Am Mittwoch (4.12.) lese ich zum letzten Mal in diesem Jahr neue Geschichten in Dresden bei meiner Lesebühne Sax Royal in der GrooveStation. Mit dabei sind Roman Israel, Gesine Schäfer und als Gäste Mandana und Piet Weber aus Berlin. Los geht es um 19:30 Uhr. Karten gibt es an der Abendkasse oder auch schon im Vorverkauf.
Podcast „Titelstory“ #9: Was heißt: Kämpfen für den Frieden?
Der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine hat auch in Deutschland Gewissheiten erschüttert, Zerwürfnisse zwischen einst Gleichgesinnten hervorgerufen und das politische Feld umgepflügt. Faschisten demonstrieren plötzlich für Frieden, während Vertreter einer einst pazifistischen Partei nach Waffen rufen. Die Friedensbewegung scheint schwach und gespalten gerade in einer Zeit der Kriege und der globalen Aufrüstung. In der neuen Folge des Podcasts „Titelstory“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen habe ich über das Thema mit Pascal Beucker gesprochen. Er ist Journalist bei der taz und Autor des neuen Buches Pazifismus – ein Irrweg?
Die Bilder siegen über den Krieg. Über Clemens Meyers Roman „Die Projektoren“
Als Schriftsteller verband man Clemens Meyer bislang vor allem mit seiner Heimatstadt Leipzig. In seinem autobiografisch geprägten Debütroman „Als wir träumten“ (2006) schilderte er junge Menschen in der wilden Leipziger Nachwendezeit, im zweiten, erzählerisch komplexeren Roman „Im Stein“ (2013) Gestalten des Leipziger Rotlichtmilieus. Nach elf Jahren Arbeit ist nun sein dritter Roman „Die Projektoren“ erschienen, in dem Leipzig erstmals nur noch eine Nebenrolle spielt. Wichtigster Schauplatz im neuen Buch ist Jugoslawien und das, was von ihm übrigblieb.
Podcast „Titelstory“ #7: Driftet die Jugend nach rechts?
Bei den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen wurde die AfD mit 31 Prozent stärkste Kraft. Wenn in Bautzen Neonazis gegen den CSD aufmarschieren, laufen auch Teenager grölend mit. Wo liegen die Ursachen dafür, dass Rechtssein bei einem großen Teil der jungen Leute nicht nur im Osten derzeit angesagt ist? Was können die Schulen, die politische Bildung und die Zivilgesellschaft dagegen tun? Über diese Fragen habe ich für den Podcast „Titelstory“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen mit Anja Besand gesprochen. Sie ist Professorin für die Didaktik der politischen Bildung an der TU Dresden.
Termine der Woche
Am Dienstag (17. September) lese ich um 20 Uhr als Gastautor bei der Lesebühne LSD – Liebe statt Drogen. Sie besteht aus den Mitgliedern Andreas „Spider“ Krenzke, Uli Hannemann, Tobias „Tube“ Herre, Meikel Neid und Ivo Smolak. Ort des Geschehens ist der Schokoladen in Berlin-Mitte.
Am Mittwoch (18. September) reise ich nach Halle, wo ich wieder einmal bei der sehr guten Lesebühne Kreis mit Berg mittun darf. Zum Thema „Expeditionen in die Provinz“ lese ich mit den Stammautoren Peter Berg und Christian Kreis. Andy M. macht Musik. Los geht es um 20 Uhr in der Volksbühne am Kaulenberg.
Am Donnerstag (19. September) kehrt meine Berliner Lesebühne Prunk & Prosa aus der Sommerpause zurück auf die Bühne der UFA-Fabrik. Seuchen machen es ein wenig ungewiss, wer alles mit neuen Geschichten und Liedern auf der Bühne stehen wird, aber ziemlich sicher sind es neben mir mindestens Noah Klaus sowie die famosen Gäste Susanne M. Riedel und David Weber, hoffentllich auch Tilman Birr und Piet Weber. Start um 20 Uhr. Tickets könnt ihr gern auch schon im Vorverkauf erwerben.
