollen, statt Fenster zu haben, nichts als Fenster sein. Offenbar sind Leute, die Macht haben, und sei es nur die eines Sparkassendirektors oder einer Kulturbürgermeisterin, überzeugt davon, sie müssten allezeit zu sehen sein wie die Torte in der Vitrine der Konditorei. Hundert Millionen Vögel müssen jedes Jahr ihr Leben lassen, weil solche Gesellen unbedingt im Glashaus sitzen wollen. Aber ich werfe den ersten Stein!

Was soll das? Sind wir denn Pflanzen, die im Treibhaus ganztätig von der Sonne beschienen werden müssen, damit unsere Photosynthese nicht aussetzt? Menschen, die zur Arbeit in solchen Büros verdammt sind, klagen immerzu darüber, die Sonne blende und brate sie. Manchen gefällt es wenigstens, immerzu nach draußen schauen zu können, wenn nicht gerade ein toter Vogel die Sicht versperrt. Doch bei vielen Glaskästen können im Gegenzug eben auch alle Leute von draußen reinschauen. Sie verhindern damit, dass die Büroinsassen ungestört popeln, Erotikfilme genießen oder Verzweiflungsschnaps trinken können. Das ist nur auf der Toilette möglich, dem Separee des kleinen Mannes – noch, denn gewiss wird auch, was diese intimen Räume angeht, schon über vollverglaste Lösungen nachgedacht. Trotz all dieser Nachteile werden in die Städte immerzu neue Glaswürfel geworfen, deren Mieter nach zwei Wochen die Versetzung ins Heimbüro beantragen. Sie sind so verzweifelt, dass sie lieber mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen wollen, als weiter in einem Panoptikum des Grauens auszuharren.

Praktische Gründe für diesen Unsinn gibt es nicht, nur symbolische. Das viele Glas überall dort, wo Manager, Funktionäre und sonstige Wichtigtuer beieinandersitzen, soll uns sagen: Transparenz! Schauet nur hinein, ihr kleinen Leute – wir wichtigen Menschen haben nichts vor euch zu verbergen! Ihr könnt uns ruhig bei der Arbeit beobachten, die hundertmal besser bezahlt wird als euer kümmerliches Schuften – wir haben keine Geheimnisse! Sehet doch: Die Wolkenkratzer, in denen die Banker ihren Geschäften nachgehen, sie sind durchsichtig! Wer könnte da auf den Verdacht kommen, es gehe nicht alles grundehrlich zu? Und der Reichstag hat eine gläserne Kuppel verpasst bekommen, damit das Volk seinen Vertretern aufs Dach steigen und nach dem Rechten sehen kann!

An diesen durchsichtigen Transparenzschwindel glauben allenfalls noch die Architekten selbst, dann jedenfalls, wenn die Auftraggeber ihre Kasse weit genug öffnen, um zu überzeugen. Alle anderen Menschen wissen, dass man Geheimnisse am besten dort versteckt, wo jeder sie sehen kann. Die Offenheit der Mächtigen in ihren Glaspalästen ist so glaubhaft wie der Hütchenspieler, der vor dem Trick gewissenhaft das Kügelchen zeigt, das den Gewinn garantiert. Man kann vielleicht in die Glaspaläste hineinschauen, doch wer sie unbefugt betreten will, um den Herren drinnen auf die Finger zu schauen oder gar zu klopfen, der stellt schnell fest, dass Sicherheitsglas sehr stabil sein kann. Nicht nur Vögel brechen sich daran das Genick. Solange all dies so bleibt, möge für die Eliten bitte auch wieder ehrlich gebaut werden: Festungen aus braunem, brutalem Beton, undurchdringlich, versehen nur mit wenigen Fenstern in Form von Schießscharten. Auch für diesen Stil gibt es längst vortreffliche Beispiele. Das wäre sehr hässlich, aber ehrlich. Und in den Löchern der Betonburgen könnten immerhin ein paar Vögel friedlich nisten und den richtigen Leuten auf den Kopf scheißen.

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