Immer ist mir ein wenig unheimlich zumute, wenn ich in Bayern unterwegs bin. Ich spreche vom wirklichen Bayern, also nicht von München. Das zählt nicht. Dort leben auch zugezogene Nordlichter und die Leute wählen Sozialdemokraten zu Oberbürgermeistern. Ich spreche vom ländlichen Bayern. Das sieht immer aus, wie Amerikaner sich Deutschland vorstellen: grüne Almen, auf denen bimmelnde Rinder weiden; saubere Fachwerkhäuser mit geraniengeschmückten Balkonen; braungebrannte Burschen in Lederhosen, die lachend aus ihrem BMW steigen. Nirgendwo siehst du ein Graffito, einen Junkie oder eine Fabrikruine. Gerade das ist das Unheimliche: In diesem sauberen Bayern scheinen nur Menschen zu leben, die freundlich und zufrieden sind. Vielleicht müsste man hinter die Kulissen blicken. Aber vielleicht ist hinter den Kulissen gar nichts, jedenfalls keine hässliche Wahrheit. Womöglich sind diese Bayern einfach tatsächlich so rundum glücklich, wie sie ausschauen. Und all der Frust, alle Rebellion und Weltverbesserungswut der Leute anderswo in Deutschland muss ihnen unverständlich bleiben und lächerlich erscheinen.
Ich bin zu Besuch im Bayerischen Wald. Dessen Bewohner nennen sich selbst „Wäldler“ und finden nichts dabei. Die Pension, in der ich unterkomme, ist seit mehr als einhundert Jahren in Familienbesitz. Im Gastraum an der Wand hängt das Foto einer historischen Speisekarte aus dem Jahr 1931, auf der einst ein Mittagessen für 80 Pfennige, ein Viertelliter alkoholfreier Apfelsaft für 35 Pfennige und ein kleiner Bocksbeutel Kitzinger Sonnenstrahl für 60 Pfennige angeboten wurden. Auf der aktuellen Speisekarte ist alles ein wenig teurer. Die Wirtsleute sind noch jung, ihre kleine Tochter hilft abends in der Gaststube mit, nimmt die Bestellungen auf und bringt Bier und Wasser an die Tische. Die Wirtsleute behandeln mich freundlich, aber zugleich auch mit einer gewissen Scheu. Die steigert sich noch, als ich nach dem ersten Frühstück darauf verzichtete, fürderhin einen üppigen Wurstteller auf den Tisch gestellt zu bekommen. Sonderbare Wesen, diese Berliner! Ich bemühe mich, wenigstens durch meinen Bierkonsum Normalität auch nach bayerischen Maßstäben zu signalisieren.
Auch im Bayerischen Wald ist die Globalisierung eingetroffen. Und zwar in Form des Drüsigen Springkrauts, das allerorten wuchert, an Wegesrändern, Bachläufen und Bahndämmen. Es stammt ursprünglich aus Indien, wurde zunächst als Zierpflanze in Gärten geholt und hat sich von dort aus eigenständig in der deutschen Natur verbreitet. Tüchtig unterstützt wurde es dabei von den einheimischen Insekten, die leider wenig Patriotismus zeigen. Sie lieben das exotische Springkraut, denn es hat viel süßeren Nektar als die urdeutschen Gewächse. Seine violetten Blüten gleichen liebevoll geöffneten Mündern, denen die Bienen den Kuss nicht verweigern können. Bestäubte Blüten verwandeln sich in Kapselfrüchte, die bei kleinsten Berührungen platzen und ihre Samen in der Umgebung verstreuen. So ist das Drüsige Springkraut nicht nur attraktiv für Insekten, sondern auch für mich. Es macht nämlich riesigen Spaß, die Kapseln mit den Fingern zur Explosion zu bringen – so wie es ja überhaupt meistens Freude bereitet, Lebewesen bei der Fortpflanzung behilflich zu sein. Aber das Drüsige Springkraut hat nicht ausschließlich Freunde: Manche hassen es als fremden Eindringling. Tatsächlich verdrängt es eine Pflanze, die uns Deutschen besonders lieb und wert sein muss: die Große Brennnessel. Der Bayerische Wald-Verein soll tatsächlich Versuche unternommen haben, das Drüsige Springkraut wieder auszurotten – offenbar nur mit mäßigem Erfolg. So ist trotz tapferen Widerstandes der Einheimischen Deutschland durch das fremde Kraut ein bisschen bunter und süßer geworden.
