Der liebste Vorwurf der Konservativen gegen die Fortschrittlichen lautet, diese wollten das Neue um seiner selbst willen. In dieser Tirade spiegelt sich aber nur der grundlegende Denkfehler der Konservativen selbst: Sie sind es, die das Alte bewahren wollen, weil es alt ist. Es habe sich nun einmal „bewährt“ und sei daher dem Neuen vorzuziehen. Mit dieser Logik aber lassen sich auch angestammte Traditionen wie die Sklaverei, die Hexenverbrennung oder der Oberlippenbart verteidigen. Um zu entscheiden, ob etwas bewahrenswert ist oder nicht, braucht es keine Altersprüfung, sondern eine Entscheidung der Vernunft.
An Prinzipien, nach denen sich die Vernunft richten kann, fehlt es den Konservativen aber. Sie schreiben sich mangels eigener Ideen gerne abstrakte Qualitäten zu: Konservative seien besser vertraut mit der konkreten Wirklichkeit und frei von ideologischen Vorurteilen. Seltsam, dass die Programme dieser Meister des Konkreten immer so abstrakt sind! Dumm auch, dass die Konservativen in der Geschichte ziemlich oft daneben lagen: Sie verteidigten den Feudalismus gegen die liberale Gesellschaft, die Monarchie gegen die Volksherrschaft, die Macht der Männer gegen die Emanzipation der Frauen. Sie waren so klarblickend und vorausschauend, einem gewissen Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers anzuvertrauen.
Gut, dass die Menschheit auf die Konservativen nur selten gehört hat. Dieses Verfahren hat sich inzwischen bewährt, wir sollten es fortsetzen. Wäre immer alles so geblieben, wie es war, wäre nichts so, wie es heute ist. Ich glaube dabei keineswegs, Konservative wären völlig unnütz. Jedes Fahrzeug braucht sicherheitshalber eine Bremse. Nur sollte man nicht erwarten, mit einer Bremse beschleunigen oder lenken zu können.
Wer eine Gesellschaft fortentwickeln und das Leben der Menschen verbessern will, der muss Experimente wagen und Neues ausprobieren. Wo Bedenkenträger und Untergangspropheten das Sagen haben, stirbt das Leben ab. Allerdings muss man Versuche nach dem Erfolg beurteilen, der sich in der Wirklichkeit zeigt, und im Fall des Scheiterns auch den Mut haben, Neuerungen zurückzunehmen. In solchen Fällen kann es dann tatsächlich vorkommen, dass die Konservativen ausnahmsweise auch einmal Recht haben.
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Dieser Text erschien zuerst als Kolumne der Rubrik Besorgte Bürger in der Sächsischen Zeitung.