Am Sonnabend (21. September) bestreite ich gemeinsam mit meinem Freund und Kollegen Max Rademann einen Auftritt beim KULA Literaturfestival in Chemnitz. Wir lesen ab 15:30 Uhr im Kulturhaus Arthur eine Auswahl unserer schönsten Texte aus jüngerer Vergangenheit.
Neues Buch: „Sind Antisemitisten anwesend? Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass“
Am Anfang dieses Jahres hatte mein Kollege Heiko Werning eine gute Idee: Warum nicht eine literarische, satirische Anthologie zusammenstellen, um all jene Autorinnen und Autoren zu versammeln, die den Ausbrüchen von Antisemitismus nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel etwas entgegensetzen wollen? Die anschreiben wollen gegen die Gleichgültigkeit und die – heimliche oder offene – Sympathie mit den Judenmördern, die es gerade auch in der Kulturszene gibt? Verleger Volker Surmann vom Satyr Verlag zeigte sich sofort offen für das Projekt – obwohl auch ihm klar war, dass ein solches Buch nicht nur auf Zustimmung träfe, sondern auch auf Hass. Die Schriftstellerin Lea Streisand steuerte nach ihrer Zusage als Mitherausgeberin nicht nur den Titel des Buches, prominente Beiträgerinnen und Beiträger sowie hervorragende eigene Texte bei, sondern auch viele Ideen aus der sehr persönlichen Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Familiengeschichte. Dass auch ich als Mitherausgeber an der Entstehung dieses Buches mitwirken konnte, war mir eine Ehre. Auch ich konnte einige wertvolle Kollegen überzeugen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Inhaltlich lag mir besonders die politische Bedeutung des Themas am Herzen. Wie nicht anders zu erwarten, waren auch wir drei nicht immer einer Meinung und führten schwierige Debatten, wie sie auch die Gesellschaft führt: Was ist Antisemitismus? Wie lässt er sich kritisieren, ohne sich als Kritiker für immun und überlegen zu erklären? Darf man sich über Judenhass lustig machen oder verharmlost man ihn damit? Wie kritisiert man hasserfüllten Antizionismus, ohne den Eindruck zu erwecken, man stünde auf der Seite der rechtsradikalen Regierung Netanjahus? Wie schreibt man über linken und islamistischen Antisemitismus, ohne rechten Ressentiments Futter zu geben? Wir waren auch am Ende nicht in allen Fragen einer Meinung – aber das ist auch gar nicht nötig. Unser Vorwort spiegelt unsere Debatte und stellt die Grundgedanken vor, denen wir gefolgt sind. Das Buch ist am Ende doppelt so dick geworden, als wir eigentlich geplant hatten. Viel mehr Menschen als anfangs erhofft haben sich beteiligt. Dafür sind wir dankbar. Zu Autorinnen und Autoren aus der Lesebühnenszene und der komischen Literatur sind viele weitere Schreibende anderer Genres gekommen, dazu auch Menschen aus der Musik und dem Kabarett. Stolz sind wir auch auf die vielen Cartoons, die dem Buch noch mehr Farbe und Witz geben. Alle Beiträge haben gemein, dass sie das Thema nicht wissenschaftlich trocken oder journalistisch angehen, sondern literarisch, persönlich und pointiert. Ob das Buch gelungen ist, können jetzt natürlich nur die Menschen entscheiden, die es lesen. Mögen es viele sein! Das Buch erscheint am 2. September.
