Nein.
Wie sollte eine Frau die ganze politische Linke sammeln können, die nicht einmal in der Lage ist, alle Mitglieder ihrer eigenen Partei hinter sich zu versammeln? Mit dieser Einschätzung soll Sahra Wagenknecht nicht die Fähigkeit abgesprochen werden, Menschen zu begeistern. Sie besitzt zweifellos Intelligenz, rhetorisches Geschick und Charisma genug, um viele Menschen zu sammeln. Dies beweisen ja schon ihre immer sehr gut besuchten Versammlungen. Aber sie begeistert nur einen Teil der Menschen, die sich selbst als „links“ bezeichnen. Dies wiederum hat nicht nur mit Sahra Wagenknecht zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass ziemlich unklar ist, was heute eigentlich noch „links“ sein soll.
Eigentlich könnte eine Annäherung von Sozialisten und Sozialdemokraten inzwischen einfacher als früher sein, weil auch die meisten Sozialisten sich mit der Idee der Demokratie angefreundet haben und keine Pläne mehr für eine „Diktatur des Proletariats“ schmieden. Aber im Feld der Ökonomie sind die Unterschiede groß: Während Sozialisten wirklich etwas an den Produktions- und Eigentumsverhältnissen ändern wollen, schrecken Sozialdemokraten und Ökoliberale davor zurück. Sie begnügen sich mit kleineren Korrekturen und hoffen ansonsten auf die Kraft der Bildung, die den Armen den sozialen „Aufstieg“ ermöglichen soll, den sie selbst schon bewältigt haben. Wegen solcher Unterschiede fehlt es an gemeinsamen Visionen im linken Teil des politischen Feldes. Eine Gesellschaft, die nicht nur ein bisschen besser, sondern ganz anders wäre als die bestehende, können die meisten Menschen sich nicht einmal mehr vorstellen. In dieser Lage sind einzelne politische Fragen mühelos in der Lage, die politische Linke gänzlich zu spalten: das Verhältnis zu Israel etwa oder das zu Russland, besonders aber die Frage nach dem Verhältnis zur Globalisierung und zum Nationalstaat.
Sahra Wagenknecht wagt es immerhin, in ihren Büchern ihre Vision einer anderen Gesellschaft zu entwerfen, so zuletzt in dem Band Reichtum ohne Gier. Wer sich so der Kritik stellt, verdient vor dem Tadel erst einmal Lob. Die Volkswirtin Wagenknecht setzt durchaus ehrgeizig bei den Eigentums- und Produktionsverhältnissen an. Und ihre Pläne klingen recht vernünftig, soweit ich das als ökonomischer Laie beurteilen kann: Sie will den Wohlfahrtsstaat wiederherstellen, für die Gesellschaft wesentliche Bereiche durch öffentlich kontrollierte „Gemeinwohlunternehmen“ bewirtschaften, im privaten Sektor Kapitaleigner wieder für ihre Taten haftbar machen. Zur Zentralverwaltungswirtschaft möchte sie nicht zurück, ihr Modell ließe sich als marktsozialistisch bezeichnen. Es ist wohl politische Taktik, dass Wagenknecht das Wort „Sozialismus“ für ihr Projekt meidet. Nach den Erfahrungen der Deutschen mit der DDR scheint ihr der Begriff offenbar verbrannt. Vielleicht ist das kleinmütig: Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, denen es gelungen ist, die Linke in Großbritannien und den USA wiederzubeleben, schrecken vor dem Begriff des demokratischen „Sozialismus“ nicht zurück. Aber das eigentliche Problem liegt woanders.
