Anselm Lenz, der liberale Revolutionär

Sich einem harmlosen Diktat ganz selbstverständlich zu fügen ist eine süße und runde Sache. (Max Goldt)

 

Gleichschaltung. Ruhe vor dem Sturm. Sonnige und zugleich frostige Frühjahrstage. Sternklare Nächte. Stille. Kein Flugzeug am Himmel. Eine Berliner Luft, so klar wie in den Bergen. Aber auch eine Taubheit, eine allgemeine Absenz. Eine Abwesenheit.

Ein Mann. Der Schreibt. Und glaubt. Dass man. Mit kurzen Sätzen. Und einzelnen Wörtern. Und einzelnen Fremdwörtern. Tiefste Bedeutung. Und epochalen Weitblick. Simulieren. Kann. Dieser Mann heißt Anselm Lenz und ist Initiator der Demonstrationen, die samstäglich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin stattfinden und sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie richten. Über Jahre arbeitete Anselm Lenz zuvor in der Branche des ästhetischen Interventionismus und produzierte mit staatlicher Unterstützung Kapitalismuskritik. Eine Tätigkeit, die ihn offenbar nicht ganz erfüllte.

Die Tiere sind unruhig. Es sind wohl Drosseln. Die zwei Vögel im Hof bekämpfen einander, wie ich es noch nie gesehen habe. Es scheint, als würde der Switch zur De-facto-Diktatur auch die Natur verändern. 

Schon in seiner früheren Schaffensphase zitierte Lenz gerne die Band Tocotronic, weil es wohl keinen besseren Weg gibt, das Herz von urbanen Akademikern mittleren Alters aufzuschließen. Und im Namen der Natur zu sprechen, das ist ohnehin nie verkehrt. „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Diese Glaubenslehre des Jean-Jacques Rousseau macht bis heute Freunden der Ökoesoterik wie Sozialdarwinisten die Augen feucht und die Birne weich. So wird es einem Naturfreund schon einmal nachgesehen, wenn er nicht mit letzter Sicherheit Drosseln bestimmen kann, dafür aber genau weiß, dass die vermutlichen Drosseln aufgeregt sind, weil sie Angela Merkels jüngste Regierungserklärung gelesen haben. In der nämlich wurde die De-facto-Diktatur verkündet. Das Schöne an einer De-facto-Diktatur im Gegensatz zu einer Diktatur ist, dass man in ihr den Rebellen spielen kann, ohne ernsthafte Folgen fürchten zu müssen.

Meine Regierung hat alle Grundrechte außer Kraft gesetzt, für die wir seit 1789 gekämpft hatten. Und dies, um nun eine „Corona“ an die absolutistische Macht zu bringen.

Ein wenig früh vergreist sieht er schon aus, der Anselm Lenz, ein wenig altklug wirkt er auch. Aber dass der Mann schon 1789 auf der Barrikade stand, das mag man doch nicht so recht glauben. Damals ging’s oft auch sehr rabiat zu. Die neue Revolution gegen den Corona-Absolutismus ist hingegen so friedlich, dass selbst ein zerbrechliches Geschöpf wie er in ihr zum Helden werden kann.

Eine Königin, die kleiner als eine Erbse ist. Und einfach ihr idiotisches Programm abspielt, gnadenlos öde. Es sei ja umstritten, ob so ein Virus überhaupt zum Lebendigen gezählt werden könne. Es fuddelt so vor sich hin. Und all das nur, um sich selbst zu erhalten als seelenloses Programm.

Anselm Lenz hat sich einem Wikipedia-Studium der Virologie nicht verschlossen. Und siehe da: Es ist nicht einmal sicher, ob Viren überhaupt leben. Wie sollen sie dann bitte töten können?

… wenn das Leben im Westen auf einmal ein kräftiges Air von Lukaschenko atmet. Kann mich mal jemand kneifen? Den fanden die doch früher ganz furchtbar, die uns jetzt alle in ein blitzsauberes, aber langweiliges Minsk verklappen wollen. Gesund, aber isoliert.

Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko ist bekannt dafür, dass er Oppositionelle auf der Straße verprügeln lässt. Ruft Anselm Lenz also vielleicht nach der Peitsche, die ihn züchtigt? Sein Verhältnis zu Angela Merkel ist womöglich komplexer als gedacht. Etwas scheint ihn an diese Frau zu binden. Sonst würde er doch nach Minsk auswandern, wo Corona geleugnet und anders als im Rest von Europa das gewöhnliche Leben kaum beschränkt wird.

Die Parlamente meines Landes haben sich unterworfen. Eine Opposition findet in der Repräsentation nicht statt. Damit findet keine Repräsentation statt. Eigentlich findet gar nichts statt, was eine Demokratie ausmacht. Auch nicht im Oberstübchen.

