Gott sprach, es werde Markt. Über „Die bürgerliche Revolution“ von Markus Krall

Der erfolgreiche Unternehmer besitzt das Talent, ergiebige Geschäfte miteinander zu verbinden. Der Manager und Publizist Markus Krall macht’s vor: In seinen Büchern warnt er seit einigen Jahren vor der kommenden Finanzapokalypse, als Geschäftsführer der Degussa Goldhandel GmbH profitiert er von der Angst braver Bürger vorm großen Crash. Dabei diente als ein Vertriebspartner die AfD, die wiederum auch den Autor Krall gerne zu Vorträgen einlädt. Dessen geschäftliche und politische Verbindungen reichen tief ins gutbürgerliche Milieu. Kralls neues Buch „Die bürgerliche Revolution“ ist eine Zumutung.

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Jörg Bernig und der Leidneid

Viele Menschen klagten in den vergangenen Monaten, der Freistaat Sachsen lasse in der Corona-Krise die Künstler und Künstlerinnen im Stich. Nun wurden die Rufe endlich erhört: Ein Förderprogramm für Schriftsteller in Geldnot wurde aufgelegt – vorerst allerdings nur für einen Mann. Der Dichter Jörg Bernig wurde in seinem Heimatort Radebeul vom Stadtrat, offenbar vor allem mit Stimmen von CDU und AfD, zum neuen Leiter des Kulturamtes gewählt. Doch die Rechtsfront hatte bei ihrem Manöver nicht mit den Menschen gerechnet, die in Radebeul die Kultur auch wirklich machen.

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Zitat des Monats Mai

An unseren Grenzen stehen bereits Hunderttausende, die Asyl wollen. Es sind dies die Vorboten einer Flut, die unaufhörlich auf uns zurollt und die wir selbst mit verursacht haben. Mit unserem zerstörerischen Ersatzleben haben wir die Ungleichheit verschärft und die Armut verstärkt. […] Wir können uns einmauern und den ‚Schießbefehl‘ umdrehen, das wird unser moralisches und später auch physisches Ende einläuten. Oder wir denken ernsthaft um. Wir Ostdeutschen könnten dabei eine wichtige Rolle spielen, denn wenn wir ganz ehrlich sind, verstehen wir die Asylbewerber, sie sind wie wir.

Hans-Joachim Maaz (1991)

Tränen auf den billigen Plätzen

Ich stehe am Hafen der kleinen Stadt am Ufer der Müritz. Würde ich den Landkarten glauben, dann sähe ich vor mir nur einen ungewöhnlich großen See. Aber ich rieche den Duft des Meeres, höre den Sturm brausen und sehe die Wellen ungeduldig ans Land schlagen. Kein Zweifel: Die Müritz ist ein verirrter Teil des Ozeans, der sich nach Hause sehnt. Es muss sich so zugetragen haben: Als Gott die Welt schuf und das Wasser übers Erdenrund verteilte, da rutschte ihm ein Tropfen zwischen den allmächtigen Fingern hindurch, platschte aufs flache Land und ward zum kleinen Meer Mecklenburgs. Diese Sage erzählen sich die Einheimischen nicht. Sie sollten es aber tun.

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Anselm Lenz, der liberale Revolutionär

Sich einem harmlosen Diktat ganz selbstverständlich zu fügen ist eine süße und runde Sache. (Max Goldt)

 

Gleichschaltung. Ruhe vor dem Sturm. Sonnige und zugleich frostige Frühjahrstage. Sternklare Nächte. Stille. Kein Flugzeug am Himmel. Eine Berliner Luft, so klar wie in den Bergen. Aber auch eine Taubheit, eine allgemeine Absenz. Eine Abwesenheit.

Ein Mann. Der Schreibt. Und glaubt. Dass man. Mit kurzen Sätzen. Und einzelnen Wörtern. Und einzelnen Fremdwörtern. Tiefste Bedeutung. Und epochalen Weitblick. Simulieren. Kann. Dieser Mann heißt Anselm Lenz und ist Initiator der Demonstrationen, die samstäglich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin stattfinden und sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie richten. Über Jahre arbeitete Anselm Lenz zuvor in der Branche des ästhetischen Interventionismus und produzierte mit staatlicher Unterstützung Kapitalismuskritik. Eine Tätigkeit, die ihn offenbar nicht ganz erfüllte.

