Es gibt Speisen, die man nicht so heiß essen sollte, wie sie gekocht wurden. Besser lässt man sie eine Weile stehen und ziehen, damit sie ihren vollen Geschmack entfalten können. Sie mögen dann nur noch lauwarm sein, schmecken aber gar nicht lau, sondern sehr herzhaft. Ganz ähnlich verhält es sich mit manchen Skandalen. Über die schreibt man besser nicht, wenn die Affäre noch hitzig diskutiert wird, sondern erst später. Dies gilt auch für den folgenden Fall, den ich erst jetzt, da er schon abgekühlt ist, anfassen möchte.
Es gibt einen Mann, der Peter Simmel heißt. In der Schule wurde er gewiss von den anderen Kindern nicht selten Pimmel gerufen. Um das Gefühl der Schwäche zu überwinden, das solcher Spott auslöste, wurde der erwachsene Peter Simmel zu einem erfolgreichen Unternehmer. Er führt eine Edeka-Supermarktkette mit 24 Filialen in Sachsen, Thüringen und Bayern, befehligt rund 1000 Mitarbeiter und macht fast 200 Millionen Euro Umsatz im Jahr.
Es kam Anfang des Jahres 2024 die Zeit, da in ganz Deutschland Millionen Menschen auf die Straßen gingen, um gegen die extreme Rechte und für die Demokratie zu demonstrieren. Wo sich Menschen versammeln, da versammeln sich auch Geldbörsen. Die Politik und die Ökonomie, sie mögen zwei getrennte Systeme sein in unserer modernen Gesellschaft. Aber der Mensch, der wählt, teilt sich mit dem Menschen, der einkauft, oft denselben Körper. Spätestens, seit Coca Cola sich mit Erfolg als Gesöff für friedliebende Hippies aller Völker vermarktete, versuchen Konzerne, sich an politische Bewegungen anzuflanschen. Aus Fahnen werden modische Kostüme genäht, die sich profitabel verkaufen lassen. Aus politischen Parolen werden Reklameslogans. Es ist ein riskantes Unterfangen: Schätzt man die Überzeugungen der Zielgruppe falsch ein, kann die Anbiederung abstoßend wirken. Aber es gibt ja die Methoden der Marktforschung, die ebenso gut dabei helfen, Produkte abzusetzen wie Propaganda. Wenn es funktioniert, ergibt sich doppelter Gewinn: Die Firmen legen sich ein fortschrittliches Image zu, ohne irgendetwas zur Verbesserung der Welt beizutragen. Die Konsumenten dürfen sich als Avantgarde fühlen, obwohl sie bloß shoppen wie alle anderen auch. Die Sache kann aber auch schiefgehen.
Als halb Deutschland gegen die AfD auf der Straße zu sein schien, da kam Peter Simmel auf die Idee, den Protest gut kapitalistisch abzumelken. Auf einen Werbeprospekt seiner Supermärkte ließ er den Spruch „FÜR DEMOKRATIE GEGEN NAZIS“ drucken. Warum auch nicht? Ideologisch flexibel hatte sich Simmel schon früher gezeigt. Der Kapitalist betrieb einige Jahre lang in Dresden ein DDR-Museum, das er aber wieder schloss, als es kommerziell ebenso erfolglos blieb wie die DDR selbst. „FÜR DEMOKRATIE GEGEN NAZIS“ – dieser Spruch schien Simmel harmlos genug, um Moral ins Schaufenster zu stellen und Kunden anzulocken, ohne jemanden zu verschrecken. Tatsächlich bewegt sich der Spruch auf einer Skala der Strittigkeit nur knapp über der Maxime: Für das Gute, gegen das Schlechte.
So dachte der Simmel jedenfalls, doch er täuschte sich. In Ostzonistan ticken die Uhren anders, die Leute auch, nämlich rückwärts. Das Selbstverständliche ist hier nicht mehr selbstverständlich – wie demnächst bestimmt auch andernorts. Es erregten sich viele Leute über die demokratische Plattitüde. Richtiger gesagt: Sie wurden erregt, von rechten Netzwerkern, die gezielt den Zorn schürten und zum Konsumentenstreik mobilisierten. „Den widerlichen Slogan ‚Kauft nicht beim Juden‘ kehren Sie ganz offensichtlich um und grenzen damit Andersdenkende aus“, schrieb der Crimmitschauer AfD-Stadtrat Heiko Gumprecht an die Adresse des armen Simmel. „Gratulation zu so einem Demokratie-Verständnis!“ Wer gegen Nazis ist, der tut Nazis das an, was die Nazis den Juden antaten, plant womöglich gar einen Holocaust gegen Nazis – es ist beachtlich, wie konsequent sich Logik auf rechts drehen lässt.
