Ein Konservativer ist ein Mensch, der keine Vorstellung einer besseren Gesellschaft hat und deswegen verbissen das verteidigt, was immer schon war. Aber die Zeiten wandeln sich und kümmern sich wenig um die Trägheit der Zurückgebliebenen. Was scheinbar ewig galt, wird plötzlich absurd. Und die Konservativen müssen sich neue Dinge suchen, die angeblich unverzichtbar sind – bis auch die irgendwann verschwinden. So verteidigen die Konservativen regelmäßig das, was sie eine Generation vorher noch als Zeichen des Niedergangs verdammt haben. Gestern noch verwünschten sie die Wissenschaft, heute lobpreisen sie den technischen Fortschritt. Einst geißelten sie den Kapitalismus, gegenwärtig loben sie die freie Marktwirtschaft. Früher war ihnen die Monarchie die natürliche Ordnung des Staates, heute ist ihnen eine andere Gesellschaft als die bürgerliche undenkbar.
Dass Konservatismus ein Paradox ist, haben die Konservativen längst selbst eingesehen. Sie machen auch kein Geheimnis daraus, dass ihr Denken die Grenzen der Vernunft sprengt. Sie bekennen sich fröhlich zum Selbstwiderspruch: „Konservativ heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren“, sagte schon Franz Josef Strauß. Seitdem erklären alle paar Jahre neue Vertreter eines „modernen Konservatismus“, welche Neuerungen inzwischen erhaltens- und welche immer noch verdammenswert seien. Jüngst war es wieder einmal soweit. Was haben uns Tilman Kuban, der Vorsitzende der Jungen Union, und Carsten Linnemann, der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, wohl im konservativen Zentralorgan Die Welt zu sagen?
Die CDU hat einen neuen Chef. Mit Armin Laschet wollen wir dieses Jahrzehnt gestalten.
Eine gewaltige Euphorie hat die Konservativen nach der Wahl Armin Laschets offenbar nicht übermannt. „Du, wir haben einen neuen Chef“, so redet der Angestellte in der Betriebskantine, wenn der neue Abteilungsleiter gleich am ersten Tag Überstunden angeordnet hat. Wie in solchen Fällen hört man auch in der CDU einige Zähne knirschen:
Gleichzeitig gibt es unter den Anhängern der konservativ-wirtschaftsliberalen Idee große Enttäuschungen. Die 47 Prozent der Delegierten, die für Friedrich Merz gestimmt haben, zeigen eine tiefe Sehnsucht, unser Handeln wieder klar an Werten wie Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung und Freiheit des Einzelnen auszurichten.
Konservative sind seltsame Gesellen. Immerzu sehnen sie sich nach Werten, die es früher einmal gegeben haben soll, statt sich einfach nach einem Strandurlaub zu sehnen wie normale Leute. Und die Konservativen verlangen dann noch, alle anderen hätten bei der Suche nach dem verlorenen Wert mitzuhelfen.
In den vergangenen 70 Jahren hat die soziale Marktwirtschaft eindrucksvoll bewiesen, dass sie jeder anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überlegen ist. Es ist eben diese Ordnung mit ihren Grundprinzipien Freiheit und Wettbewerb, die in der Vergangenheit Topprodukte ermöglicht hat wie zuletzt die Entwicklung marktreifer Impfstoffe.
Soll man erwähnen, dass das marktreife Topprodukt Impfstoff nur entstanden ist, weil der Staat ihn bezahlt hat? Nein, das ist nicht weiter erwähnenswert, denn dass der Staat die Kosten trägt, während das Kapital die Gewinne einstreicht, ist keine Neuigkeit.
Es ist die Aufgabe der CDU als Partei der sozialen Marktwirtschaft, allen Kräften entgegenzuwirken, die den steten Veränderungen in der Welt mit immer mehr staatlicher Regulierung und Kontrolle begegnen wollen.
Was der moderne Konservatismus also bewahren will, das ist die stete Veränderung. Dagegen sind Menschen, die sich gegen Veränderungen zur Wehr setzen, womöglich weil die ihr Leben schlechter machen, die Gegner des Konservatismus. Man muss neidlos einräumen: Meister der Dialektik sind sie, die modernen Konservativen.
In einer Zeit des rasanten Wandels müssen wir deutlich machen, dass ein moderner Konservatismus nicht auf ein „Entweder-Oder“, sondern auf ein „Und“ setzt: Eigenverantwortung und Solidarität, Hightech und Heimat, Freiheit und Pluralismus sowie Sicherheit und Zusammenhalt sind für uns keine Gegensätze, sondern Werte, die zusammengehören.
Nicht zu vergessen: Sauberkeit und ein trockener Pelz – auch die gehören untrennbar zusammen. Kein Widerspruch, nirgends, wenn man nur fest genug entschlossen ist, keinen sehen zu wollen.
Wir blicken deshalb mit Sorge auf einen wuchernden Staat, der schon vor der gegenwärtigen Krise immer stärker um sich gegriffen, Risiken übernommen, mehr umverteilt und dadurch Freiräume begrenzt sowie Innovationskraft gebremst hat. Wir müssen jetzt deutlich machen: Das Leben beginnt nicht mit staatlicher Unterstützung, sondern mit Freiheit und dem Willen, die eigenen Lebensumstände und die seiner Familie zu verbessern.
Viel zu lange haben sich Säuglinge in Deutschland darauf verlassen, dass das Leben mit staatlicher Unterstützung beginnt. Ohne zu bezahlen, ließen sie sich von Ärzten auf die Welt bringen und von Müttern ernähren. Wir müssen diesen kleinen Schmarotzern beibringen, in Zukunft eigene Innovationskraft zu entwickeln und sich viel früher als bisher selbst um den eigenen Lebensunterhalt zu kümmern. Warum bemühen sie sich nicht um einen Job im Mittelstand? Doch sicher nur, weil die Bürokratie im Wege ist.
