Zitat des Monats April

Die erste subjektive Bedingung alles echten Philosophierens ist – Philosophie im alten Sokratischen Sinne des Worts: Wissenschaftsliebe, uneigennütziges, reines Interesse an Erkenntnis und Wahrheit: man könnte es logischen Enthusiasmus nennen; der wesentlichste Bestandteil des philosophischen Genies. Nicht was sie meinen, unterscheidet den Philosophen, und den Sophisten: sondern wie sie’s meinen. Jeder Denker, für den Wissenschaft und Wahrheit keinen unbedingten Wert haben, der ihre Gesetze seinen Wünschen nachsetzt, sie zu seinen Zwecken eigennützig mißbraucht, ist ein Sophist; mögen diese Wünsche und Zwecke so erhaben sein, und so gut scheinen, als sie wollen.

Friedrich Schlegel

Termine der Woche

Am Donnerstag (11. April) lese ich wieder mit der Dresdner Lesebühne Sax Royal in der scheune. Neue Geschichten und Gedichte gibt es von den Kollegen Stefan Seyfarth, Roman Israel, Julius FischerMax Rademann und von mir. Max hat zudem als besondere Zugabe noch die Weltpremiere eines brandneuen Songs versprochen! Los geht es um 2o Uhr.

Am Freitag (12. April) geht es dann wieder nach Görlitz, wo ich mit den Kollegen Udo Tiffert und Max Rademann wieder als Lesebühne Grubenhund im Kino Camillo gastiere. Wie stets haben wir uns auch noch einen Gast eingeladen: Es ist diesmal der junge Autor Tobi Krone aus Jena. Los gehts es um 20 Uhr.

Büchner und das liebe Geld

2013 jährt sich der Geburtstag des Dichters, Naturwissenschaftlers und Sozialrevolutionärs Georg Büchner zum zweihundertsten Mal. Ein solches Jubeljahr bietet für Verlage stets auch die gute Gelegenheit, passende Bücher auf den Markt zu werfen, um von der medialen Aufmerksamkeit zu profitieren. So erscheint vom Autor Jan-Christoph Hauschild, der vor genau zwanzig Jahren eine wissenschaftlich fundierte, aber nicht unumstrittete Biografie Büchners veröffentlichte, ein neues Buch: Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit. Sieht man genauer hin, stellt man nun aber leider fest, was auch im Anhang kleinlaut zugegeben wird: Es handelt sich gar nicht um eine neue Arbeit, nicht einmal um eine gründlich überarbeitete Fassung der alten Biografie, sondern bloß um eine gekürzte Version ohne Anmerkungen und Quellennachweise. Um das Buch nicht zu dick werden zu lassen, hat der Autor kurzerhand auch die Kapitel über Kindheit und Jugend Büchners weggelassen. Damit die Sache trotzdem rund aussieht, beginnt das Buch mit einem Kapitel über die Krankheit, die Büchner im Alter von dreiundzwanzig Jahren dahinraffte. Die ersten Seiten schildern auf höchst poetische Weise das Wetter in der Schweiz im Jahr 1836. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass Jan-Christoph Hauschild dem Protagonisten seiner Biografie mehrfach vorwirft, er habe Bücher nur des Geldes wegen geschrieben. Hauschild beklagt an einer Stelle, Büchner habe für sein Debütwerk, das Drama Danton’s Tod, umgerechnet nur „kümmerliche 1660 Euro“ erhalten. Wir wünschen dem Biografen, dass seine ökonomische Spekulation lohnender sein möge. Für den Leser lohnend ist sie aus genannten Gründen kaum.

Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2013. 352 Seiten. 22,99 €.

Zitat des Monats März

„Gutmüthig und tückisch“ – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andere Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben!