Die Tiere sind unruhig. Es sind wohl Drosseln. Die zwei Vögel im Hof bekämpfen einander, wie ich es noch nie gesehen habe. Es scheint, als würde der Switch zur De-facto-Diktatur auch die Natur verändern. 

Schon in seiner früheren Schaffensphase zitierte Lenz gerne die Band Tocotronic, weil es wohl keinen besseren Weg gibt, das Herz von urbanen Akademikern mittleren Alters aufzuschließen. Und im Namen der Natur zu sprechen, das ist ohnehin nie verkehrt. „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Diese Glaubenslehre des Jean-Jacques Rousseau macht bis heute Freunden der Ökoesoterik wie Sozialdarwinisten die Augen feucht und die Birne weich. So wird es einem Naturfreund schon einmal nachgesehen, wenn er nicht mit letzter Sicherheit Drosseln bestimmen kann, dafür aber genau weiß, dass die vermutlichen Drosseln aufgeregt sind, weil sie Angela Merkels jüngste Regierungserklärung gelesen haben. In der nämlich wurde die De-facto-Diktatur verkündet. Das Schöne an einer De-facto-Diktatur im Gegensatz zu einer Diktatur ist, dass man in ihr den Rebellen spielen kann, ohne ernsthafte Folgen fürchten zu müssen.

Meine Regierung hat alle Grundrechte außer Kraft gesetzt, für die wir seit 1789 gekämpft hatten. Und dies, um nun eine „Corona“ an die absolutistische Macht zu bringen.

Ein wenig früh vergreist sieht er schon aus, der Anselm Lenz, ein wenig altklug wirkt er auch. Aber dass der Mann schon 1789 auf der Barrikade stand, das mag man doch nicht so recht glauben. Damals ging’s oft auch sehr rabiat zu. Die neue Revolution gegen den Corona-Absolutismus ist hingegen so friedlich, dass selbst ein zerbrechliches Geschöpf wie er in ihr zum Helden werden kann.

Eine Königin, die kleiner als eine Erbse ist. Und einfach ihr idiotisches Programm abspielt, gnadenlos öde. Es sei ja umstritten, ob so ein Virus überhaupt zum Lebendigen gezählt werden könne. Es fuddelt so vor sich hin. Und all das nur, um sich selbst zu erhalten als seelenloses Programm.

Anselm Lenz hat sich einem Wikipedia-Studium der Virologie nicht verschlossen. Und siehe da: Es ist nicht einmal sicher, ob Viren überhaupt leben. Wie sollen sie dann bitte töten können?

… wenn das Leben im Westen auf einmal ein kräftiges Air von Lukaschenko atmet. Kann mich mal jemand kneifen? Den fanden die doch früher ganz furchtbar, die uns jetzt alle in ein blitzsauberes, aber langweiliges Minsk verklappen wollen. Gesund, aber isoliert.

Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko ist bekannt dafür, dass er Oppositionelle auf der Straße verprügeln lässt. Ruft Anselm Lenz also vielleicht nach der Peitsche, die ihn züchtigt? Sein Verhältnis zu Angela Merkel ist womöglich komplexer als gedacht. Etwas scheint ihn an diese Frau zu binden. Sonst würde er doch nach Minsk auswandern, wo Corona geleugnet und anders als im Rest von Europa das gewöhnliche Leben kaum beschränkt wird.

Die Parlamente meines Landes haben sich unterworfen. Eine Opposition findet in der Repräsentation nicht statt. Damit findet keine Repräsentation statt. Eigentlich findet gar nichts statt, was eine Demokratie ausmacht. Auch nicht im Oberstübchen.

Angesichts der Verwirrung, die im Oberstübchen von Anselm Lenz herrscht, scheint er nicht der Befugteste, um über die Inneneinrichtung der Demokratie zu urteilen. Er hat ja noch nicht einmal einen Blick in den Bundestag geworfen, wo die Opposition so unverdrossen Merkel geißelt wie seit Jahren schon. Es aber als Diktatur zu brandmarken, nicht selbst allein an der Macht zu sein, das kannten wir bislang nur von der AfD.