Es ist ein Zeichen für die Oberflächlichkeit des deutschen Journalismus, dass noch immer Artikel geschrieben werden, in denen Sahra Wagenknecht zur neuen Rosa Luxemburg erklärt wird. Offenbar fällt vielen Journalisten die Analyse von Frisuren leichter als die von Texten. Tatsächlich ist nichts dem Internationalismus Luxemburgs ferner als die jüngeren politischen Pläne Wagenknechts. Auch zu Karl Marx finden sich kaum positive Bezüge. Liegt’s daran, dass der bekanntlich gerne mal spottete über die „Bierphilister, die von Deutschlands Einheit träumen“? Gelobt wird in Wagenknechts Buch der nationale Sozialist Proudhon, ein Vordenker des Anarchismus, aber als Rassist, Antisemit und Sexist auch Ahnherr des Faschismus. Wie er kritisiert auch Wagenknecht nicht den „Wettbewerb“ und nicht den schöpferischen und tätigen „Unternehmer“, sondern nur den „Kapitalisten“ im engeren Sinne, den Händler, Bankier und Spekulanten. Letztlich geht es um die Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, den Wagenknecht gelegentlich wie Proudhon „Freiheit“ nennt. Zu diesem Zweck werden die „Finanzwirtschaft“ und die „Realwirtschaft“ gegeneinander ausgespielt. Das alles mag trotz mancher Vereinfachung noch hingehen. Unappetitlich wird es, wenn Wagenknecht einen merkwürdigen Vergleich zwischen der „Finanzlobby“ und Unternehmern zieht, die illegal Chemikalien ins Wasser leiten, und man erst begreift, was das Ganze soll, wenn das Bild auf den Begriff „Brunnenvergifter“ hinausläuft. Als Prototyp des Spekulantentums darf dann auch die Familie „Rothschild“ nicht fehlen. Ich würde den Geist von Sahra Wagenknecht beleidigen, wenn ich davon ausginge, sie wüsste nicht, welche Gemeinplätze des Antisemitismus sie da ohne jede sachliche Notwendigkeit benutzt hat. Sie wollte offenbar den Menschen mit antisemitischen Vorurteilen mal kurz verschwörerisch zuzwinkern, doch ohne sich enger mit ihnen einzulassen. Für diese Geschmacklosigkeit sollte sie sich schämen – wenn es denn nur eine Geschmacklosigkeit war.
Für alle Menschen, die keiner Linken angehören wollen, die nicht auch nationale Grenzen transzendiert, dürften aber schon Passagen wie die folgende unerträglich sein:
Viele glauben, man könne die Demokratie dadurch zurückgewinnen, dass die politische Entscheidungsebene der Wirtschaft folgt und sich ebenfalls globalisiert oder wenigstens europäisiert. Aber das ist naiv. Demokratie lebt nur in Räumen, die für die Menschen überschaubar sind. Nur dort hat der Demos eine Chance, mit politischen Entscheidungsträgern auch in Kontakt zu kommen, sie zu beaufsichtigen und zu kontrollieren. Je größer, inhomogener und unübersichtlicher eine politische Einheit ist, desto weniger funktioniert das. Kommen dann noch Unterschiede in Sprachen und Kulturen hinzu, ist es ein aussichtsloses Unterfangen.
Ich enthalte mich zunächst eines Urteils und setze nur eine Passage aus dem Grundsatzprogramm der Partei Alternative für Deutschland hinzu:
Die Vision eines europäischen Großstaates läuft zwangsläufig darauf hinaus, dass die EU Einzelstaaten, mit den sie tragenden Völkern, ihre nationale Souveränität verlieren. Aber nur die nationalen Demokratien, geschaffen durch ihre Nationen in schmerzlicher Geschichte, vermögen ihren Bürgern die nötigen und gewünschten Identifikations- und Schutzräume zu bieten. Nur sie ermöglichen größtmögliche individuelle und kollektive Freiheitsrechte. Nur sie können diese hinreichend sichern. Die Versprechen, durch multinationale Großstaaten und internationale Organisationen einen Ersatz für funktionierende demokratische Nationalstaaten zu schaffen, werden nicht eingehalten und sind nicht einhaltbar. Es handelt sich dabei um ideengeschichtlich alte Utopien. Sie zu realisieren, hat stets großes Leid über die Menschen gebracht. Stabile demokratische Nationalstaaten sind das Fundament einer friedlichen Weltordnung.