Angesichts der Verwirrung, die im Oberstübchen von Anselm Lenz herrscht, scheint er nicht der Befugteste, um über die Inneneinrichtung der Demokratie zu urteilen. Er hat ja noch nicht einmal einen Blick in den Bundestag geworfen, wo die Opposition so unverdrossen Merkel geißelt wie seit Jahren schon. Es aber als Diktatur zu brandmarken, nicht selbst allein an der Macht zu sein, das kannten wir bislang nur von der AfD.

Im Grunde ist es müßig, sich noch länger mit dem Virus aufzuhalten. — Ja: Der Virus mit dem königlichen Namen existiert. Er ist nicht völlig ungefährlich, aber jedenfalls ungefährlicher als die Grippeinfektwellen der beiden vergangenen Jahre. Das Leben auf der Erde geht weiter. Zum Leben gehört, wie jeder Mensch weiß, auch der Tod. Möge er spät eintreten und erst nach langer Zeit bei voller Gesundheit. Das sei jedem Menschen gewünscht.

Ich muss mich geschlagen geben. Die Großmut, Anselm Lenz nicht die Seuche an den Hals zu wünschen, um ihn aus seiner eitlen Pose der Überlegenheit zu reißen, die habe ich nicht. Dass er anderen Menschen den Tod nicht wünscht, sei aber lobend erwähnt. Er nimmt ihn bloß achselzuckend in Kauf. Die Natur will es. Das Leben geht weiter, zumindest seins.

Ja: Es gab in China und im norditalienischen Bergamo Ausnahmeereignisse, die medizinisch aufgeklärt werden müssen. Ja: Die Seuchenbekämpfung wird erfolgreich sein. Man wird zurecht Supermarktkassiererinnen, Sanitäter und Ärztinnen mit den größten Preisen behängen. Allein, an der singulären Ungewöhnlichkeit der Seuche selbst wird es nicht gelegen haben.

Der Virologe Lenz weiß schon, dass die Seuche, die in Italien eine bloße Ausnahme ist, aber in der Geschichte überhaupt keine Ausnahme, bald besiegt worden sein wird. Das beruhigt. Dann muss nur noch medizinisch aufgeklärt werden, warum so viele Menschen an einer ungefährlichen Krankheit gestorben sein werden. Und das trotz der drakonischen Maßnahmen, deren Nutzlosigkeit für Lenz gewiss ist, weil sie die Wirkung entfalten, die er bestreitet.

Wird man sich fragen? Was war denn mit denen los: Der freien Presse, der Opposition in den Parlamenten, der kritischen Intelligenz? Wo waren eigentlich die Linken? Genauso umgefallen wie alle anderen.

Wer lieber stehen bleibt, wenn ein Anselm Lenz zum Marsch aufbricht, ist umgefallen? Hier leidet vielleicht doch nur ein Mann unter einem Knick in der Optik.

Wie fühlt es sich an, wenn man als Politiker eigentlich nur noch damit beschäftigt ist, den Beschimpfungen aus dem Weg zu gehen. Nicht einmal daran denken kann, durch ein Stadtviertel zu laufen, ohne dass einem faule Eier um die Ohren fliegen — oder ärgeres. Wenn man einen hochbezahlten Top-Job beim Fernsehen hat, aber die Musik längst woanders spielt. Wenn man seine Liturgie singt im leerem Kirchenschiff. Und dass schon seit langen, langen Jahren. Wenn man einfach nicht mehr kann, weil es keiner mehr will. Nein, die seit Ende 2019 deutlich einsetzende Weltrezession hätte keine Regierung überlebt. Keine.

Was Luxemburg, Lenin und Trotzki vergeblich erhofften und zu erkämpfen suchten, die Weltrevolution – siehe, sie ist nahe! So spricht Anselm Lenz! Sämtliche Protestbewegungen der vergangenen Jahre führten alle nur auf einen Weg, den zu ihm! Er ernennt sich tatsächlich zum geschichtlichen Erben von Occupy Wall Street, Gelbwesten und Fridays for Future. Und nur die Corona-Diktatur hindert die Völker der Welt noch daran, von Anselm Lenz in eine goldene Zukunft geführt zu werden! Wir Schlafschafe fragten uns bislang naiv: Warum sollten die Staaten der Welt, von Weißrussland und Nordkorea abgesehen, ihren Wohlstand gefährden, wenn Corona harmlos wäre? Anselm Lenz klärt uns auf: Alle Regierungen der Welt, von China bis Sachsen, haben sich verschworen, die Gefahr von Corona zu erfinden, um uns in einer unausweichlichen Weltrezession autoritär regieren zu können. Eine wahrlich umfassende Weltverschwörung! Da sind sicher Profis am Werk, die sich in diesem Business auskennen.