Mit Beiträgen von: Ahne, Ramona Ambs, Mareike Barmeyer, Christian Bartel, Katja Berlin, Michael Bittner, Bov Bjerg, Annika Blanke, Samy Challah, Henning Christiansen, Franz Dobler, Danny Dziuk, Fritz Eckenga, Hartmut El Kurdi, Alexander Estis, Jan Feddersen, Leo Fischer, Flix, Stefan Gärtner, Katharina Greve, Thomas Gsella, Olaf Guercke, Teresa Habild, Hauck & Bauer, Franziska Hauser, Uli Hannemann, Ruth Hebler, André Herzberg, Björn Högsdal, Roman Israel, Jess Jochimsen, Dimitrij Kapitelman, Karsten Krampitz, Christian Kreis, Andreas „Spider“ Krenzke, Björn Kuhligk, Ariane Lemme, Charles Lewinsky, Fabian Lichter, Markus Liske, Clint Lukas, Julia Mateus, Manfred Maurenbrecher, Til Mette, Anselm Neft, Rattelschneck, Jessica Ramczik, Susanne M. Riedel, Leo Riegel, Michael Ringel, Stefanie Sargnagel, Bettina Schipping, Richard Schuberth, Lea Streisand, Dana von Suffrin, Volker Surmann, Klaus Stuttmann, Mark-Stefan Tietze, Bodo Wartke, Peter Wawerzinek, Benjamin Weissinger, Ella Carina Werner, Heiko Werning, Elke Wittich, Harriet Wolff, Tim Wolff, Miriam Wurster, Erica Zingher
Bei den Wäldlern
Immer ist mir ein wenig unheimlich zumute, wenn ich in Bayern unterwegs bin. Ich spreche vom wirklichen Bayern, also nicht von München. Das zählt nicht. Dort leben auch zugezogene Nordlichter und die Leute wählen Sozialdemokraten zu Oberbürgermeistern. Ich spreche vom ländlichen Bayern. Das sieht immer aus, wie Amerikaner sich Deutschland vorstellen: grüne Almen, auf denen bimmelnde Rinder weiden; saubere Fachwerkhäuser mit geraniengeschmückten Balkonen; braungebrannte Burschen in Lederhosen, die lachend aus ihrem BMW steigen. Nirgendwo siehst du ein Graffito, einen Junkie oder eine Fabrikruine. Gerade das ist das Unheimliche: In diesem sauberen Bayern scheinen nur Menschen zu leben, die freundlich und zufrieden sind. Vielleicht müsste man hinter die Kulissen blicken. Aber vielleicht ist hinter den Kulissen gar nichts, jedenfalls keine hässliche Wahrheit. Womöglich sind diese Bayern einfach tatsächlich so rundum glücklich, wie sie ausschauen. Und all der Frust, alle Rebellion und Weltverbesserungswut der Leute anderswo in Deutschland muss ihnen unverständlich bleiben und lächerlich erscheinen.
Ich bin zu Besuch im Bayerischen Wald. Dessen Bewohner nennen sich selbst „Wäldler“ und finden nichts dabei. Die Pension, in der ich unterkomme, ist seit mehr als einhundert Jahren in Familienbesitz. Im Gastraum an der Wand hängt das Foto einer historischen Speisekarte aus dem Jahr 1931, auf der einst ein Mittagessen für 80 Pfennige, ein Viertelliter alkoholfreier Apfelsaft für 35 Pfennige und ein kleiner Bocksbeutel Kitzinger Sonnenstrahl für 60 Pfennige angeboten wurden. Auf der aktuellen Speisekarte ist alles ein wenig teurer. Die Wirtsleute sind noch jung, ihre kleine Tochter hilft abends in der Gaststube mit, nimmt die Bestellungen auf und bringt Bier und Wasser an die Tische. Die Wirtsleute behandeln mich freundlich, aber zugleich auch mit einer gewissen Scheu. Die steigert sich noch, als ich nach dem ersten Frühstück darauf verzichtete, fürderhin einen üppigen Wurstteller auf den Tisch gestellt zu bekommen. Sonderbare Wesen, diese Berliner! Ich bemühe mich, wenigstens durch meinen Bierkonsum Normalität auch nach bayerischen Maßstäben zu signalisieren.