Im Grunde ist es müßig, sich noch länger mit dem Virus aufzuhalten. — Ja: Der Virus mit dem königlichen Namen existiert. Er ist nicht völlig ungefährlich, aber jedenfalls ungefährlicher als die Grippeinfektwellen der beiden vergangenen Jahre. Das Leben auf der Erde geht weiter. Zum Leben gehört, wie jeder Mensch weiß, auch der Tod. Möge er spät eintreten und erst nach langer Zeit bei voller Gesundheit. Das sei jedem Menschen gewünscht.

Ich muss mich geschlagen geben. Die Großmut, Anselm Lenz nicht die Seuche an den Hals zu wünschen, um ihn aus seiner eitlen Pose der Überlegenheit zu reißen, die habe ich nicht. Dass er anderen Menschen den Tod nicht wünscht, sei aber lobend erwähnt. Er nimmt ihn bloß achselzuckend in Kauf. Die Natur will es. Das Leben geht weiter, zumindest seins.

Ja: Es gab in China und im norditalienischen Bergamo Ausnahmeereignisse, die medizinisch aufgeklärt werden müssen. Ja: Die Seuchenbekämpfung wird erfolgreich sein. Man wird zurecht Supermarktkassiererinnen, Sanitäter und Ärztinnen mit den größten Preisen behängen. Allein, an der singulären Ungewöhnlichkeit der Seuche selbst wird es nicht gelegen haben.

Der Virologe Lenz weiß schon, dass die Seuche, die in Italien eine bloße Ausnahme ist, aber in der Geschichte überhaupt keine Ausnahme, bald besiegt worden sein wird. Das beruhigt. Dann muss nur noch medizinisch aufgeklärt werden, warum so viele Menschen an einer ungefährlichen Krankheit gestorben sein werden. Und das trotz der drakonischen Maßnahmen, deren Nutzlosigkeit für Lenz gewiss ist, weil sie die Wirkung entfalten, die er bestreitet.

Wird man sich fragen? Was war denn mit denen los: Der freien Presse, der Opposition in den Parlamenten, der kritischen Intelligenz? Wo waren eigentlich die Linken? Genauso umgefallen wie alle anderen.

Wer lieber stehen bleibt, wenn ein Anselm Lenz zum Marsch aufbricht, ist umgefallen? Hier leidet vielleicht doch nur ein Mann unter einem Knick in der Optik.

Wie fühlt es sich an, wenn man als Politiker eigentlich nur noch damit beschäftigt ist, den Beschimpfungen aus dem Weg zu gehen. Nicht einmal daran denken kann, durch ein Stadtviertel zu laufen, ohne dass einem faule Eier um die Ohren fliegen — oder ärgeres. Wenn man einen hochbezahlten Top-Job beim Fernsehen hat, aber die Musik längst woanders spielt. Wenn man seine Liturgie singt im leerem Kirchenschiff. Und dass schon seit langen, langen Jahren. Wenn man einfach nicht mehr kann, weil es keiner mehr will. Nein, die seit Ende 2019 deutlich einsetzende Weltrezession hätte keine Regierung überlebt. Keine.

Was Luxemburg, Lenin und Trotzki vergeblich erhofften und zu erkämpfen suchten, die Weltrevolution – siehe, sie ist nahe! So spricht Anselm Lenz! Sämtliche Protestbewegungen der vergangenen Jahre führten alle nur auf einen Weg, den zu ihm! Er ernennt sich tatsächlich zum geschichtlichen Erben von Occupy Wall Street, Gelbwesten und Fridays for Future. Und nur die Corona-Diktatur hindert die Völker der Welt noch daran, von Anselm Lenz in eine goldene Zukunft geführt zu werden! Wir Schlafschafe fragten uns bislang naiv: Warum sollten die Staaten der Welt, von Weißrussland und Nordkorea abgesehen, ihren Wohlstand gefährden, wenn Corona harmlos wäre? Anselm Lenz klärt uns auf: Alle Regierungen der Welt, von China bis Sachsen, haben sich verschworen, die Gefahr von Corona zu erfinden, um uns in einer unausweichlichen Weltrezession autoritär regieren zu können. Eine wahrlich umfassende Weltverschwörung! Da sind sicher Profis am Werk, die sich in diesem Business auskennen.