Aus Sicht einer Republik, der res publica, war es ab 2007 im Grunde vorbei mit diesem Kapitalismus. Und alle wussten das auch. […] Die Neo-Fürsten begannen, sich Bunker zu bauen. […] Und sie ließen zurück: Ihre treuesten Vasallen im Virus-Fieber. […] Sprechen wir es aus: Es war einmal die freie Presse. Es war einmal die parlamentarische Opposition. Es war einmal die Republik dem Wortsinne nach, die res publica, also jene Gesellschaftsform, in der die Öffentliche Sache publik gemacht und von allen Seiten her diskutiert werden kann. Sie haben sie einfach gedroppt, kann ja weg. Woher dieser Wille zur Selbstverleugnung? — Sicher, nicht wenige Journalisten sind dumm und kommen über den stressig tickenden Ticker kaum hinaus. Klar, die meisten Berufspolitiker sind nicht durch ihre Auffassungsgabe in Position gekommen. Nun gut, die wenigsten Promis haben etwas auf dem Kasten.

Über das Phänomen der Dummheit sollte einer schweigen, der so dumm ist, derart offenherzig auszuplaudern, was ihn wirklich antreibt: der Neid des verkrachten Akademikers auf diejenigen, die es im System nach oben geschafft haben. Gebt Anselm Lenz bitte endlich einen Posten mit einer Bezahlung, die seinen überragenden Geistesgaben angemessen ist!

Dass die Neoliberale Epoche eine Reise in die Nacht sein würde — das war wohl jedem klar, der ökonomisch denken kann. Der sich damit beschäftigt hat, wie Produktionsverhältnisse auf den menschlichen Geist, die Kulturproduktion, und wieder zurück wirken. Wie langfristig epochale Entwicklungen laufen. Und wie wenig aussagekräftig die immer neuen Trends sind, die uns in den letzten Jahren in Augen, Ohren und Verstand gebrezelt worden waren. Der ganze Digitalismus hat kein einziges gutes Abendessen, keine einzige rauschende Liebesnacht, kein einziges gutes Gespräch mehr bewirkt. Hättest du doch öfter mal deine Mutter angerufen, solange Du noch konntest.

Der arme Anselm! Er hatte sich so viel von seinem Leben versprochen. Doch nun werden die ersten Haare grau und der Erfolg ist immer noch nicht da, obwohl man tapfer gegen den Neoliberalismus gekünstelt hat, wie’s gerade Mode war. Da schuftet man jahrelang im „Zentrum für Karriereverweigerung“, aber die Karriere will einfach nicht beginnen. Wo könnte man nun noch Anschluss und ein Gnadenbrot finden?

Ach ja, wes‘ Lied ich sing‘? Das war hier die Frage. Nun, ich denke, ich singe jetzt mit den Liberalen. Die Gedanken sind frei. So ziehe ich mit Euch, Schwestern und Brüder, die Reste der Aufklärung zu verteidigen. Die Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen. Die Freiheitsrechte. Die Wissenschaftlichkeit. Die Freizügigkeit. Und, um sie gegen Schlechteres zu verteidigen, auch für die liberale Nationalstaatlichkeit.

Einen Revolutionär, der den Neoliberalismus mit dem Liberalismus austreiben will, den hat die Welt noch nicht gesehen. Nun ist es soweit. So endet also das „Kapitalismustribunal“: mit einer Revolte fürs Recht aufs Arbeiten und Konsumieren, die bestens mit den längst erhörten Rufen der Unternehmer zusammenpasst, die Profitmaschine ohne Rücksicht auf menschliche Verluste wieder anzuwerfen.

Denn singen wir das Ah, ça ira! nun nicht zu laut, das Streitlied der Sansculotten und der Jakobinerinnen der liberalen französischen Revolution. Nicht, dass am Ende wirklich noch jemand zu Schaden kommt. Verfeinern wir das durchaus verständliche Bedürfnis, Rache zu nehmen, in Aufbruchsgeist. Als kritische Intelligenz — Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Denkerinnen, Juristen, Soziologinnen —, müssen wir nun auch für jene einen Ausweg bauen, die in ihrer jeweils ganz eigenen finalen Sackgasse vor die Wand gerannt sind. Und schon sehr bald in schummerigem Taumel stürzen oder flüchten werden wollen. Versuchen wir, die wir — aus welchen Gründen auch immer — gerade einen ausgeruhteren Verstand haben, als jene, die jetzt ihre Karriere, ihr Vermögen, ihre alten Seilschaften, ihre politischen Buddies dahinsinken sehen, ihnen einen gnädigen Ausweg zu bauen. Eine Seitengasse ins Neue. Einigen wir uns darauf: Ja, Corona wird eine Pandemie gewesen sein. Und du hast es ja nur gut gemeint. (Mit deiner erbärmlichen Unterwerfung unter die Psycho-Welle — aber das sagen wir dir nicht.)

Dies also ist das Lebensproblem des Anselm Lenz: Immer wieder sagt er das, was er doch verheimlichen will. Der arme Tropf, der Sansculotten zu Liberalen fälscht, weil sein eigenes Rebellentum nicht über bürgerliche Unzufriedenheit hinausreicht, der imaginären Gefolgsleuten die Rache verbietet, die er sich selbst so dringlich wünscht, der politische Gegner in einer Sackgasse sieht, in der er selbst herumirrt. Möge die FDP seiner Seele gnädig sein und ihm nach einiger Buße die Aufnahme nicht verweigern!

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