 (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, 8/244)

Messetagebuch

Mein Tagebuch der Leipziger Buchmesse ist diesmal ein Tagbuch, denn nur einen Tag, eigentlich nur einige Stunden, weilte ich vor Ort. Kurz nach Mittag bestiegen die Autoren der Lesebühne Sax Royal am Sonntag den Kleinbus des Künstlers Frank Z., der auch ein Virtuose der Fahrkunst ist. Eine kleine Rast an der Autobahnraststätte frischte uns und unsere Getränkevorräte auf. Schneller als gedacht erreichten wir das Messegelände. Unser Verleger schleuste uns durch den Hintereingang in die Messehalle 5 – wo sich auch die inzwischen als Oase der (relativen) Ruhe bekannte Leseinsel der jungen Verlage befindet. Bevor ich mit den Kollegen daselbst las, stromerte ich noch eine Weile durch die Gänge. Gedrängel und Lärm sind mir freilich nicht lieb. Und ist man weder zwecks Geschäftemacherei noch Bücherklau da, ist so ein Besuch auf der Messe eigentlich herzlich langweilig. Die womöglich einzige Art, auf der Buchmesse Spaß zu haben, ist es, Verleger an ihren Ständen mit dem Satz „Guten Tag, ich schreibe auch!“ zu erschrecken. Schön war es, dass sich zu unserer Lesung allerlei Zuhörer sammelten, denen unsere Texte auch ganz wohl behagten. Noch ein Fläschchen Astra aus den verborgenen Vorräten unseres Verlages Voland & Quist – und wir machten uns mit dem Taxi auf den Weg in die Stadt. Freund und Kollege André Herrmann hatte uns die Gaststätte Stadt Borna zur Einkehr empfohlen, war dabei aber nicht eingedenk, dass besagter Gasthof die Eigenheit hat, am Sonntag um 15 Uhr zu schließen. So latschten wir Beladenen zum Hipsterlokal Hotel Seeblick. Es war überfüllt, wie in Messetagen ja „das bessere Berlin“ an der Pleiße überhaupt etwas überfordert scheint. Der sonst ganz angenehme Ort wurde durch die Liveübertragung eines Fußballspiels zur akustischen Hölle. Rezitationen von Rilke-Gedichten, wie sie sonst in unserem Kreis Usus sind, mussten diesmal also unterbleiben. Nach Verzehr von einiger Nahrung bewegten wir uns in das UT Connewitz, das Verrottung und Charme auf einmalige Weise miteinander vereinigt. Wir kletterten in die Loge und betrachteten von dort aus, wie sich der Saal beinahe restlos füllte. Eine gewisse Müdigkeit machte sich bei allen bemerkbar. Doch kaum auf der Bühne empfing uns eine Wärme des Wohlwollens, die uns sogleich auftaute. Es ward ein ausgesprochen schöner Abend. Unser Verleger brachte sogar einige von den wenigen verbliebenen Restexemplaren unseres Buches Eine Lesebühne rechnet ab an die Frau und den Mann. Alle Anwesenden entschuldigten sich als übermüdet („vier Tage Messe, ich kann nicht mehr …“) oder stellten sich als spaßbremsend („ich muss das Fasten durchziehen“, „ich kann doch morgen nicht besoffen in den Kindergarten“) heraus. Also beschloss auch ich, noch in selbiger Nacht mit dem letzten Zug nach Berlin zurückzukehren. Meine Hoffnung auf eine letzte S-Bahn wurde enttäuscht und kostete mich arg viel Geld. Dafür erlebte ich Berliner Taxifahrerlieblichkeit der echtesten Sorte: „Wennse sich jetz noch anschnallen, kömmer ooch ma losfahrn!“ Leipzig, du verlotterte Schönheit, im nächsten Jahr gerne wieder!

Termine der Woche

Eine ereignisreiche Woche steht bevor: Da wäre zunächst die Dresdner Lesebühne Sax Royal am Donnerstag (14. März) in der scheune. Da lese ich ab 20 Uhr neue Texte gemeinsam mit den Kollegen Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth sowie dem Julius Fischer ersetzenden Stargast Ehud Roffe (Israel).

Wie stets am Tag drauf, also am Freitag (15. März), trägt Max Rademann und mich eine Regionalbahn ins schöne Görlitz, wo wir gemeinsam mit Udo Tiffert im Kino Camillo als Lesebühne Grubenhund auftreten. Die Dresdnerin Morné Mirastelle wird als Gastautorin mit uns reisen und lesen. Los gehts um 20 Uhr.

Und dann ist da ja auch noch die Leipziger Buchmesse! Die Lesebühne Sax Royal gastiert aus diesem Anlass mal wieder in der Schwesterstadt, in der ja inzwischen auch zwei der Royalisten wohnen – genauso viele, wie noch in Dresden ausharren. Also: Michael Bittner, Julius Fischer, Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth präsentieren am Sonntag (17. März) ab 21 Uhr im UT Connewitz eine Auswahl ihrer besten Geschichten, Gedichte und Lieder aus dem letzten Jahr.