Aus Sicht einer Republik, der res publica, war es ab 2007 im Grunde vorbei mit diesem Kapitalismus. Und alle wussten das auch. […] Die Neo-Fürsten begannen, sich Bunker zu bauen. […] Und sie ließen zurück: Ihre treuesten Vasallen im Virus-Fieber. […] Sprechen wir es aus: Es war einmal die freie Presse. Es war einmal die parlamentarische Opposition. Es war einmal die Republik dem Wortsinne nach, die res publica, also jene Gesellschaftsform, in der die Öffentliche Sache publik gemacht und von allen Seiten her diskutiert werden kann. Sie haben sie einfach gedroppt, kann ja weg. Woher dieser Wille zur Selbstverleugnung? — Sicher, nicht wenige Journalisten sind dumm und kommen über den stressig tickenden Ticker kaum hinaus. Klar, die meisten Berufspolitiker sind nicht durch ihre Auffassungsgabe in Position gekommen. Nun gut, die wenigsten Promis haben etwas auf dem Kasten.

Über das Phänomen der Dummheit sollte einer schweigen, der so dumm ist, derart offenherzig auszuplaudern, was ihn wirklich antreibt: der Neid des verkrachten Akademikers auf diejenigen, die es im System nach oben geschafft haben. Gebt Anselm Lenz bitte endlich einen Posten mit einer Bezahlung, die seinen überragenden Geistesgaben angemessen ist!

Dass die Neoliberale Epoche eine Reise in die Nacht sein würde — das war wohl jedem klar, der ökonomisch denken kann. Der sich damit beschäftigt hat, wie Produktionsverhältnisse auf den menschlichen Geist, die Kulturproduktion, und wieder zurück wirken. Wie langfristig epochale Entwicklungen laufen. Und wie wenig aussagekräftig die immer neuen Trends sind, die uns in den letzten Jahren in Augen, Ohren und Verstand gebrezelt worden waren. Der ganze Digitalismus hat kein einziges gutes Abendessen, keine einzige rauschende Liebesnacht, kein einziges gutes Gespräch mehr bewirkt. Hättest du doch öfter mal deine Mutter angerufen, solange Du noch konntest.

Der arme Anselm! Er hatte sich so viel von seinem Leben versprochen. Doch nun werden die ersten Haare grau und der Erfolg ist immer noch nicht da, obwohl man tapfer gegen den Neoliberalismus gekünstelt hat, wie’s gerade Mode war. Da schuftet man jahrelang im „Zentrum für Karriereverweigerung“, aber die Karriere will einfach nicht beginnen. Wo könnte man nun noch Anschluss und ein Gnadenbrot finden?

Ach ja, wes‘ Lied ich sing‘? Das war hier die Frage. Nun, ich denke, ich singe jetzt mit den Liberalen. Die Gedanken sind frei. So ziehe ich mit Euch, Schwestern und Brüder, die Reste der Aufklärung zu verteidigen. Die Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen. Die Freiheitsrechte. Die Wissenschaftlichkeit. Die Freizügigkeit. Und, um sie gegen Schlechteres zu verteidigen, auch für die liberale Nationalstaatlichkeit.

Einen Revolutionär, der den Neoliberalismus mit dem Liberalismus austreiben will, den hat die Welt noch nicht gesehen. Nun ist es soweit. So endet also das „Kapitalismustribunal“: mit einer Revolte fürs Recht aufs Arbeiten und Konsumieren, die bestens mit den längst erhörten Rufen der Unternehmer zusammenpasst, die Profitmaschine ohne Rücksicht auf menschliche Verluste wieder anzuwerfen.

