Lass uns über Gefühle reden! So mancher Mensch erschauert, hört er diesen Satz, vorgetragen vom Partner mit ernster Miene. Doch müssen auch wir heute einmal über Gefühle reden. Beginnen wir mit den Gefühlen auf dem Brocken. Über diesen höchsten Gipfel des Harzes hörte ich einmal in einem Wetterbericht im Radio, es herrsche dort gerade eine Temperatur von minus 2 Grad, die sich aber wegen des scharfen Windes wie minus 12 Grad anfühle. Ich fing augenblicklich an zu zittern, denn die Kälte auf dem Brocken konnte ich sogar aus der Entfernung fühlen. Herrschte demnach nicht auch in meinem gut beheizten Zimmer nun eine gefühlte Temperatur von minus 12 Grad? Wenigstens für einige Augenblicke? Oder zumindest von minus 2 Grad? Den Unterschied zu bestimmen, würde mir schwerfallen, denn soweit ich mich erinnere, fühlen sich minus 2 Grad und minus 12 Grad ziemlich ähnlich an, kalt nämlich.
Temperaturen misst man mit dem Thermometer. Aber wie werden gefühlte Temperaturen gemessen? Stellt man da irgendeinen Mann testweise auf den Gipfel des Brockens, möglichst unbekleidet, um die Messwerte nicht zu verzerren, und fragt ihn: „Wie fühlst du dich?“ Und er antwortet: „Minus 12 Grad?“ – „Ganz sicher? Nicht minus 11 oder minus 13?“ Stoppt man die Zeit, die er in der Kälte aushält, bevor er nach einem Glühwein verlangt? Misst man nach, um wie viele Zentimeter sein empfindlichstes Körperteil zusammenschrumpft? Hat diese Art der Gefühlsmessung eigentlich Grenzen? Wie sieht’s aus, wenn schon minus 273,2 Grad Celsius herrschen – und dann kommt auch noch ein kühles Lüftchen auf?
Bei den gefühlten Temperaturen, die Meteorologen seit einiger Zeit verkünden, geht es wohl hauptsächlich darum, dem Publikum zu schmeicheln. „Liebe Kunden, wir kümmern uns nicht nur um die kalten Fakten, wir wollen eure Herzen wärmen, indem wir uns um eure Gefühle sorgen! Euer Empfinden ist es, das zählt, denn ihr seid die, die zahlen. Am liebsten würden wir euch jeden Tag Sonnenschein ansagen, nur um eure Gefühle zu schonen und euer Wohlbefinden zu erhöhen. Aber leider beschwert ihr euch ja auch bei uns, wenn es dann doch regnet. Ganz unabhängig habt ihr euch von den Tatsachen eben noch nicht gemacht, deswegen können wir das auch nicht tun, so gern wir es würden.“
Dass die Welt sich oft anders anfühlt, als sie ist, kann man gar nicht bestreiten. So dehnt sich beispielsweise die Zeit, wenn man sich in einer Regionalbahn auf der Fahrt nach Gera befindet. Auch der Raum ist relativ: Selbst ein Fahrstuhl mit einem Volumen von 10 Kubikmetern bietet nicht genug Platz für zwei Menschen, wenn einer von ihnen soeben einen Döner mit Knoblauchsoße verzehrt hat. 20 Kilogramm werden zu 200 Kilogramm, handelt es sich bei ihnen um eine Umzugskiste des Ex-Partners. Wir wissen schon lange um diese Relativität der Wahrnehmung. Neu aber ist in unseren Tagen der Anspruch vieler Leute, die Welt möge sich gefälligst ihren Empfindungen entsprechend einrichten. „Du, sorry, aber könntest du vielleicht mal damit aufhören, vor meinen Augen Erdbeereis zu essen? Ich find das ganz schön rücksichtslos von dir! Weißt du nicht, dass ich allergisch gegen Erdbeeren bin? Du triggerst mich grad total!“
Vor einer Weile sorgten Berliner Student*innen dafür, dass das Gedicht eines alten weißen Mannes von der Fassade ihrer Hochschule verschwand. Ihrer Interpretation zufolge reproduzierte das Gedicht, in dem die Worte „Frauen“ und „Bewunderer“ vorkamen, patriarchalische Muster. Die Student*innen fühlten sich durch den Anblick des Gedichtes bedrückt, ja geradezu bedroht. Sie warfen dem Poeten nicht unmittelbar Sexismus vor, sondern begnügten sich damit, festzustellen, das Poem verursache ihnen einfach ein „komisches Bauchgefühl“. Deshalb müsse es weg. Ich finde, die Student*innen haben alles Recht, selbst zu entscheiden, wie ihre Universität angepinselt werden soll. Als ich ihre Begründung hörte, bekam ich aber dennoch ein komisches Bauchgefühl. Es passiert mir immer öfter in letzter Zeit, dass es mich triggert, wenn andere Leute sich getriggert fühlen.