Mut zur Courage

Die folgenden – ja, was eigentlich? sagen wir mal: – Reflexionen habe ich am 9. März 2013 bei der Gedenkveranstaltung „Lasst uns das Erinnern nicht vergessen“ zum Jahrestag der Dresdner Bücherverbrennung am 8. März 1933 im Kabarett Breschke & Schuch vorgelesen.

Jedes Jahr im Februar spricht man in Dresden über Zivilcourage. Was ist das überhaupt? Zivilcourage ist im Deutschen ein Fremdwort. Wie kommt es wohl, dass wir uns die Zivilcourage von gleich zwei fremden Völkern, den alten Römern und den neuen Franzosen, ausborgen müssen? Offenbar reicht uns der deutsche Mut nicht, ja nicht einmal die Kühnheit, die Tapferkeit und die Furchtlosigkeit zusammen ergeben Zivilcourage. Erklären kann man sich das wohl so: Die Deutschen zeigten Mut in ihrer Geschichte immer nur auf Befehl. Auf Kommando stürmten sie auf dem Schlachtfeld voran und sprangen dem Erbfeind tapfer an die Gurgel. Aber wieder zu Hause wurde von den Kriegshelden kein Mut mehr verlangt, sondern Gehorsam. Hier galt es, den Anordnungen des Kaisers, Führers oder Staatsratsvorsitzenden Folge zu leisten, ansonsten still zu sein und sich unauffällig zu verhalten. Dass man auch im alltäglichen Leben, also in Zivil, Mut zeigen kann, war den Deutschen so fremd, dass sie seltene Fälle dieser Art Courage nannten. Denn die unerreichten Meister des zivilen Ungehorsams, von den Deutschen drum bewundert und verachtet, sind nun einmal die Franzosen. Was die Deutschen hingegen sehr gut können: über Zivilcourage debattieren und sie energisch von anderen einfordern.

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Herzlich willkommen!

Liebe Freunde und Kollegen, geehrte Leser, unglückliche Zufallsbesucher: Ich befinde mich mit sofortiger Wirkung im Besitz dieser Homepage, auf der Sie alles finden, was man auf einer Homepage gewöhnlich so sucht. In der Rubrik „Journal“ werde ich zudem bedeutsame Neuigkeiten und ab und zu auch literarische Texte bekannt machen. Damit das Journal nicht so trist und leer aussieht, habe ich schon ein paar ältere Beiträge veröffentlicht, die einst im Blog der Lesebühne Sax Royal bereits das Licht der Welt erblickten. Selbige Seite werde ich im Übrigen natürlich auch weiterhin befüttern. Ich wünsche Freude beim Lesen, hoffe auf wiederholten Besuch in der Zukunft und verbleibe mit herzlichen Grüßen, Michael Bittner.

Bemerkungen zur zeitgenössischen deutschen Lyrik. In Knittelversen

Der junge deutsche Lyriker,
Er hat es wahrlich allzu schwer.
Hat er nicht fleißig promovieret,
So wird er nimmer etablieret.
Ganz ohne germanistisch’ Segen
Braucht er die Feder gar nicht regen.
Der neueste Gedankendichter
Schreibt nicht für Pöbel und Gelichter.
Er hat der Käufer ja gar keine,
Ihn schert’s nicht, was der Leser meine.
Er dichtet für Institutionen,
Denn die verteil’n die Subventionen.
Ohn’ Preise und Stipendien
Tät schnell sein Leben endigen.
Den Launen von Kulturamtstrinen
Muss jeder Dichter heute dienen.
Die Politik soll er drum meiden,
Kritik wirkt allzu unbescheiden.
Man frage nicht nach seiner Haltung,
Er freut sich an der Silbenspaltung.
Es schreibt sich unbedingt bequemer,
Ist’s Schreiben immer selbst das Thema.
Ihn kümmern nicht profane Ohren,
Er singt vorm Fenster der Lektoren.
Er möchte nicht die Muse daten,
Er dichtet für die Interpreten.
Ein Wort, das sich allein erkläret,
Das ist banausisch, ungelehret.
Nach den entlegensten Zitaten
Lässt er den Leser daher raten.
Ist’s Büchlein nur auch schön hermetisch,
Gilt er als unerhört prophetisch.
So schreibt er von Permutationen,
Vom Pleistozän und Klimazonen,
Stochastik und Signifikanten
Und Richard Wagners Patentanten.
Doch ach! Das Feuer will nicht zünden.
Warum? Er kann es nicht ergründen.
Wie er auch die Synapsen geigt:
Die Poesie – sie gähnt und schweigt.

