Was ist deutsch? Über Dieter Borchmeyers Summe des Deutschtums

Was ist deutsch? Jemand, der 1056 Seiten vollschreibt, um diese Frage zu beantworten, ist es schon einmal ganz sicher. Spätestens mit dieser Leistung hat sich Dieter Borchmeyer die Berufsbezeichnung „Germanist“ auch als Ehrennamen verdient. Jeder, der diese 1056 Seiten freiwillig liest, dürfte aber auch zum Kreis der Verdächtigen gehören. Es erfordert zweifellos deutsche Härte, sich auf die Lektüre so einer teutonischen Riesenschwarte einzulassen. Die schiere Länge ist jedoch nicht die größte Herausforderung. Die schwierigste Hürde ist vielmehr die erste Seite, die unglücklicherweise die unangenehmste des ganzen Buches ist.

Kein Volk der Geschichte hat sich so unaufhörlich mit der eigenen Identität beschäftigt wie das deutsche.

Mit diesem Satz hebt das Werk an. Mit einer hohleren Phrase hätte Borchmeyer nicht beginnen können. Kennt er tatsächlich alle Völker der Welt und der Geschichte gut genug, um ein solches Urteil fällen zu können? Weiß er ganz sicher, dass die Kenianer, die Tadschiken und die alten Phönizier nicht doch noch ein bisschen mehr mit ihrer Identität gerungen haben? So wörtlich war’s gar nicht gemeint? Es sollte nur ein bisschen hyperbolisches Pathos in den ersten Satz, damit er schicksalsschwer klingt? Dummerweise imitiert der Satz auf diese Weise aber eben den deutschen Größenwahn, der eigentlich zu analysieren wäre. Außerdem legt der Autor auch Zeugnis ab von seiner Unkenntnis der modernen Nationalismusforschung, deren Beiträge sich tatsächlich auch im Literaturverzeichnis nicht finden lassen. Die Annahme, die Nation sei immer schon da gewesen und befinde sich bloß noch auf der „Suche nach sich selbst“, ist schon seit bald hundert Jahren widerlegt. Wir wissen heute, dass die Nation selbst erst ein Produkt der Geschichte ist. Der vermeintliche Charakter der Nation, ihre Geschichte, ja weithin selbst ihre Sprache werden erfunden von Menschen, deren politische und ökonomische Interessen zur Bildung eines Nationalstaates drängen. Was Borchmeyer abgeht, ist mithin auch die Einsicht, dass sein eigenes Buch ebenfalls nicht einfach eine sachliche Bestandsaufnahme, sondern ein Beitrag zu eben dieser ideologischen Nationsbildung ist.

Ärgerlich ist auch eine noch im ersten Absatz eingenommene Pose in Sarrazins Manier. Die „bloße Frage nach der deutschen Identität“, heißt es da, habe wegen des Dritten Reiches bis zur Wiedervereinigung zum „Kanon des Verbotenen“ gehört. Es gibt offenbar nicht nur Freudsche, sondern auch Germanistische Versprecher. Ein Kanon des Verbotenen heißt Index. Wenn einem Professor der Literaturwissenschaft das passende Wort nicht einfallen will, dann vielleicht deshalb, weil es der Sache nach ganz und gar nicht passt. Das vermeintlich in die „Tabuzone“ Weggesperrte wurde nämlich sehr wohl auch in der Zeit der deutschen Teilung unablässig bequatscht, gehörte also durchaus zum Kanon, wenn auch nicht dem des Verbotenen. Borchmeyer kann sich und die anderen Nationaldenker nur als Tabubrecher darstellen, indem er die Geschichte fälscht. Er ist es, der zum Beispiel ein für die nationale Debatte so wichtiges Werk wie das mitten in der Zeit des vermeintlichen Totschweigens erschienene Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965) von Ralf Dahrendorf totschweigt.

Das ganze Buch ist jedoch besser als sein Beginn. Natürlich wären noch weitere Schwächen aufzuzählen: Die Geschichte der nationalen Ideologie wird von Borchmeyer betulich und bieder erzählt als das Gespräch der großen Geister über Generationen hinweg: Goethe und Schiller, Fichte und Hegel, Nietzsche und Wagner, Walser und Grass. Die Populärkultur und der politische Diskurs abseits von Philosophie und hoher Literatur spielen kaum eine Rolle. Dass in einer solchen Erzählung Frauen überhaupt nicht vorkommen, versteht sich von selbst. Und dennoch: Wer Gelehrsamkeit alten Stiles erträgt oder sogar eine heimliche Schwäche für sie hat, für den kann die Lektüre sich lohnen. Einen größeren Wissensschatz zu diesem Thema dürfte kein anderer Deutscher aufgehäuft haben. Borchmeyer erzählt die Geschichte des nationalen Gedankens von der Goethezeit bis in die Gegenwart und berücksichtigt dabei fast alle wichtigen Stellungnahmen und Blickwinkel. Auch in politischer Hinsicht zeigt sich Borchmeyer im Laufe des Buches erträglicher, als der Anfang befürchten lässt. Beschränkter und völkischer Nationalismus sind ihm erkennbar zuwider. Eine Neigung hat er für die kosmopolitische Tradition innerhalb der deutschen Geistesgeschichte, wiewohl er auch die Gefahren nicht verkennt, die mit diesem Weltbürgertum verbunden waren und sind.

