Die Linke vor der Wahl

Bei der Bundestagswahl am 23. Februar geht es wahrscheinlich um die Existenz der Linken als relevante politische Partei. Sollte sie den Einzug in den Bundestag trotz aller Widrigkeiten schaffen, bieten sich ihr als Opposition gegen Trump und Merz gute Chancen. Sollte sie am Wiedereinzug scheitern, wird es äußerst schwierig, Die Linke zusammen und am Leben zu halten. Ohne Repräsentanz im Parlament ginge nicht nur die Aufmerksamkeit der Medien verloren, Die Linke müsste auch mit viel weniger Geld auskommen. Wer glaubt, Die Linke würde als außerparlamentarische Bewegung erst recht aufblühen, macht sich wohl etwas vor: Außerparlamentarische Bewegungen sind erfolgreich, wenn sie sich konsequent einem Thema widmen – es gibt keinen vernünftigen Grund, sich ohne den Mehrwert parlamentarischer Macht in einer Partei zu engagieren, wo man immer auch Forderungen mittragen muss, die man nicht teilt oder nicht für vordringlich erachtet.

Den tiefsten Punkt des Jammertals hat Die Linke hinter sich gelassen, es geht erkennbar wieder aufwärts. In der Partei herrscht eine ungewohnt gute Stimmung, sehr viele junge Menschen sind beigetreten und engagieren sich mit einem Enthusiasmus im Wahlkampf, der manche ältere Genossen geradezu überfordert. Viele Medien schreiben inzwischen deutlich freundlicher über Die Linke, die Umfrageergebnisse haben sich in den vergangenen Wochen verbessert. Ines Schwerdtner und Jan van Aken, die neuen Personen an der Parteispitze, verkörpern einen Beginn und machen – so wie auch Co-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek – bei vielen Menschen einen guten Eindruck. Die entscheidende Frage ist: Kommt der Wiederaufschwung noch rechtzeitig, um Die Linke in den Bundestag zu tragen?

Der Bruch mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht ist nach jahrelangem, quälendem Streit für die Öffentlichkeit erkennbar endgültig vollzogen, auch wenn es gewiss noch Jahre dauern wird, bis der Verlust an Vertrauen ganz wettgemacht ist. Das BSW hat sich nicht nur politisch eher konservativ ausgerichtet, es attackiert auch gezielt Die Linke, zum Beispiel durch selektive Direktkandidaturen in entscheidenden Wahlkreisen wie dem von Sören Pellmann in Leipzig. Auch jene Genossinnen und Genossen, die Sahra Wagenknecht in der einen oder anderen Frage nahestanden, dürften begriffen haben, dass beim BSW keine linke Politik gemacht wird und dass es Wagenknecht um die Zerstörung der Linken geht. Für beide Parteien zugleich ist insbesondere im Osten tatsächlich auf Dauer nicht genug Wählerpotenzial vorhanden – es kann nur eine geben. Wer jetzt immer noch öffentlich den Bruch bedauert und von einer Wiedervereinigung träumt, sabotiert den Neubeginn der Linken.

Am BSW ist auch nichts mehr verlockend, es geht erkennbar schon wieder abwärts. Wagenknecht hat zwei strategische Fehler begangen: Zum einen hat sie sich mit ihrer Ludwig-Erhard-Nostalgie wirtschaftspolitisch so weit in die Mitte begeben, dass sie sich auf diesem Feld kaum mehr von CDU und SPD unterscheidet, geschweige denn einen ökonomischen Populismus betreiben kann wie etwa Jean-Luc Mélenchon in Frankreich. Zum zweiten hätte sie die Regierungsbeteiligung des BSW in Brandenburg und Thüringen verhindern müssen – nun sieht das BSW, als Protestpartei noch nicht einmal richtig gegründet, schon aus wie eine gewöhnliche Partei, die faule Kompromisse eingeht und langweilige Koalitionsverträge unterschreibt. Den Ton verschärfen kann Wagenknecht nur noch in der Migrationspolitik. Doch dort ist es unmöglich, noch schriller zu klingen als die AfD.