Briefe aus Berlin (3): Jonathan Meese und Durs Grünbein geben eine Pressekonferenz zur Diktatur der Kunst

Zufällig entdeckte ich in einer Zeitschrift den Hinweis auf eine Veranstaltung: „Jonathan Meese und Durs Grünbein geben eine Pressekonferenz zur Diktatur der Kunst.“ Ich strich mir den Tag rot im Kalender an. Durs Grünbein, der hochdekorierte Großdichter aus Dresden gemeinsam auf einer Bühne mit Jonathan Meese, dem berüchtigten Kunstprovokateur? Das wollte ich mir gerne ansehen.

Der große Saal des Hauses der Berliner Festspiele ist nur spärlich gefüllt, als ich in einen der gepolsterten Sessel sinke. Ein Manifest von Meese und ein Gedicht von Grünbein werden an die Bühnenwand geworfen. In beiden geht es um die Kunst, das Manifest ist stumpf und klar, das Gedicht rätselhaft und fragil. Die zwei Protagonisten betreten den Saal, freundlicher Applaus. Grünbein eröffnet die Pressekonferenz, er zappelt auf seinem Stuhl wie ein Schuljunge und verknotet immer wieder seine dünnen Beine unter dem Tisch. Jonathan Meese trägt eine schwarze Lederjacke, langes schwarzes Haar und verschiedene schwarze Sonnenbrillen, die er in kurzen Abständen wechselt. Er müsse viel leiden für seinen Einsatz für die Diktatur der Kunst, sagt Meese. Er sei auch einsam, denn er habe ja kaum Anhänger. Vor Jahren seien es drei gewesen, heute nur noch zwei. Niemand wolle ihm auf seinem Weg folgen. Und dann verliert Meese sich in eine Vision: Er ist auf einem Schiff unterwegs, einem Schiff der Kunst. Und von den Inseln locken ihn die Stimmen der Sirenen von Politik und Religion. Alle Freunde gehen einer nach dem anderen von Bord, er allein bleibt auf Kurs und der Kunst absolut treu.

Grünbein sagt, er habe noch nicht alles verstanden und stellt Nachfragen. Vor sich auf dem Tisch hat er Notizzettel ausgebreitet, offenbar hat er sich auf eine gemütliche Podiumsdiskussion vorbereitet. Aber Meese achtet nicht weiter auf die Fragen, sondern bricht gleich wieder in eine Predigt aus. Nach wenigen Sätzen schlägt seine etwas quäkige Stimme in Geschrei um. Es klingt, als versuchte Kermit der Frosch sich an einer Imitation von Adolf Hitler. „Der Kunst darf man sich nicht in den Weg stellen!“, brüllt er. „Die Diktatur der Kunst richtet sich gegen die Weltdiktatur der Demokratie! Alle Macht muss von der Kunst ausgehen, nicht vom Volk!“ Und dann zählt er auf, womit Kunst nichts zu tun haben dürfe: mit Politik, mit Religion, aber auch mit Individualität und Kreativität und Freiheit. Alle Parteien seien gleich scheiße, alle Religionen gleich überflüssig. „Bei den Tieren funktioniert es doch auch ohne! Tiere haben keinen Gott, Tiere gehen auch nicht wählen! Sie folgen ihrem Instinkt! Sie sind die wahren Künstler! So müssen wir auch der Kunst gehorchen! Die Kunst gibt Befehle und wir haben zu dienen! Niemand darf mehr wählen gehen, niemand darf mehr beten oder beichten! Das verbietet sich von selbst! Die Kunst ist versachlichte Führung! Das ist die neue Gesellschaftsordnung, die wir brauchen! Das ist doch geil! Das ist doch Wahnsinn! Ich verstehe nicht, warum das nicht alle so geil finden wie ich!“