Auch im Bayerischen Wald ist die Globalisierung eingetroffen. Und zwar in Form des Drüsigen Springkrauts, das allerorten wuchert, an Wegesrändern, Bachläufen und Bahndämmen. Es stammt ursprünglich aus Indien, wurde zunächst als Zierpflanze in Gärten geholt und hat sich von dort aus eigenständig in der deutschen Natur verbreitet. Tüchtig unterstützt wurde es dabei von den einheimischen Insekten, die leider wenig Patriotismus zeigen. Sie lieben das exotische Springkraut, denn es hat viel süßeren Nektar als die urdeutschen Gewächse. Seine violetten Blüten gleichen liebevoll geöffneten Mündern, denen die Bienen den Kuss nicht verweigern können. Bestäubte Blüten verwandeln sich in Kapselfrüchte, die bei kleinsten Berührungen platzen und ihre Samen in der Umgebung verstreuen. So ist das Drüsige Springkraut nicht nur attraktiv für Insekten, sondern auch für mich. Es macht nämlich riesigen Spaß, die Kapseln mit den Fingern zur Explosion zu bringen – so wie es ja überhaupt meistens Freude bereitet, Lebewesen bei der Fortpflanzung behilflich zu sein. Aber das Drüsige Springkraut hat nicht ausschließlich Freunde: Manche hassen es als fremden Eindringling. Tatsächlich verdrängt es eine Pflanze, die uns Deutschen besonders lieb und wert sein muss: die Große Brennnessel. Der Bayerische Wald-Verein soll tatsächlich Versuche unternommen haben, das Drüsige Springkraut wieder auszurotten – offenbar nur mit mäßigem Erfolg. So ist trotz tapferen Widerstandes der Einheimischen Deutschland durch das fremde Kraut ein bisschen bunter und süßer geworden.
Ich sitze in der Waldbahn, die gemütlich zwischen den Örtchen des Gebirges tuckert. An einem Bahnhof steigen Touristen ein und setzen sich in meine Nähe. Sie sprechen einen süddeutschen Dialekt, den ich nicht zuordnen kann. Ein seltsames Grüppchen ist das: ein einzelner Mann mit drei Frauen, womöglich seine Mutter, seine Frau und seine Schwester. Der Mann entpuppt sich schnell als Exemplar der Sorte unangenehmer Witzemacher. Ununterbrochen ruft er Scherze wie „Fahrkarten, bitte!“ oder „Hier riecht’s nach Landwirtschaft!“ Seine drei Frauen fühlen sich verpflichtet, über jeden seiner Sprüche zu kichern. Das ermutigt ihn leider noch. Keine Sekunde der Stille gönnt er den anderen Menschen im Zug. Vielleicht trifft er den Humor seiner Frauen, vielleicht haben sie auch nur seit Jahrzehnten nicht den Mut, ihm zu sagen, dass er nicht witzig ist. Während wir durch einen dunklen Fichtenwald fahren, beginnt er nach einem Blick aus dem Fenster einen Monolog: „Guck dir das an, der ganze Wald voller Heidelbeeren! Musst du nur pflücken! Ich sag mal: Wenn einer arbeitslos ist, dann kann der hier in den Wald gehen und Heidelbeeren ernten. Mit einem Kamm kannst du da locker drei Kilo in der Stunde sammeln. Das machst du zehn Stunden, dann hast du 30 Kilo am Tag. Dann gehst du fünf, nein, dann gehst du sechs Tage die Woche in den Wald, dann hast du 180 Kilo die Woche, die du auf dem Markt verkaufen kannst. Da verlangst du meinetwegen zehn Euro das Kilo und du hast 1800 Euro in einer Woche verdient! Da brauchst du dem Staat nicht mehr auf der Tasche liegen. Das ist auch gesund, da können die sich bewegen und kommen an die frische Luft! Wenn ich der Staat wäre, würde ich die Arbeitslosen sofort in den Wald schicken!“
Diesmal bin ich es, der über den Witzbold kichern muss. Er ähnelt selbst wenig einem tüchtigen Waldburschen, ist vielmehr übergewichtig und riecht wie ein voller Aschenbecher. Gewiss war er nie arbeitslos, hat eine sichere Arbeit oder hatte sie vor seiner Rente. Vielleicht im kaufmännischen Bereich? Das würde erklären, wieso ihm beim Blick auf die Natur sogleich ein Plan ins Hirn schießt, wie die Natur sich noch besser ausbeuten ließe. Aber nicht genug: Er muss sich auch gleich noch vorstellen, wie man im Wald andere an die Arbeit schicken könnte. Er kann die mit sich selbst zufriedene, ruhige Natur nicht betrachten, ohne unzufrieden zu werden mit jenen, deren Leben aus seiner Sicht zu ruhig verläuft. Selbst ist er in den Ferien, aber andere will er schuften sehen – die Arbeitslosen, die er im ewigen Urlaub wähnt. Nur leider fehlt ihm die Macht, um seine Bestrafungsfantasien in die Tat umsetzen. Wenn ich der Staat wäre – der Sonnenkönigstraum des kleinen Mannes.