Denn singen wir das Ah, ça ira! nun nicht zu laut, das Streitlied der Sansculotten und der Jakobinerinnen der liberalen französischen Revolution. Nicht, dass am Ende wirklich noch jemand zu Schaden kommt. Verfeinern wir das durchaus verständliche Bedürfnis, Rache zu nehmen, in Aufbruchsgeist. Als kritische Intelligenz — Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Denkerinnen, Juristen, Soziologinnen —, müssen wir nun auch für jene einen Ausweg bauen, die in ihrer jeweils ganz eigenen finalen Sackgasse vor die Wand gerannt sind. Und schon sehr bald in schummerigem Taumel stürzen oder flüchten werden wollen. Versuchen wir, die wir — aus welchen Gründen auch immer — gerade einen ausgeruhteren Verstand haben, als jene, die jetzt ihre Karriere, ihr Vermögen, ihre alten Seilschaften, ihre politischen Buddies dahinsinken sehen, ihnen einen gnädigen Ausweg zu bauen. Eine Seitengasse ins Neue. Einigen wir uns darauf: Ja, Corona wird eine Pandemie gewesen sein. Und du hast es ja nur gut gemeint. (Mit deiner erbärmlichen Unterwerfung unter die Psycho-Welle — aber das sagen wir dir nicht.)

Dies also ist das Lebensproblem des Anselm Lenz: Immer wieder sagt er das, was er doch verheimlichen will. Der arme Tropf, der Sansculotten zu Liberalen fälscht, weil sein eigenes Rebellentum nicht über bürgerliche Unzufriedenheit hinausreicht, der imaginären Gefolgsleuten die Rache verbietet, die er sich selbst so dringlich wünscht, der politische Gegner in einer Sackgasse sieht, in der er selbst herumirrt. Möge die FDP seiner Seele gnädig sein und ihm nach einiger Buße die Aufnahme nicht verweigern!

Die Volksgemeinschaft lässt grüßen

Die AfD ist längst keine Protestpartei mehr, auf deren baldigen Niedergang man Wetten abschließen sollte. Sie hat als Gesinnungspartei mit ihrem völkisch-nationalistischen Programm eine feste Basis in allen sozialen Schichten der Bevölkerung gewonnen. Dabei spielen die ostdeutschen Bundesländer eine besondere Rolle. Zwar wohnt die Mehrheit der Wähler, Funktionäre und Finanziers der AfD im Westen – Letztere sogar vorzugsweise in der Schweiz. Doch nur in Ostdeutschland gelingt es der AfD, bis zu einem Drittel der Wähler zu mobilisieren. Aus linker Sicht besonders schmerzlich ist dabei ihr Erfolg bei der Arbeiterschaft. Nur im Osten kommt die AfD bislang tatsächlich in die Nähe der Macht. Offenbar gelingt es der Partei bei vielen, sich als Vertreterin der ostdeutschen Identität und der ostdeutschen Interessen auszugeben. Der Erfolg der AfD im Osten wäre nicht denkbar ohne eine ganze Riege von Intellektuellen und Künstlern, die dem Rechtsruck bildungsbürgerlichen Ausdruck verleihen.

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Phrase & Antwort – die zweite Show

Gemeinsam mit dem Kollegen Maik Martschinkowsky von Die Lesedüne habe ich am 6. Mai die zweite Ausgabe unserer neuen satirischen Presseshow Phrase & Antwort als Livestream geliefert. Wir haben uns u.a. mit den Kampfschriften von Verschwörungsdurchblickern, christlichen Streitern gegen die Onanie und dem Rechtstwitterer Norbert Bolz beschäftigt. Wer mag, kann die ganze Show jetzt kostenlos auf unserer Homepage anschauen:

ANSCHAUEN AUF PHRASE & ANTWORT

Der Weg zum kleinen Mann. Über Robert Misiks „Die falschen Freunde der einfachen Leute“