Es gibt vereinzelte Klatscher im Publikum und vereinzelte Zwischenrufe, aber keine Empörung. Nur einige ältere Herrschaften verlassen den Saal – wahrscheinlich, weil ihr Held Durs Grünbein kaum zu Wort kommt. Der erzählt unterdessen eine Anekdote: Lady Gaga habe sich ein Zitat von Rilke auf den Arm tätowieren lassen, in dem es auch um den absoluten Anspruch der Kunst geht. Aber Meese ist überfordert damit, ein gewöhnliches Gespräch zu führen. Oder er hat keine Lust dazu. Eine junge Frau beschwert sich, dass Meese auf eine E-Mail nicht geantwortet habe. „Das muss ich auch nicht! Du sollst nichts fragen, du sollst strammstehen!“ Der Saal lacht. Dieser Meese hat auch einen unwiderstehlichen Lausbubencharme, der so gar nicht zum Diktator der Kunst passen will. Ist das vielleicht alles nur Spaß? Man weiß es nicht.

Entweder Meese ist die höchste Konsequenz der Avantgarde oder ihre Karikatur. Die Kunst ist ihm das Absolute, sie soll autonom sein und nur ihr eigner Zweck. Aber gleichzeitig soll an der absoluten Kunst auch die Welt genesen, die Realität soll Kunst werden. „Ich will, dass die ganze Welt eine Bühne wird“, sagt Meese. „Wenn heute diese Bühne, auf der wir sitzen, sich nur um fünf Zentimeter ausweitet, haben wir schon viel erreicht.“ Aber für Meese ist die Kunst nichts als die bewusstlose Ordnung der Natur, also liefe so eine Diktatur der Kunst auf die Abschaffung der Zivilisation hinaus. Was Meese sagt, ist so absurd, dass man es nicht ernst nehmen kann. Aber er sagt es mit einem Ernst, der keine Zweifel zulassen will. Meese nimmt einen Standpunkt ein, der so radikal ist, dass er nicht weniger als alles verwerfen kann. Und zugleich spielt er seine Rolle so naiv, dass ihm mit keinem vernünftigen Argument beizukommen ist.

„Es geht auch nicht um mich“, sagt Meese. „Ich habe keine eigene Kunst, ich diene der Kunst. In der Kunst etwas zu können, ist abträglich. Es gibt Leute, die sagen, ich könne gar nicht malen. Natürlich nicht! Warum auch?“ – „Sie sind aber auch arrogant!“, ruft eine Frau aus dem Publikum. „Nein, das kommt Ihnen nur so vor!“, ruft Meese zurück. „Ich muss hier ja auch meine Rolle spielen, damit mir überhaupt jemand zuhört.“ Grünbein will wissen, warum Meese sich denn zur Kunst berufen fühle. „Weil es so leicht ist!“, sagt Meese. „Es ist Instinkt. Malen ist wie Scheißen! Natürlich und notwendig.“

„Ich hab noch ein Geschenk für dich mitgebracht, Urs!“, sagt Meese irgendwann. „Ich meine: Durs – Urs, Durs, Schnurs, egal.“ Meese öffnet seine Tasche und holt zwei kleine Plüschtiere heraus, eine Grille und eine Mücke, die auf Knopfdruck Geräusche von sich geben. „So, und jetzt lese ich noch mein Manifest!“ – „Wollen wir das nicht vielleicht weglassen?“, fragt der sichtlich erschöpfte Grünbein zur Erleichterung des Publikums. „Nein, ich lese das jetzt!“, lehnt Meese ab. „Sie können ja gehen, wenn Sie wollen. Ich lese das ja nicht für Sie, sondern für die Kunst!“ Und so liest er sein Manifest, jeden Punkt mit sadistischer Lust an der Qual mehrfach wiederholend. Traubenweise verlassen Zuschauer den Saal. Als das verbliebene Publikum endlich mit einem stürmischen Schlussapplaus das Ende einfordert, hält Meese noch einmal die Plüschmücke ans Mikrofon und lässt sie summen: „Ist das nicht wahre Kunst?“

Eine kürzere Fassung dieses Berichts erschien bereits in der Sächsischen Zeitung. Der Autor dankt für die Möglichkeit zur Wiederveröffentlichung. Meine wöchentliche Kolumne in der Sächsischen Zeitung kann man immer am Sonnabend im “Magazin” lesen.