Die Kampagne hatte Erfolg: Wütende Kunden beschimpften in den Simmel-Märkten die Verkäuferinnen, die mit ihrer neuen Rolle als Hüterinnen der Demokratie fremdelten. Nazis riefen dazu auf, aus Protest Einkaufswagen bis zum Rand mit Waren zu füllen und dann an der Kasse stehen zu lassen – eine Form des Boykotts, die besonders schmerzt, steht den Verkäufern doch der Umsatz unmittelbar vor Augen, der ihnen entgeht. Statt Geld in die Kasse mussten sie nun Waren zurück ins Regal legen.
Obwohl den Herrn Simmel viele Menschen ermutigten, standhaft zu bleiben, gab er doch so schnell nach, wie es sich für den Klügeren gehört. Er zog seinen Prospekt zurück und entschuldigte sich: „Es tut mir leid, dass sich mit meinem Begriff ‚Nazis‘ Menschen angesprochen fühlten, welche mit unserer jetzigen Regierung nicht einverstanden sind.“ Merkwürdig! Noch nie habe ich von einem Stefan gehört, der sich beleidigt fühlte, weil jemand über einen Thomas einen Witz riss. Bei Regierungskritikern scheint das anders zu sein, sie fühlen sich stellvertretend beleidigt, wenn von ihnen gar nicht die Rede ist. Es mag ein paar versprengte Restlinke geben, die mit dem Wort „Nazi“ allzu freigiebig umgehen. Doch hundertmal öfter als solche falschen Beschuldigungen höre ich in der deutschen Öffentlichkeit die Mahnung, man dürfe besorgte Bürger nicht fälschlich als Nazis bezeichnen. Da kommt mir der Verdacht, dass die Beleidigten so fest entschlossen sind, beleidigt zu sein, dass sie eine Beleidigung dazu gar nicht brauchen.
War es aber wirklich die Sorge um die Gefühle seiner Kundschaft, die Peter Simmel zur Umkehr bewog? Er stellte wohl eher überrascht fest, dass Gratismut manchmal kostspielig werden kann. Er kalkulierte neu, wie es ein guter Unternehmer macht. Beim Gedanken daran, dass auch Geld nicht stinkt, das durch die Hände von Nazis gegangen ist, überfiel ihn bittere Reue. Die äußerte er in einem Satz, der auch in Äonen nicht vergehen wird: „Durch den Austausch mit unseren Kunden habe ich gelernt, dass sich viel mehr Menschen mit dem Wort Nazi identifizieren, als ich dachte.“ Das ist so verblüffend wahr und klar, dass man sehr lange staunt und schweigt.
Alt ist die Klage von Rechten, sie würden von Linken zu Unrecht als Nazis bezeichnet. Es gibt bekanntlich in Deutschland keine Nazis, es hat nie welche gegeben, außer einen vielleicht, bei dem man aber, so kündet uns Björn Höcke, auch differenzieren muss. Wirklich neu ist es, dass Leute auf das Wort „Nazis“ hören wie der Schäferhund aufs Kommando, nur um dann zu bellen, sie seien ja gar keine. Wir sollten wohl besser die Gedenkstätten schließen und die Geschichtsbücher einstampfen, denn die Kritik an den Nazis könnte Nazis verletzen, die gar keine Nazis sind. Kritik an diesen braunen Schneeflocken darf nur noch mit größter Achtsamkeit erfolgen – ein ganz neues N-Wort ist womöglich vonnöten. Spräche man über Nazis gar nicht mehr, verschwänden sie von ganz allein vom Erdball.
Es wäre nun leicht zu sagen: Peter Simmel ist ein Feigling, eine Memme, ein Schlaffi, eine Pfeife, ein Lappen und eine Lusche. So leicht, dass es hiermit auch geschehen sei. Und doch will ich ihm sein Handeln nicht allzu krummnehmen, denn als Beispiel erfüllt er doch einen guten Zweck: den der Aufklärung. Unternehmer mögen privat gute Demokraten sein, geschäftlich sind sie es nur so lange, wie es sich rechnet. Wer glaubt, sich im Kampf gegen Nazis auf die Unternehmerschaft verlassen zu können, wird sich rasch verlassen finden. Für das Kapital hat der recht, der zahlt. Sollten Nazis einmal wieder für Profit sorgen, dann kommt die Demokratie in den Schlussverkauf.