Die Krise ist der richtige Zeitpunkt, um zu hinterfragen, welche Berichts- und Dokumentationspflichten im Mittelstand wirklich nötig sind. Das aus der Zeit gefallene Arbeitszeitgesetz müssen wir dringend modernisieren, denn Arbeitnehmer wünschen sich heute mehr Flexibilität.
So sieht’s aus: Arbeitnehmer wünschen sich nichts dringlicher, als flexibel zu sein wie ein Stück Gummi. Sie wollen immer und überall arbeiten dürfen: im Büro und zuhause, vor dem Feierabend und danach. Am liebsten wär’s ihnen, sie müssten sich dabei nicht auch noch mit Lohn herumschlagen und dürften umsonst malochen. Aber auch das verhindern leider noch einige aus der Zeit gefallene Gesetze.
Für uns gehören Hightech und Heimat zusammen.
Das gilt für viele Menschen, die auf dem Land leben. Wie soll man es auch auf dem Dorf aushalten, wenn wegen des schlechten Netzes ständig der Porno hängen bleibt?
Denn bei allem Fortschritt, den wir vorantreiben wollen, ist uns stets bewusst, wie sehr wir einen Ort zum Krafttanken brauchen: unsere Heimat, unsere Freunde und allen voran die Familie als kleinste, aber wichtigste Keimzelle unserer Gesellschaft.
Das also sind Heimat, Freundschaft und Familie noch für den Konservativen moderner Bauart: zwar nicht mehr höchste Werte, aber doch immerhin noch Treibstoff zum Auftanken, damit draußen im unbarmherzigen Wettbewerb der ökonomische Motor weiterlaufen kann.
Auch deshalb muss der Staat stärker dort fördern, wo Kinder sind. Wir setzen uns daher für die Einführung eines Familiensplittings ein.
Familiensplitting? Ich dachte, die CDU wäre gegen Ehescheidungen? Oder soll sich etwa die Keimzelle der Gesellschaft zukünftig durch Zellteilung vermehren?
Unser Land ist auf die Einwanderung leistungsbereiter Menschen, die hier lernen, arbeiten und investieren wollen, dringend angewiesen. Klar ist aber auch: In einer wehrhaften Demokratie müssen wir jedem Zugewanderten auch etwas abverlangen, insbesondere das Bekenntnis zu unserem Grundgesetz, unseren Wertvorstellungen, der individuellen Leistungsbereitschaft und am Ende auch ein klares Bekenntnis zu einer Staatsbürgerschaft.
Unter dieser CDU haben’s Einwanderer nicht leicht, sie müssen einiges leisten. Aber das ist eben die Leistungsgesellschaft, von der die modernen Konservativen träumen. Der Einwanderer muss sich zum Grundgesetz und zur deutschen Staatsbürgerschaft bekehren, der gebürtige Sachse darf getrost Faschist bleiben und behält den Doppelpass: als Bundesdeutscher und Reichsbürger.
Wenn Rechtsextreme in Hanau, Halle oder Kassel Menschen ermorden, darf die reflexhafte Antwort nicht lauten: „Ja, aber es gibt auch noch den Linksextremismus.“ Solch schreckliche Taten sind nicht zu relativieren, sondern zu bekämpfen und als das zu bezeichnen, was sie sind: rechtsextremer Terror. Und wenn linke Autonome Gewalttaten beim G-20-Gipfel in Hamburg oder in Leipzig-Connewitz begehen, werden wir sie bezeichnen als das, was sie sind: linksextremer Terror.
Kurz gesagt: Wir dürfen nicht immer reflexhaft das Thema wechseln zum Linksextremismus, wenn vom Rechtsextremismus geredet werden muss. Und übrigens: Der Linksextremismus ist auch sehr schlimm.
Seit einigen Jahren stellen wir zudem fest, dass die gesellschaftlichen Fliehkräfte zunehmen.
Dass in den westlichen Gesellschaften, die immer rasender um sich selbst kreisen, die Fliehkräfte zunehmen, ist wenig überraschend. Vielleicht wären ein wenig Entschleunigung und Kontakt nach außen nicht schlecht, um wieder einen festen Standpunkt zu gewinnen. Aber gegen „Bremsklötze“ aller Art haben die modernen Konservativen etwas.
Traditionelle Bindungen zerfallen, das ehrenamtliche Engagement nimmt ab, das Misstrauen gegenüber „denen da oben“ wächst und die Sprache in den sozialen Medien verroht.
Es ist ein Jammer, wie alles vor die Hunde geht – und das, obwohl wir doch in der sozialen Marktwirtschaft, also der besten aller Welten, leben. Woran mag’s liegen, dass traditionelle Bindungen zerfallen, niemand mehr selbstlos helfen will, einer dem anderen misstraut und Gespräche in Pöbeleien enden in einem Land, in dem die „Freiheit des Einzelnen“ und „Wettbewerb“ als höchste Werte sogar von den Konservativen gepredigt werden? Es bleibt ein Rätsel, das zu lösen ich dem Verstand von Tilman Kuban, Carsten Linnemann und überhaupt denen da oben in der CDU nicht zutraue.
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Quelle: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus226317009/Zukunft-der-CDU-Aufbruch-fuer-einen-modernen-Konservatismus.html
Dieser Text entstand für die satirische Medienschau Phrase & Antwort, die ich gemeinsam mit dem Kollegen Maik Martschinkowsky fabriziere. Die nächste Ausgabe im Livestream gibt es am 24. März um 20 Uhr auf unserer Homepage oder unserer Facebook-Seite.