Ich bin erstaunt und froh, dass es mir gelingt, meinen Bürospeck bis auf die höchsten Gipfel des Bayerischen Waldes zu schwingen. In den Bergen ist es oft überraschend und angenehm einsam, besonders dort, wo es nicht möglich ist, mit dem SUV bis neben das Gipfelkreuz zu fahren. Weder die Einheimischen noch die Touristen hier im Bayerischen Wald wirken durchweg sportlich. Bei manchen Paaren, die in Gasthäusern sitzen, frage ich mich, wie sie es ohne Hilfe eines Krans von ihrer Unterkunft bis an ihren Tisch geschafft haben. Mir soll’s recht sein: So bleibt mehr Natur für mich übrig. Nachdem ich gleich zu Beginn mit dem Großen Arber schon den höchsten Gipfel bezwungen habe, nehme ich mir als nächstes den Großen Rachel vor. Der Anstieg ist lang und beschwerlich. Oben auf dem Gipfel habe ich dafür einen beglückenden Blick in die Ferne. Er verdankt sich allerdings einer traurigen Begebenheit: Der Borkenkäfer hat hier vor einigen Jahrzehnten den Wald abgeholzt. Ganz ohne Kettensäge, nur der Wind hat dabei mitgetan. Man wehrte ihm hier im Nationalpark nicht, obwohl Volkes Stimme laut danach rief. So stehen dem Blick des Wanderers keine Bäume mehr im Weg. Doch der Tod schuf auch Raum für neues Leben: Gräser, Glockenblumen und kleine Fichten, die schon wieder zum Himmel streben. Das Kreuz, das hier wie überall im Bayerischen Wald auf den Gipfel gesetzt wurde, ergibt jetzt für mich einen Sinn, den es sonst nicht hätte: Es steht für die Wiederauferstehung der Natur nach jeder Katastrophe – eine Wiedergeburt, für die sie weder göttliche Wunder noch menschliche Hilfe braucht. Sie wird auch von allein größere Vielfalt schaffen, als der Mensch zuvor zugelassen hatte. Beim Abstieg zupfe ich im Vorbeigehen Blaubeeren von den Sträuchern am Wegesrand und schiebe sie mir in den Mund. Ich bin recht froh, dass es noch kein Heer von Zwangsarbeitern gibt, die bereits vor mir den Wald leergeerntet haben.
An meinem Abreisetag regnet es glücklicherweise. Solch ein Abschiedsregen macht es leichter, sich von den Ferien loszureißen und nicht mit allzu großem Bedauern den Heimweg anzutreten. Der Zug zurück nach Berlin fährt eine zweistündige Umleitung durch Gebiete, die wirken, als wären sie bisher noch auf keiner Karte verzeichnet worden. Schließlich aber erreiche ich doch wohlbehalten wieder mein Ziel. Zurück in Berlin ist das Erste, was mir am Ausgang des Bahnhofs Südkreuz begegnet: ein Haufen russischer Tagestrinker, die brüllen und nach Kacke riechen. Ich bin aus der bayerischen Idylle zurück im richtigen falschen Leben.