Seit Jahrzehnten wird unter Linken ein Streit ausgetragen. Es geht um die Frage: Ist eine marxistisch fundierte Klassenpolitik noch zeitgemäß, oder muss sie durch eine Politik ersetzt werden, die verschiedene Gruppen von Subalternen im Kampf gegen Diskriminierung zusammenführt? Sollte es vor allem darum gehen, die Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu ändern? Oder überschätzt eine solche Strategie die Bedeutung der Umverteilung im Vergleich zur gesellschaftlichen Anerkennung? Die Wahlsiege von „Rechtspopulisten“ wie Donald Trump haben den Ton in der Debatte noch einmal verschärft: Oft war in den vergangenen Jahren die These zu hören, eine Identitätspolitik, die beständig nur um sexuelle und kulturelle Fragen kreise, sei schuld daran, dass traditionelle Linkswähler aus der Arbeiterschicht zu den Rechten überlaufen. Der Wiener Publizist Robert Misik unternimmt in seinem Buch „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ den Versuch, die Debatte von Vereinfachungen und falschen Entgegensetzungen zu befreien.

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Wird die Berliner Zeitung kippen?

Als das Hipster-Unternehmerpaar Holger und Silke Friedrich im September 2019 die seit langer Zeit schwächelnde Berliner Zeitung kaufte, rätselten Beobachter über die Gründe. Warum steigen erfolgreiche Geschäftsleute in die Totholzbranche ein? Ein Essay, in dem die beiden in ihrer Zeitung ihre Pläne der Weltöffentlichkeit vorstellten, sorgte nicht für Aufklärung, sondern nur für Zweifel am Geisteszustand der Erfolgsmenschen. Nachdem inzwischen mehrere Artikel in der Berliner Zeitung erschienen sind, die den Geschäftsinteressen der Friedrichs ganz gut zupasskamen, sieht man klarer. Ein Chefredakteur hat schon nach wenigen Wochen Reißaus genommen. Nun ist es an dem sogenannten Herausgeber und Geschäftsführer Michael Maier, dafür zu sorgen, dass die ökonomischen Interessen der Internet-, Bildungs- und Veranstaltungsunternehmer bei aller redaktionellen Unabhängigkeit nicht zu kurz kommen. Das ist nicht ganz einfach, steht doch die Berliner Zeitung noch in dem Ruf, ein bisschen links zu sein. Doch die Corona-Krise macht einiges möglich, so jüngst einen schneidig als „Leitartikel“ angekündigten Beitrag des Geschäftsführers Michal Maier höchstselbst unter dem Titel:

Die Stimmung wird kippen

Noch ist es sehr ruhig auf den Straßen Berlins. Nicht nur wegen der Ausgangsbeschränkungen und der Stilllegung der Wirtschaft. Diejenigen, die es sich leisten können, genießen den schönen Frühling als eine Art vorgezogenen Sommerurlaub mit offenem Ende. In der Stadt merkt man nichts von Corona. Doch es ist eine trügerische Stille.

Vielleicht gibt es gute Gründe dafür, warum manche Menschen Journalisten, andere hingegen Geschäftsführer werden. Diese Gründe zeigen sich, wenn ein Geschäftsführer versucht, selbst zu schreiben und dabei nicht die Wirklichkeit vor Augen, sondern die Geschäfte der Eigentümer im Sinn hat. Um von Corona nichts zu merken, muss man die Augen jedenfalls schon fester geschlossen halten, als das bei Journalisten üblich ist. Besuche in einem beliebigen Supermarkt, bei der Investitionsbank Berlin und in der Intensivstation der Charité hätten eigentlich genügt, um wenigstens einige kleinere Veränderungen wahrzunehmen.

Die Stimmung kann jederzeit kippen – und sie wird kippen. Wenn am kommenden Montag die Stadt wieder langsam zum Leben erwacht, werden die meisten Bürger die erste einschneidende Änderung sehen: Die Maskenpflicht bei Bahn und Bus wird die Berliner aus der Illusion reißen, dass jetzt wieder alles gut wird.

Wieso die Berliner aus einer Illusion gerissen werden sollten, die sie sich gar nicht machen, bleibt Geheimnis des Geschäftsführers. Vielleicht war hier der Wunsch der Vater der Gedankenlosigkeit: Wie gerne sähe der Geschäftsführer, dass die Berliner schon jetzt wieder völlig unbesorgt ihren Geschäften nachgehen – vorzugsweise den Geschäften mit der CCG-Commercial Coordination Germany GmbH des famosen Holger Friedrich!

