Joachim Krause im Westfernsehen

„Westfernsehen“ – so nennen deutsche Patrioten inzwischen die Neue Zürcher Zeitung. Zum Beispiel Hans-Georg Maaßen, ehemals Chef des Verfassungsschutzes und heute frei flottierender Rechtsradikaler. In Deutschland herrscht bekanntlich die linksmerkelianische Meinungsdiktatur der DDR 2.0. Rechte Medien existieren nicht mehr, Konservative sitzen geknebelt hinter Gittern. Da bleibt nur der heimliche Blick über die Schweizer Grenze, um in der NZZ zu erfahren, wie es im eigenen Land wirklich zugeht. Ein Geschäft mit doppeltem Gewinn: Die NZZ kann mit Hilfe des Geldes der deutschen Wutleser gut der allgemeinen Zeitungskrise trotzen. Allerdings muss sie nun auch regelmäßig Futter liefern und öffnet daher fast täglich einem bundesdeutschen Hobbydissidenten ihre Spalten. Jüngst war es ein Professor Joachim Krause aus Kiel, ein echter Politrebell, der aus seinem Ruhestand das Klagelied anstimmen durfte.

Als Deutscher begegne ich vor allem in Ostmitteleuropa und zunehmend auch in Skandinavien dem Vorwurf, die Deutschen stünden heute für liberale Intoleranz.

Wir wissen ja inzwischen schon länger, dass eine große Bedrohung vom Linksfaschismus ausgeht. Aber offenbar gibt es noch eine Paradoxie, vor der wir Angst haben müssen: den intoleranten Liberalismus. Worum mag es sich da handeln?

Als Liberaler habe ich mich lange gegen diese Kritik gewehrt, aber mittlerweile muss ich einsehen, dass viele von diesen Vorwürfen berechtigt sind. Es gibt fünf Felder, in denen die liberale Intoleranz vieler Deutscher unangenehm bei Nachbarn auffällt.

Unangenehm bei den Nachbarn auffallen – Joachim Krause kitzelt sehr geschickt eine Urangst der Deutschen, die bekanntlich seit jeher ängstlich darum bemüht sind, nicht durch exzentrisches Verhalten aus der Norm zu rutschen. Umgekehrt sitzt der Deutsche dann aber auch selbst auf Beobachterposten am Fenster, um zu überprüfen, ob nicht die Nachbarin vielleicht durch Normverstöße auffällt, die man maßregeln könnte.

Erstens gibt es eine Verachtung für die Nation und für alles, was mit staatlicher Souveränität zusammenhängt. Diese Haltung ist nachvollziehbar angesichts des Missbrauchs der Nation und des Patriotismus durch die Nationalsozialisten. Aber die Deutschen fallen oft von einem Extrem ins andere.

Wer erinnert sich nicht daran, wie die Deutschen gleich nach 1945 von einem Extrem ins andere gefallen sind, sämtliche Nazis an Laternen aufknüpften und die friedliche Selbstauflösung Deutschlands beschlossen?

Heute belehren deutsche Politiker und Vertreter der Medien und der Wissenschaft andere Europäer darüber, wie schädlich Nationalismus sei und wie wichtig vertiefte europäische Integration wäre. Von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen mag das richtig sein. Nur geht dieser Impuls an der Realität Europas vorbei. Die Mehrzahl der Staaten Europas sind Nationen, die lange um ihre Souveränität haben bangen müssen, die oft klein sind und wo die Menschen sich im Rahmen ihrer Nation geborgen fühlen. Das vor allem aus Deutschland kommende Drängen in Richtung auf mehr Integrationsfortschritte wird mit grosser Skepsis beobachtet. Europa ist für sie die Hülle, innerhalb deren ihre Nation Bestand hat, aber nicht das Brecheisen, mit dem die Nation ausgehebelt werden soll.

Hier muss ich Joachim Krause widersprechen: Für mich ist die Nation ganz eindeutig ein Brechmittel. Aber andere fühlen anders, zum Beispiel die 89 Prozent der Deutschen, die sich nach einer Umfrage selbst als Patrioten bezeichnen. Wenn es einen Plan zur Abschaffung der Nation gibt, scheint der nicht sonderlich gut zu funktionieren, in Deutschland nicht und noch weniger in Europa, wo Provinzdiktatoren ziemlich ungestört machen können, was sie wollen. Und dort, wo die Europäische Union etwas zu sagen hat, zum Beispiel an ihren Grenzen, verhält sie sich auch nur wie ein Nationalstaat, den man zu kontinentaler Größe aufgeblasen hat.

Zweitens ist in Deutschland zunehmend eine Herablassung gegenüber traditionellen Gesellschaftsvorstellungen zu beobachten. Es setzt sich mehr und mehr ein Narrativ durch, wonach die normale Form der Gesellschaft eine solche sei, bei der die traditionelle Familie ausgedient habe. Jedes Individuum soll seine Lebenschancen in freier Selbstbestimmung wahrnehmen – angefangen bei der Wahl des eigenen Geschlechts bis zum Studium für alle oder zum Berufsleben für Frauen als Regelfall. In vielen Ländern Ostmitteleuropas und Südeuropas ist grosse und berechtigte Skepsis gegenüber diesem deutschen Weg zu beobachten. Bei vielen herrschen traditionelle Vorstellungen von Gesellschaft und Familie vor.