Ich sitze in der Waldbahn, die gemütlich zwischen den Örtchen des Gebirges tuckert. An einem Bahnhof steigen Touristen ein und setzen sich in meine Nähe. Sie sprechen einen süddeutschen Dialekt, den ich nicht zuordnen kann. Ein seltsames Grüppchen ist das: ein einzelner Mann mit drei Frauen, womöglich seine Mutter, seine Frau und seine Schwester. Der Mann entpuppt sich schnell als Exemplar der Sorte unangenehmer Witzemacher. Ununterbrochen ruft er Scherze wie „Fahrkarten, bitte!“ oder „Hier riecht’s nach Landwirtschaft!“ Seine drei Frauen fühlen sich verpflichtet, über jeden seiner Sprüche zu kichern. Das ermutigt ihn leider noch. Keine Sekunde der Stille gönnt er den anderen Menschen im Zug. Vielleicht trifft er den Humor seiner Frauen, vielleicht haben sie auch nur seit Jahrzehnten nicht den Mut, ihm zu sagen, dass er nicht witzig ist. Während wir durch einen dunklen Fichtenwald fahren, beginnt er nach einem Blick aus dem Fenster einen Monolog: „Guck dir das an, der ganze Wald voller Heidelbeeren! Musst du nur pflücken! Ich sag mal: Wenn einer arbeitslos ist, dann kann der hier in den Wald gehen und Heidelbeeren ernten. Mit einem Kamm kannst du da locker drei Kilo in der Stunde sammeln. Das machst du zehn Stunden, dann hast du 30 Kilo am Tag. Dann gehst du fünf, nein, dann gehst du sechs Tage die Woche in den Wald, dann hast du 180 Kilo die Woche, die du auf dem Markt verkaufen kannst. Da verlangst du meinetwegen zehn Euro das Kilo und du hast 1800 Euro in einer Woche verdient! Da brauchst du dem Staat nicht mehr auf der Tasche liegen. Das ist auch gesund, da können die sich bewegen und kommen an die frische Luft! Wenn ich der Staat wäre, würde ich die Arbeitslosen sofort in den Wald schicken!“
Diesmal bin ich es, der über den Witzbold kichern muss. Er ähnelt selbst wenig einem tüchtigen Waldburschen, ist vielmehr übergewichtig und riecht wie ein voller Aschenbecher. Gewiss war er nie arbeitslos, hat eine sichere Arbeit oder hatte sie vor seiner Rente. Vielleicht im kaufmännischen Bereich? Das würde erklären, wieso ihm beim Blick auf die Natur sogleich ein Plan ins Hirn schießt, wie die Natur sich noch besser ausbeuten ließe. Aber nicht genug: Er muss sich auch gleich noch vorstellen, wie man im Wald andere an die Arbeit schicken könnte. Er kann die mit sich selbst zufriedene, ruhige Natur nicht betrachten, ohne unzufrieden zu werden mit jenen, deren Leben aus seiner Sicht zu ruhig verläuft. Selbst ist er in den Ferien, aber andere will er schuften sehen – die Arbeitslosen, die er im ewigen Urlaub wähnt. Nur leider fehlt ihm die Macht, um seine Bestrafungsfantasien in die Tat umsetzen. Wenn ich der Staat wäre – der Sonnenkönigstraum des kleinen Mannes.
Ich bin erstaunt und froh, dass es mir gelingt, meinen Bürospeck bis auf die höchsten Gipfel des Bayerischen Waldes zu schwingen. In den Bergen ist es oft überraschend und angenehm einsam, besonders dort, wo es nicht möglich ist, mit dem SUV bis neben das Gipfelkreuz zu fahren. Weder die Einheimischen noch die Touristen hier im Bayerischen Wald wirken durchweg sportlich. Bei manchen Paaren, die in Gasthäusern sitzen, frage ich mich, wie sie es ohne Hilfe eines Krans von ihrer Unterkunft bis an ihren Tisch geschafft haben. Mir soll’s recht sein: So bleibt mehr Natur für mich übrig. Nachdem ich gleich zu Beginn mit dem Großen Arber schon den höchsten Gipfel bezwungen habe, nehme ich mir als nächstes den Großen Rachel vor. Der Anstieg ist lang und beschwerlich. Oben auf dem Gipfel habe ich dafür einen beglückenden Blick in die Ferne. Er verdankt sich allerdings einer traurigen Begebenheit: Der Borkenkäfer hat hier vor einigen Jahrzehnten den Wald abgeholzt. Ganz ohne Kettensäge, nur der Wind hat dabei mitgetan. Man wehrte ihm hier im Nationalpark nicht, obwohl Volkes Stimme laut danach rief. So stehen dem Blick des Wanderers keine Bäume mehr im Weg. Doch der Tod schuf auch Raum für neues Leben: Gräser, Glockenblumen und kleine Fichten, die schon wieder zum Himmel streben. Das Kreuz, das hier wie überall im Bayerischen Wald auf den Gipfel gesetzt wurde, ergibt jetzt für mich einen Sinn, den es sonst nicht hätte: Es steht für die Wiederauferstehung der Natur nach jeder Katastrophe – eine Wiedergeburt, für die sie weder göttliche Wunder noch menschliche Hilfe braucht. Sie wird auch von allein größere Vielfalt schaffen, als der Mensch zuvor zugelassen hatte. Beim Abstieg zupfe ich im Vorbeigehen Blaubeeren von den Sträuchern am Wegesrand und schiebe sie mir in den Mund. Ich bin recht froh, dass es noch kein Heer von Zwangsarbeitern gibt, die bereits vor mir den Wald leergeerntet haben.
An meinem Abreisetag regnet es glücklicherweise. Solch ein Abschiedsregen macht es leichter, sich von den Ferien loszureißen und nicht mit allzu großem Bedauern den Heimweg anzutreten. Der Zug zurück nach Berlin fährt eine zweistündige Umleitung durch Gebiete, die wirken, als wären sie bisher noch auf keiner Karte verzeichnet worden. Schließlich aber erreiche ich doch wohlbehalten wieder mein Ziel. Zurück in Berlin ist das Erste, was mir am Ausgang des Bahnhofs Südkreuz begegnet: ein Haufen russischer Tagestrinker, die brüllen und nach Kacke riechen. Ich bin aus der bayerischen Idylle zurück im richtigen falschen Leben.