Podcast „Titelstory“ #5: Ist der Osten noch zu retten?
Die Bundesregierung verkündet regelmäßig, wie gut es dem Osten inzwischen wirtschaftlich gehe. Trotzdem ist die Stimmung so schlecht wie lange nicht mehr. Mit Grausen schaut man auf die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September. Für den Podcast „Titelstory“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen habe ich mit der Schriftstellerin Manja Präkels gesprochen: über die historischen Ursachen der ostdeutschen Wut, über politische Profiteure der Unzufriedenheit, aber auch über Wege hinaus aus Stillstand und schlechter Laune.
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Termine der Woche
Am Mittwoch (5. Juni) gibt’s eine neue Ausgabe unserer Dresdner Lesebühne Sax Royal. Neue Geschichten lese ich gemeinsam mit Roman Israel, Max Rademann und Gesine Schäfer. Als Gast begrüßen wir außerdem erstmals den Kabarettisten Michael Feindler aus Leipzig, der uns auch Musik mitbringt. Los geht es um 19:30 Uhr (!) in der GrooveStation. Karten gibt es im Vorverkauf oder an der Abendkasse.
Das Würgergeld
Wenn es in der BILD-Zeitung einmal nicht um Titten, Tod und Teufel geht, sondern um Arbeitslosigkeit, kann man sicher sein, dass nicht die Probleme der Arbeitslosen beschrieben werden, sondern die Arbeitslosen als Problem. „Das läuft falsch beim Bürgergeld!“, lautete vor einer Weile eine schlagende Zeile. Naiv, wer hofft, der zugehörige Artikel würde die Frage stellen, warum das sogenannte Bürgergeld immer noch so erbärmlich niedrig ist, dass es „Hartz 5“ heißen müsste, wenn das nicht zu ehrlich wäre. Aber selbstverständlich ist solches Sozialgedöns die Sache der BILD nicht.
Stattdessen erfahren wir von einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die habe ergeben, eine Mehrheit der Beschäftigten in den Jobcentern lehne das Bürgergeld ab, weil die Arbeitslosen in Zukunft nicht mehr ganz so leicht sanktioniert werden können. Denn, so steht es zwischen den Zeilen, die Arbeitslosen seien nun einmal faul und benötigten den strafenden Tritt in den Hintern. Wie seltsam liest sich jedoch folgender Satz: „Zwischen Februar und Dezember 2023 waren es aber nur 15774 Fälle, in denen Leistungen wegen der Weigerung zur ‚Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses‘ gekürzt wurden – gerade einmal 0,4 Prozent.“ Gibt es also die militanten Sozialschmarotzer in Deutschland fast gar nicht, vor denen uns die Politiker von SPD bis AfD regelmäßig warnen? Das kann nicht sein. Nein, die niedrige Zahl der Strafen darf kein Beleg dafür sein, dass es kaum Übeltäter gibt – sie muss vielmehr zeigen, dass nur zu lasch bestraft wird. Sanktionen gegen Arbeitslose müssen sein, das sagt inzwischen sogar eine Frau Wagenknecht, die Sanktionen sonst entschieden ablehnt.