Wenn komische Bauchgefühle von nun an als Argumente gelten, weiß ich nämlich nicht mehr, wie ich noch dem sächsischen Wutrentner widersprechen soll, der so ein komisches Bauchgefühl hat, seit Menschen mit dunkler Haut in seiner Nachbarschaft eingezogen sind. Statistiken brauche ich ihm gar nicht erst vorzulegen, denn er wird mir erwidern, die seien leider nicht in der Lage, etwas gegen seine gefühlte Bedrohung auszurichten. Nur konsequente Abschiebungen könnten da wirklich helfen. Was wollen wir ihm entgegnen? Wir brauchen gegen Donald Trumps alternative Fakten jedenfalls nicht mehr protestieren, wenn wir Gefühle als Alternative zu Fakten akzeptieren. Gegen Gefühle ist kein Widerspruch möglich. Wir können den Leuten nicht die Schädel aufbrechen, um festzustellen, ob die Gefühle wirklich so aussehen, wie sie es uns sagen. Gefühle lassen sich nicht widerlegen. Niemand kann sich über seine eigenen Gefühle täuschen. Nichts liegt da näher, als daraus zu schließen, die eigenen Gefühle könnten nie täuschen. Um sich von diesem Fehlschluss zu kurieren, genügt es aber eigentlich, sich daran zu erinnern, in welchen Menschen man in der achten Klasse so verliebt war, dass man ihn für das großartigste Wesen des Planeten gehalten hat.
„Der Mensch ist das Maß aller Dinge!“, soll ein Sophist im alten Griechenland gelehrt haben. Diese Maxime ist schon zweifelhaft genug. Ganz unangenehm wird es aber, wenn jeder Mensch für sich persönlich beansprucht, eben der Mensch zu sein, der das Maß aller Dinge sei. Wer sich selbst zum Maßstab für alle anderen erhebt, dem werden die Mitmenschen stets unpassend erscheinen. Damit sie passen, müssen sie passend gemacht werden, erniedrigt zum Beispiel oder gleich einen Kopf kürzer. Reden die anderen das Falsche, muss man ihnen das Maul stopfen. Haben die anderen die falsche Farbe, bittet man einen Anstreicher, die Macht zu übernehmen.
In einer Welt, die von Gefühlen regiert wird, herrscht mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Friede, Freude und veganer Eierkuchen, sondern Krieg. Denn Gefühle sind ständig beleidigt oder verletzt, Gefühle lassen nicht mit sich reden, Gefühle sind Diktatoren. Dass Gefühle trotzdem einen guten Ruf, Tatsachen aber einen schlechten haben, ist verständlich. Viele Tatsachen sind ja wirklich ziemlich unangenehme Gesellen. Sie sehen hässlich aus, sie nerven, sie machen uns traurig. Man denke nur an so widerwärtige Tatsachen wie Nazis, Hundescheiße oder Bananenweizen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele empfindsame Menschen nichts mehr mit solchen Fakten zu tun haben wollen und sich lieber mit dem beschäftigen, was in ihrem eigenen Bauch so vor sich geht. Ich denke aber, es ist besser, wenn wir bei den Tatsachen bleiben und ihnen ins Auge schauen. Ein paar von denen lassen sich mit etwas Mühe vielleicht sogar ändern.