„Jedes Individuum soll seine Lebenschancen in freier Selbstbestimmung wahrnehmen“ – das ist also für Joachim Krause eine Dystopie? Ich will eigentlich gern glauben, dass Herr Krause wirklich ein Liberaler ist, so wie er es von sich selbst behauptet. Aber es ist schon eine merkwürdige Form von Liberalismus, die er da pflegt. Gibt’s dafür schon einen Namen? Intoleranter Liberalismus vielleicht? Aber nein, das sind ja die anderen:

Mit grosser Sorge wird die bei vielen Deutschen zu beobachtende Intoleranz gegenüber traditionellen Vorstellungen gesehen. In Polen und Ungarn machen sich populistische und tendenziell demokratiefeindliche Kräfte diese Sorge zunutze, um sich an der Macht zu halten. Und auch der russische Präsident Putin bläst in dieses Horn.

Verstehen wir es richtig? Weil Demokratiefeinde im Osten mit Erfolg gegen individuelle Selbstbestimmung agitieren, sollten wir aufhören, für individuelle Selbstbestimmung zu kämpfen? Wir sollen also mehr Toleranz für die Intoleranz aufbringen, damit wir von Herrn Joachim Krause nicht als intolerante Liberale gegeißelt werden?

Drittens stösst die Fixierung auf Gerechtigkeit und den Gleichheitsgrundsatz als Grundmaximen einer Politik auf, die nationalstaatlich und international handeln will. Am deutlichsten wird das beim Thema Migration. […] Wenngleich es sich nicht um eine Mehrheit handelt, so gibt es in Politik und Medien viele, die fordern, dass Deutschland und Europa mehr oder weniger unbegrenzt Menschen aufnehmen sollen – im Namen von Humanität und Gerechtigkeit. Oftmals wird diese Offenheit mit den Verbrechen des Kolonialismus, mit den Auswirkungen des Kapitalismus oder damit begründet, dass unser Energieverbrauch Millionen von Klimaflüchtlingen hervorbringe, die wir jetzt aufnehmen müssten. Diese deutsche Vorstellungswelt erregt gerade bei Menschen in kleinen Nationen zu Recht völliges Unverständnis.

Die westlichen Staaten sollen eine Verantwortung tragen für Menschen, die wegen westlicher Kolonialkriege, westlicher Ausbeutung und westlicher Treibhausgase auf der Flucht sind? Ich gestehe, dass ich diesen Gedanken nicht gar so unverständlich finde.

Viertens wird die liberale Intoleranz deutlich in der Herablassung gegenüber Bedrohungsängsten der Ost- und Nordeuropäer. Nach der russischen Annexion der Krim und von Teilen der Ukraine geht in den baltischen Staaten, Polen, Schweden und Finnland die berechtigte Angst vor einer russischen Invasion um.

Schon wieder verstehe ich etwas nicht: Wenn die kleinen Staaten im Osten und Norden den westlichen Liberalismus so verabscheuen, wieso fürchten sie sich dann vor Väterchen Putin, der ihnen doch nur Rettung brächte vor den grausamen Zerstörung der traditionellen Familie?  Warum eilen sie nicht stattdessen in seinen warmen Schoß?

Potenziell gefährlich ist fünftens die Verabsolutierung der Klimaproblematik. Es ist unbestritten, dass der Klimawandel eine Bedrohung für die gesamte Menschheit darstellt und dass es weitgehender Umstellungen unserer Wirtschaft und unseres Lebens sowie umfangreicher technologischer Innovationen bedarf, um den Ausstoss der Treibhausgase zu stoppen und die Folgen des Klimawandels abzumildern. Aber die Art und Weise, wie heute in Deutschland im Sinne eines intoleranten Liberalismus Klimapolitik betrieben wird, ist hysterisch, kurzsichtig und anmassend. Sie zielt darauf ab, alle anderen politischen Anliegen und alle Alternativen zu einer weitgehend von den Grünen vorgegebenen Klimapolitik zu unterdrücken. Das hier deutlich werdende autokratische Moment einer intoleranten liberalen Klimapolitik stellt eine Gefährdung der Demokratie dar.

Kurz gesagt: Wir brauchen einfach mehr Hitzetoleranz. Und in Ländern, die genug Geld haben, um Klimaanlagen, Löschflugzeuge und Dämme zu bauen, sagt sich das erfrischend leicht.

In Deutschland haben wir erlebt, wie die beiden grossen Volksparteien – die SPD und die Unionsparteien CDU/CSU – sich von der Welle des intoleranten Liberalismus haben einnehmen lassen. […] Merkel hat in ihrer Amtszeit viele Positionen des intoleranten Liberalismus übernommen und Kritiker aus ihrer eigenen Partei verstummen lassen. Es ist zu hoffen, dass nach den hohen Verlusten bei der Bundestagswahl die Stimmen der Vernunft in der Union wieder Auftrieb bekommen. Denn ein Deutschland, dessen Politik von der Intoleranz eines progressiv gewandelten, postmodernen Liberalismus gesteuert wird, ist eine Belastung für Europa.

Hoffen wir also alle gemeinsam, dass Deutschland nach der Merkel-Diktatur endlich wieder zu dem regressiven, vormodernen Liberalismus zurückkehrt, mit dem es in vergangenen Zeiten für Europa und die Welt ein einziger Segen war.

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Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/gerechtigkeitswahn-oder-klimawandel-deutschland-eckt-an-ld.1650483

Dieser Text entstand für die satirische Medienschau Phrase & Antwort, die ich gemeinsam mit dem Kollegen Maik Martschinkowsky in Berlin fabriziere. Die nächste Ausgabe gibt es am 24. November um 2o Uhr im Franz-Mehring-Platz 1.

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