Es ist weder Extremismustheorie noch böswillige Unterstellung, wenn ich nüchtern festhalte: In der nationalen Frage stimmt die Position von Sahra Wagenknecht mit der Position der AfD im Wesentlichen überein. Das belegt noch nicht die Falschheit ihrer Thesen, macht sie mir aber verdächtig. Das gilt auch für die praktischen Folgerungen: Auflösung der Europäischen Union oder wenigstens Rückbau zum losen Staatenbund, Abschaffung des Euro, Wiederherstellung der Souveränität der Nationalregierungen. Aber war es die EU oder war es die deutsche Regierung, die Hartz IV beschloss? Ich stelle weiterhin fest: Wagenknecht beschränkt sich nicht darauf, einen Mangel an Demokratie auf globaler und europäischer Ebene zu beklagen. Kein Linker würde ihr hier widersprechen. Sie hält diesen Mangel darüber hinaus für unverbesserlich. Die Europäische Union ist für sie nichts als ein neoliberales Projekt zur Abschaffung der Demokratie zugunsten von Lobbyismus und Technokratie. Als Beleg führt sie einige Zitate des Erzneoliberalen Hayek an, der sich eine Europäische Union in diesem Sinne wünschte. Die europäischen Institutionen sind laut Wagenknecht allesamt nur ein „von Konzernlobbyisten gesteuerte[r] Technokratensumpf“ – immerhin eine Innovation: Steuerbare Sümpfe waren bislang unbekannt. Aber noch mehr: Sahra Wagenknecht hält die EU nicht nur für unrettbar undemokratisch, sie scheint eine europäische oder globale Demokratie auch gar nicht für wünschenswert zu halten. Dies ist in der Tat der Punkt, der am meisten verblüfft: Wir haben es hier mit einer Linken zu tun, für die der Nationalstaat nicht nur Mittel, sondern auch Endzweck ihrer Pläne ist. Und zwar der kulturell und sprachlich homogene Nationalstaat, der in der Weltgeschichte nie existierte, bevor ihn europäische Nationalisten im 20. Jahrhundert mancherorts durch mörderische Säuberungen herstellten. Erst von dieser Grundidee aus wird ihr Buch ganz verständlich: Die einzelnen Maßnahmen, die sie vorschlägt, laufen zumeist auf eine Nationalisierung hinaus, nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Politik und der Kultur. Die Grenzen sollen geschlossen werden, wenigstens streng kontrolliert, für Kapital und Waren, aber auch für Zuwanderer. Importe aus der Fremde sind für einen autarken Nationalstaat ja allenfalls notwendige Übel. Immerhin dürfen Ideen und Touristen weiterhin die Grenze passieren. Ob die aber noch Lust haben, in ein solches Deutschland zu reisen? Bin ich ein zu grausamer Beobachter, wenn ich in dieser Vision eines beschaulichen, von der Außenwelt sicher abgeschirmten, von gleichartigen Selbstversorgern bewohnten Ländchens vor allem Sahra Wagenknechts Kindersehnsucht nach der DDR sublimiert sehe?
Auch zugunsten einer „linken Sammlungsbewegung“ lässt sich eine so entscheidende Frage wie die nationale nicht übergehen oder durch einen Formelkompromiss beantworten. Es handelt sich nicht um irgendein Problem, sondern um ein entscheidendes und das derzeit in der Öffentlichkeit vieler Länder am heftigsten diskutierte. Ist der Nationalstaat Vergangenheit oder Zukunft? Um diese Frage kommt kein Linker herum. Kaum vorstellbar ist es, all jene Linken, für die Internationalismus unverzichtbarer Bestandteil ihres politischen Selbstbewusstseins ist, könnten sich mit Sahra Wagenknechts national-sozialer Marktwirtschaft doch noch anfreunden. Es wird also keine linke Sammlungsbewegung geben, die sich unter ihrer Führung oder mit ihrem Programm zusammenschließt. Was es geben könnte, wäre eine nationale Sammlungsbewegung, in der – wie schon in anderen europäischen Staaten – Sozialnationalisten und nationale Sozialisten zur Querfront zusammenfinden. Unter solchen Umständen ginge Sahra Wagenknecht sicher nicht als Retterin, aber vielleicht als Zerstörerin der deutschen Linken in die Geschichte ein.
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Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Frankfurt/New York: Campus, 2016