„Sogar bei Jobcenter-Mitarbeitern stößt die aktuelle Praxis auf heftigen Widerstand!“, verkündet uns die BILD. Selten wurde das Wort „sogar“ auf drolligere Weise verwendet. Soll es doch hier andeuten, die Mitarbeiter der Jobcenter empfänden besonderes Mitgefühl mit den ihnen anvertrauten Arbeitslosen, sodass ihrer Kritik doppeltes Gewicht beizumessen wäre. Die Arbeitslosen selbst wissen es besser. Sie misstrauen zumeist denen, die ihnen vom Amt zur Betreuung vorgesetzt werden. Denn üblicherweise gilt: Die Mitarbeiter des Arbeitsamts hassen die Arbeitslosen, weil die ihnen Arbeit machen. Dass die Arbeitslosen ihnen auch den Arbeitsplatz sichern, vergessen die Festangestellten im Arbeitsamt gern. Es handelt sich nicht selten um Nulpen, die selbst auf der Straße sitzen würden, wenn sie nicht ihr Pöstchen als amtliche Einpeitscher ergattert hätten. Es hat schon eine gewisse Komik: Ausgerechnet Leute, die sich fünf Tage die Woche in einem lauwarmen Büro den Arsch plattsitzen, fordern andere auf, sich durch Mut, Fleiß und Opferbereitschaft auf dem harten Markt einen Job zu erkämpfen, wie widerlich der auch sein möge. Diese Leute dürfen auch noch darüber richten, ob die Arbeitslosen den Befehlen unterwürfig genug gehorcht haben. Es gilt die Regel: Wer ein mieses Angebot rundweg ablehnt, wahrt nicht etwa seine Würde, sondern zeigt seine sündige Trägheit. Auf diese Macht möchten die Miniaturbonzen verständlicherweise nicht verzichten, sind die Sanktionen, mit denen sie andere geißeln dürfen, doch der größte Spaß ihrer sonst durchweg öden Existenz. Ich will nicht ausschließen, dass es vielleicht auch Menschen gibt, die ihren Job beim Jobcenter mit dem Wunsch antreten, Arbeitslosen wirklich zu helfen. Doch sie müssen erklären, warum sie nicht gegen das perfide System rebellieren, in dem sie sich dann wiederfinden. Wahrscheinlich gewöhnt man sich einfach zu schnell an die regelmäßigen Überweisungen vom Staat. Das Würgergeld ist auch noch deutlich höher als das Bürgergeld.
Unsere Gesellschaft beruht auf Arbeit. Und es gibt harte und unangenehme Arbeit, die dennoch erledigt werden muss. Es gäbe aber mehr als einen Weg, dafür zu sorgen, dass dies geschieht. Man könnte diejenigen, die bereit sind, diese schwere Arbeit zu tun, Kranke zu pflegen, Dächer zu decken oder den Müll abzuholen, wertschätzen und sie besonders gut bezahlen. So fänden sich Freiwillige. Zum Ausgleich könnte man anderen Leute, die für die Gesellschaft eher verzichtbar sind, PR-Beratern, Immobilienmaklern und Kolumnisten zum Beispiel, weniger Geld in den Rachen werfen. Das aber geschieht nicht. Stattdessen werden gerade die härtesten Jobs am schlechtesten bezahlt. Möglich ist das nur, weil viele Menschen das Pech haben, nicht über Kapital zu verfügen. Sie haben keine Wahl. Man kann sie zur Arbeit zwingen, indem man ihnen droht, sie sonst verhungern zu lassen. Mit der Angst vor diesem Schicksal lassen sich gleich auch noch diejenigen disziplinieren, die in einem Scheißjob gefangen sind und davon träumen, endlich zu kündigen.
Währenddessen leben in Deutschland 800000 fröhliche Leute, denen so viel Kapital in den Schoß gefallen ist, dass sie nicht arbeiten müssen. Sie leben von der Arbeit der anderen, wissen davon aber oft nichts, weil sie glauben, ihr Geld arbeite für sie. Auf die Idee, diese Leute zur Arbeit zu zwingen, kommt niemand, auch bei der BILD-Zeitung nicht. Allenfalls schickt die ab und zu einen Fotografen los, um die Reichen auf ihren Yachten in der sozialen Hängematte abzulichten. Manche Menschen, die nicht arbeiten müssen, wecken bei der arbeitenden Bevölkerung nicht Verachtung, sondern Bewunderung. Man muss sie nur richtig in die BILD setzen.