Man macht sich kaum eine Vorstellung, wie sehr sich unser Lebensgefühl und unser soziales Verhalten ändern werden, wenn wir überall Maskenmännern und Maskenfrauen in die Augen schauen werden.

Ist es nicht eigentlich recht einfach, sich davon eine Vorstellung zu machen? Ich vermute, die Berliner werden die Maskenmänner und Maskenfrauen im öffentlichen Nahverkehr so hinnehmen, wie sie rumänische Akkordeonspieler und nackte Experimentallyriker im öffentlichen Nahverkehr hinnehmen – schulterzuckend und gelassen.

Aktuell sind es vielleicht zehn Prozent der Fahrgäste, die eine Maske tragen. Ab Montag ist es verpflichtend, Masken zu tragen. Immerhin wird das Tragen von Masken nicht von der Polizei kontrolliert. Vermutlich hofft die Politik auf die Blockwart-Tradition: Dass man nämlich angepöbelt wird, wenn man ohne Maske in die Bahn steigt. Oder vom Busfahrer abgewiesen wird.

Auf die gute, alte Blockwarttradition der Berliner ist sicherlich Verlass. Man hört, dass früher auch schon einmal Freiheitskämpfer unter ihr zu leiden hatten, die sich ihr Recht nicht nehmen lassen wollten, im Bus zu rauchen oder auf den Sitz zu kacken.

Es kann natürlich auch umgekehrt sein: Dass Leute, etwa Jugendliche in Gruppen, aggressiv reagieren und zu provozieren versuchen. Spätestens wenn sich bei Temperaturen über 30 Grad der Schweiß unter der Maske ansammelt, dürfte es unwirtlich werden.

Während es bislang bei 30 Grad in Berliner Bussen geradezu paradiesisch zuging. Besonders, weil man ohne Maske die Achseldüfte seiner Fahrtgenossen völlig ungefiltert zu sich nehmen durfte.

Der Kernfehler der meisten Corona-Maßnahmen nach dem Shutdown besteht in der totalen Fehleinschätzung der Politik über die Grenzen ihres Wirkens. Diese geht in beide Richtungen: Die Politik unterschätzt sich, indem sie Virologen die Gesellschaft der Zukunft formen lässt.

Politiker, die sich Rat bei Fachleuten holen, verfehlen nach Ansicht des Geschäftsführers also ihren Beruf. Dass ein früherer Journalist meint, Politiker würden sich selbst unterschätzen, überrascht ein wenig. Üblicherweise halten Journalisten Politiker für überschätzt, vor allem, weil die sich so oft weigern, die Zukunft von Journalisten formen zu lassen.

Warum eigentlich nicht Onkologen? Oder Sucht-Mediziner? An Krebs und Rauschmitteln sterben wesentlich mehr Menschen als an Corona. Die Alkohol-Sucht ist zwar keine Seuche. Sie hat sich in den vergangenen Jahren jedoch rasant ausgebreitet. Die Risikogruppe sind die Jugendlichen.

Dass der Alkoholkonsum nicht wächst, sondern seit Jahren sinkt, auch bei Jugendlichen, hätte ein Journalist vielleicht recherchieren können. Aber in Zeiten des Ausnahmezustands dürfen sich Geschäftsführer mit derlei Ablenkungen nicht selbst die Zeit rauben. Ihr Metier ist die hohe Kunst des schiefen Vergleichs. Sie entdecken, dass Krebs und Suff ansteckend sind und deshalb wie Pandemien behandelt werden müssten.

Trotz all der grassierenden Krankheiten haben die Regierungen der Welt noch nie eine Art der globalen Quarantäne verhängt. Noch nie hat die Politik das Schicksal aller gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Bereiche so willenlos in die Hände von Experten gelegt.

Früher ging’s doch auch ohne Quarantäne! Selige Zeiten, die denen Spanische und andere Grippen noch ungestört von den tyrannischen Griffeln der Experten Millionen dahinraffen konnten!