Die Abspaltung des BSW hat der Linken im Osten nicht sehr viele Mitglieder, aber sehr viele Wählerinnen und Wähler gekostet. Andererseits hat der Bruch in einigen Bereichen auch zu einer inhaltlichen Klärung geführt. In diesen Bereichen gibt es bei der Linken nun nicht mehr die Zerstrittenheit und Beliebigkeit, die in den vergangenen Jahren viele Menschen verwirrt und abgeschreckt haben. Durch den Gegensatz zum BSW sind einige Dinge klarer geworden: Die Linke bleibt eine sozialistische Partei, die mehr will als eine bloß für Deutsche sozial ausgepolsterte Marktwirtschaft. Die Demokratisierung der Wirtschaft durch Vergesellschaftungen, insbesondere in den elementaren Bereichen der Daseinsfürsorge, bleibt ein Ziel der Linken. Die Linke wird  – auch im aktuellen Gegenwind – nicht auf einen migrationsfeindlichen Kurs einschwenken, sondern bleibt eine Partei, die das Recht auf Asyl verteidigt und Zuwanderung prinzipiell freundlich betrachtet. Die Linke bleibt eine ökosozialistische Partei, die Umwelt- und Klimaschutz nicht gegenwärtigen Stimmungen in der Bevölkerung oder kurzfristigen Wohlstandsversprechen opfert. Die Linke wird ihre sozialen Versprechen niemals exklusiv formulieren. Sie wird die Gleichstellung sexueller, kultureller oder anderer Minderheiten nicht zugunsten anderer Ziele fallen lassen. Die Linke steht der EU nicht fundamental feindlich gegenüber, sondern will sie demokratisch und sozial weiterentwickeln.

Zugleich ist allen halbwegs Besonnenen in der Linken klar, dass es immer noch genügend Fragen gibt, in denen keine Einigkeit herrscht und wo der Streit nur wegen des gemeinsamen Wahlkampfes aufgeschoben ist. Dies gilt besonders für die Außenpolitik. Zwar gibt es in den tagespolitischen Fragen Ukraine und Nahost halbwegs tragfähige Kompromisse, doch fehlt noch eine einmütige und überzeugende Antwort auf die größere Frage, wie Friedenspolitik in Zeiten stark veränderter globaler Machtverhältnisse aussehen muss. In der Migrationspolitik braucht Die Linke neben humanistischer Haltung auch konkrete Konzepte für erfolgreiche Integration. In der Sicherheitspolitik sind linke Antworten auf die Bedrohungsgefühle der Bevölkerung gefragt. Die notorischen Auseinandersetzungen in der Partei entstehen übrigens nicht, weil Linke von Natur aus streitsüchtig wären, sondern weil Die Linke eine Vielzahl von prinzipiell gleichrangigen Zielen verfolgt: soziale Gleichheit, persönliche Freiheit, Demokratie, ökologische Nachhaltigkeit, Wohlstand, Frieden, Völkerrecht und globale Gerechtigkeit.

Die Linke sollte, statt eine natürliche Harmonie vorzutäuschen, anerkennen, dass diese verschiedenen Ziele auch miteinander in Konflikt geraten können. In Programmdebatten müssen in absehbarer Zeit konkrete Pläne entwickelt werden, wie diese verschiedenen Ziele unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart am besten verwirklicht werden können. Die Phrase, man dürfe das eine Ziel nicht gegen ein anderes „ausspielen“, löst allein die konkreten Konflikte ebenso wenig wie die Forderung, zur traditionellen „Klassenpolitik“ zurückzukehren. Debatten, in denen es nicht bloß um den Kampf zwischen Personen oder Strömungen geht, sondern um die Sache, müssen der Linken auch nicht schaden, sondern würden beweisen, dass sie eine intellektuell lebendige Partei ist.

Das Programm zur Bundestagswahl konnte die Ergebnisse dieser Debatten nicht vorwegnehmen. Es ist richtig, dass Die Linke sich in diesem Wahlkampf auf das Thema der sozialen Gerechtigkeit und die sozialen Alltagsprobleme der Leute konzentriert. In diesem Feld wird der Partei von der Bevölkerung noch die höchste Kompetenz und Glaubwürdigkeit zugeschrieben. Auf den letzten Metern vor der Wahl kommt es jetzt vor allem darauf an, den Fokus nicht zu verlieren. Die aktuellen Proteste gegen die AfD sind demokratisch wichtig, aber sie sind nicht geeignet, der Linken als einzigartiger politischer Kraft Aufmerksamkeit zu verschaffen. Schon im vergangenen Jahr waren es vielfach Linke, die die riesigen Demonstrationen gegen den Rechtsruck mitorganisierten – bei den Wahlen schnitt Die Linke dennoch miserabel ab. Mehr Erfolg verspricht es, wenn Die Linke sich weiter als glaubwürdige und engagierte soziale Opposition zeigt – auch gegen SPD und Grüne, die sich dem konservativen Zeitgeist in vielen Fragen angepasst haben.

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