30 Jahre nach der Revolution von 1989 in Ostdeutschland, die ein Jahr später zur Wiedervereinigung führte, sprechen die Deutschen viel über eine bleibende oder sogar neue Spaltung. Es wird so sehr über die Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen gejammert, man könnte denken, das Land wäre dabei auseinanderzufallen. Aber während es ernsthafte separatistische Bewegungen in Schottland und Katalonien gibt, unter Flamen und Padaniern, erwägt niemand in Deutschland ernsthaft eine neue Trennung. Die Idee, die Mauer wieder aufzubauen, existiert allein als sehr langlebiger Witz. Die beklagte Spaltung Deutschlands kann so schrecklich schlimm also gar nicht sein.
Die sogenannte „Mauer in den Köpfen“ ist für sehr lange Zeit ein Problem gewesen, das nur die Deutschen im Osten für relevant gehalten haben. Die meisten Menschen im Westen hörten auf, sich um ihre östlichen Brüder und Schwestern zu kümmern, Jahre bevor die Mauer überraschend fiel. Ihr Leben änderte sich nicht sehr nach der Wiedervereinigung, da der Osten vom viel stärkeren Westen einfach geschluckt wurde. Für viele von ihnen ist der Osten noch immer bloß ein abgelegener Landstrich voller merkwürdig schlecht gelaunter Menschen. Der Westen beginnt sich erst jetzt zu sorgen, da eine neue Partei namens AfD, die ihre Hochburgen vor allem im Osten hat, die nationale Politik durcheinanderbringt. Wenn wir über die heutige deutsche Teilung sprechen, reden wir tatsächlich über einen Minderwertigkeitskomplex der Ostdeutschen.
Woher kommt dieser Minderwertigkeitskomplex? Zuerst hat er seinen Ursprung darin, dass die Ostdeutschen wie Minderwertige behandelt werden. Ostdeutsche arbeiten noch immer mehr und verdienen weniger. Ihre Vermögen sind viel kleiner, die Spitzenposten für sie meist nicht zugänglich. Nach der Wiedervereinigung verloren die meisten Ostdeutschen ihre Arbeitsstelle, einige verloren ihr Haus, viele ihre Kinder, die wegzogen, um im Westen zu arbeiten. Die sogenannte Wiedervereinigung glich in mancher Hinsicht einer Kolonisation. Für das westliche Kapital war der Osten vor allem eine Quelle billiger Arbeitskraft und ein neuer Markt. Die ostdeutsche Industrie wurde aufgelöst oder an westdeutsche Unternehmen verkauft. Noch heute werden die deutschen Eliten, selbst jene in den östlichen Bundesländern, mit wenigen Ausnahmen aus dem Westen rekrutiert. Außerdem traf die Sparpolitik der Jahrzehnte nach 1990 die ostdeutschen Kommunen besonders hart.
Der Ärger im Osten ist also durchaus verständlich. Warum aber ist er so aggressiv? Das liegt daran, dass die Ostdeutschen insgeheim wissen: Die Schuld liegt zumindest teilweise bei ihnen selbst. In den ersten freien Wahlen der DDR schoben sie all jene beiseite, die von einem reformierten, demokratischen Sozialismus träumten, aber auch diejenigen, die für einen langsameren, selbstbestimmteren Weg zur Wiedervereinigung eintraten. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte am Wohlstand des Westens so schnell wie möglich teilhaben. Sie hatten die Kontrolle über ihr eigenes Land gewonnen, nur um sie schon ein Jahr später wieder aus den Händen zu geben. Heute suchen sie, anstatt sich selbst in den Arsch zu beißen, die Schuld bei anderen.