Borchmeyer eröffnet sein Buch mit einigen Kapiteln, die sich mit der Entstehung der deutschen Nationalideologie und -mythologie um 1800 beschäftigen. Die romantischen Frühnationalisten entwickeln angesichts der Vielzahl, Unterschiedlichkeit und Machtlosigkeit der deutschsprachigen Staaten ein Programm, nach dem eine deutsche Einheit in Kultur und Blut schon vorhanden sei, die dringend staatlicher Verkörperung bedürfe. Der Hass gegen den französischen Erbfeind und gegen die Juden als Fremde im eigenen Land ist ihnen Mittel zum Zweck. Demgegenüber sehen humanistische und kosmopolitische Denker wie Goethe in der Abwesenheit eines deutschen Zentralstaates geradezu einen Vorteil für die deutsche Kultur, die sich ihrer Ansicht nach durch Weltbürgerlichkeit vor allen anderen auszeichnet. In dieser Idee einer deutschen Berufung lag allerdings, wie Borchmeyer überzeugend nachweist, auch immer schon das Potenzial zum chauvistischen Missbrauch: Die europäische, ja menschheitliche Mission der Deutschen kann zur Rechtfertigung eines deutschen Imperialismus missbraucht werden. Borchmeyer schildert, wie im folgenden Jahrhundert die Deutschen beständig schwanken zwischen einem Nationalismus, der wegen ihres Minderwertigkeitskomplexes besonders aggressiv ist, und einem Kosmopolitismus, der die ganze Welt umarmen möchte, notfalls zwangsweise.

All diese Einsichten sind nicht neu. Ihre umfassende und zugleich detaillierte Zusammenstellung hat aber dennoch ihren Nutzen. Außerdem macht Borchmeyer auf wenig bekannte Verkünder und Kritiker des deutschen Volkscharakters aufmerksam. Bemerkenswerte Gestalten wie Bogumil Goltz oder Erich Kahler dürften bislang allenfalls Kennern bekannt gewesen sein. (Andererseits vermisst man aber auch manchen Akteur, wie etwa Saul Ascher, einen frühen jüdischen Kritiker des deutschen Nationalismus.) Besonders lesenswert sind die Kapitel, in denen Borchmeyer sich auf seine wissenschaftlichen Lieblingsfelder begeben kann. In einem Kapitel über „Deutschtum und Judentum“ erzählt er die Geschichte einer tragischen Verfehlung: Noch bis 1933 waren viele deutsche Juden überzeugt, eine wechselseitige Neigung bestehe zwischen Deutschen und Juden aufgrund des kosmopolitischen Charakters der beiden Völker. Bis zur Selbstopferung im Ersten Weltkrieg trieb viele Juden der Wunsch, als gleichwertige Mitbürger von den Deutschen anerkannt zu werden. Erst die Nationalsozialisten beendeten gewaltsam solche Illusionen. Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit der „deutschen Musik“, deren Weltgeltung für das Selbstbild der Deutschen lange von großer Bedeutung war. Wie Borchmeyer am Beispiel von Richard Wagner zeigt, vermengten sich auch hier humanistische und nationalistische Impulse auf höchst gefährliche Weise. Ein großer Abschnitt ist Thomas Mann gewidmet, der überhaupt der wichtigste Gewährsmann Borchmeyers im ganzen Buch ist. Er schildert die Entwicklung Manns vom rechten Verächter des westlichen Liberalismus in Betrachtungen eines Unpolitischen zum Verteidiger der Demokratie und entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus. Mann dient Borchmeyer so als Vorbild für jene Zähmung der nationalen Gesinnung durch übernationale Kultur, die er dem ganzen deutschen Volk ansinnt.

Ein selbstbewusstes, aber nicht abgeschottetes oder überhebliches Deutschland als „neue Mitte Europas“ – dies ist die politische Wunschvorstellung Borchmeyers. Mit der unvollkommenen, aber doch letztlich glücklichen Wiedervereinigung sieht er dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Er bewegt sich damit im Hauptstrom der Berliner Republik, der den deutschen Sonderweg beenden und Deutschland zur „normalen“ Nation unter anderen machen möchte, um so den militanten Chauvinismus und Rassismus der Vergangenheit endgültig zu überwinden. Wie leicht der vermeintlich gesunde Patriotismus sich in Krisen und Kriegen überall in den guten, alten Nationalismus zurückverwandelt, wird von Borchmeyer nicht bedacht. Auch der Hartnäckigkeit, mit der die Deutschen ihre Nation noch immer als Blutsgemeinschaft verstehen, spielt keine große Rolle in seinen Überlegungen. Menschen deutscher Sprache, die keine Sehnsucht nach Deutschland umtreibt, bleiben ihm letztlich unverständlich. Ihre Haltung wird mit der psychologisierenden Vokabel „Selbsthass“ abgetan. Doch auch wer mit Borchmeyers politischem Deutschtum nichts anfangen kann, sondern sich nur für die Geschichte des deutschen Nationalismus interessiert, wird den Band mit Gewinn lesen. Wer ihn am Stück nicht bewältigt, kann ihn immer noch gut als Nachschlagewerk nutzen. Nationale Begeisterung wird die Lektüre nicht wecken, dazu ist die Darstellung zu ehrlich.

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Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Berlin: Rowohlt, 2017, 1056 Seiten, 40 Euro

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