Der ostdeutsche Minderwertigkeitskomplex ist eine wesentliche Quelle der antiwestlichen und fremdenfeindlichen Ressentiments, die in den vergangenen Jahren an die Oberfläche getreten sind. Westdeutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Werte, Gesinnungen und Schwächen der liberalen Demokratie übernommen. Im Osten ist das nicht geschehen. Noch nicht, würden die meisten im Westen sagen, weil sie es für selbstverständlich halten, dass die Ostdeutschen eines Tages so werden wie sie selbst. Aber viele Ostdeutsche weigern sich. Sie finden es ziemlich natürlich, anders zu bleiben. So verstehen sie zum Beispiel nicht, warum das Konzept der Nation für viele Menschen im Westen so wenig Bedeutung hat. Sie schauen wütend auf Menschen im Westen, die Einwanderung fröhlich begrüßen. Sie mögen das Gezänk der parlamentarischen Demokratie nicht und sehnen sich nach einer unmittelbaren Herrschaft des Volkswillens. Eine besondere Identität, die einmal in der Welt ist, verschwindet eben nicht so leicht wieder. Früher stritten sich Politiker über die Frage, wie lange es wohl dauern könnte, bis die sogenannte „innere Einheit“ der Deutschen vollendet sein wird. Heute scheint es realistischer, von der Annahme auszugehen, dass Ost- und Westdeutschland lange verschieden bleiben werden, so wie der Süden und der Norden der Vereinigten Staaten von Amerika.
Das deutsche Problem ist nicht ein Mangel an Einheit, so meine ich, sondern die Unfähigkeit, mit Unterschieden zu leben. Im deutschen Geist wohnt noch immer die Ideologie der „Volksgemeinschaft“, im Osten stärker als im Westen. Es ist die Vorstellung, dass eine Nation dann am stärksten ist, wenn es so wenige Unterschiede wie möglich gibt. Die Deutschen, und besonders die Ostdeutschen, mögen keinen politischen Streit. Sie halten ihn für eine Verschwendung von Zeit, in der stattdessen einfach das Richtige getan werden könnte. Viele Deutsche glauben noch immer, dass eine Pluralität von Religionen und Rassen das Volk schwächt. Sie weigern sich auch zu sehen, dass es so etwas wie soziale Klassen gibt, was es ihnen unmöglich macht, die Hauptursache von sozialer Ungerechtigkeit zu erkennen. Stattdessen träumen Deutsche von einer Nation, die in vollkommener Eintracht lebt, nachdem alle hässlichen Unterschiede der Partei, Religion und Herkunft ausgelöscht worden sind. Der Erfolg des vorigen deutschen Diktators wurzelte in seiner Begabung, diese Sehnsüchte anzusprechen. Es ist eine Ideologie, die Ungleichheit nicht verringert, aber dafür die Vielfalt zerstört. Alles Gerede über einen Mangel an nationaler Einheit könnte am Ende nur zu einer Rückkehr der verblödenden Weltanschauung des Nationalismus führen.
Demokratie gibt es, wo Unterschiede anerkannt werden und der Kampf für eigene Interessen als legitim gilt. Also ist überhaupt nichts verwerflich daran, dass Ostdeutsche Selbstbewusstsein entwickeln. Aber nationalistische Besoffenheit macht es ihnen unmöglich, ihre wahren Gegner zu erkennen: die Elite, die sie tatsächlich betrogen hat. Ihre Benachteiligung jedenfalls ist sicher nicht von Geflüchteten oder arbeitenden Menschen im Westen verursacht worden. Statt zu jammern oder nach Sündenböcken zu suchen, sollten die Ostdeutschen für soziale Gerechtigkeit kämpfen – gemeinsam mit all jenen, die diese genauso verdienen.
Ist Deutschland wieder geteilt? Ich würde sagen: Nicht genug.
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Dieser Text entstand – zuerst in englischer Sprache – als Eingangswort für die Diskussionsrunde „The fall of the Berlin Wall, 30 years on: is Germany divided again?“ beim Festival „Battle of Ideas Berlin 2019“ mit Sabine Beppler-Spahl, Dolan Cummings, Antje Hermenau und Heinz-Joachim Lohmann am 23. November 2019.