Zugleich überschätzt sich die Politik, indem sie Verordnungen erlässt, deren Einhaltung sie niemals kontrollieren und deren Auswirkungen sie nicht im Ansatz abschätzen kann. Die Verordnung des Mindestabstands von 1,50 Meter auf Spielplätzen ist an Irrsinn nicht zu überbieten.

Mir würden vielleicht noch zwei bis drei irrsinnigere Dinge einfallen, zum Beispiel die Kopfbehaarung von Holger Friedrich, aber das ist Geschmackssache. Durchaus interessant ist jedoch der Vorschlag des Geschäftsführers, in Zukunft keine Verbote mehr zu erlassen, die jemand brechen könnte. Das dürfte zu einem erheblichen Bürokratieabbau im Justizwesen und zu einer Entlastung der Gefängnisse führen.

Die Zerstörung der Gastronomie-Branche in Berlin kann auch durch Almosen nicht abgewendet werden: Aktuell ist zu erwarten, dass die Restaurants bis mindestens Ende Mai geschlossen bleiben müssen – so heißt es aus dem Senat.  […]

Mit dem Sterben von Restaurants fällt für viele Menschen ein Element der Balance weg: Sie können ihren Stress nicht abbauen, der – wie alle Ärzte bestätigen – in allen Altersschichten drastisch zunimmt.

Ich muss meine Kritik an den Recherchefähigkeiten des Geschäftsführers zurücknehmen. In so kurzer Zeit „alle Ärzte“ in Berlin zum Zustand ihrer Patienten zu befragen – das macht ihm so leicht niemand nach. Wie es die völlig gestressten, am Rande des Nervenzusammenbruchs stehenden Berliner am Ende des Leitartikels schaffen, mit den seelenruhigen, tiefenentspannten Berlinern am Anfang des Leitartikels identisch zu sein, bleibt das Geschäftsgeheimnis von Michael Maier.

Auch anderswo werden die Leute keine Hilfe finden: Die sogenannten „nichtärztlichen Heilberufe“ oder Zahnärzte stehen vor dem Kollaps. Das betrifft Praxen der Logo-, Ergo-, Physio- und Psychotherapie. Auch Tierärzte geraten unter Druck.

Das alles ist gewiss richtig und traurig. Doch frage ich mich, woher der Geschäftsführer die Überzeugung nimmt, dass eine ungehemmte Ausbreitung des Corona-Virus bei Ärzten und anderen Heilkräften für Entspannung sorgen würde. Weiß er etwa, dass alles in Wirklichkeit ganz harmlos ist? Wenn er doch nur mit der Sprache rausrücken würde! Aber das muss er nicht, denn Gleichgesinnte können zwischen den Zeilen lesen.

Die aus den Fugen geratene Politik gibt keine Hoffnung. Man werde über die zweite Welle der Öffnung erst entscheiden, wenn die Zahlen das hergeben, sagt der Senat. Welche Zahlen? Wer erstellt die Zahlen? Wer überprüft sie? Wer berechnet welche Modelle, zieht Schlussfolgerungen und übernimmt Verantwortung? Das Rezept der Politik ist apokalyptische Panikmache. Sie flieht in intransparente Experten-Berechnungen.

Am Ende erfährt der Leser, woher er rührt, der Zorn des Geschäftsführers. Er ist den Experten böse, weil die ständig Zahlen ins Internet stellen, die ihm nicht gefallen und schon deshalb fragwürdig sind. Und dann können sie auch noch rechnen! Michael Maier dürfte nicht der Einzige sein, der sich durch so viel Rücksichtslosigkeit beleidigt fühlt. So gab es denn auch viel Zustimmung zu seinem Leitartikel von allen Menschen, denen die Bitte, noch ein paar Wochen lang vorsichtig zu sein, in den Ohren klingt wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts.

Die vermummten Gesichter, die wir ab Montag sehen werden, sind erst der Anfang einer tiefgreifenden Veränderung. Es wird keine schöne, neue Welt.

Sondern eine hässliche Corona-Diktatur, in der Angela Merkel, die Fürstin der Erreger, mit Waffengewalt die Vollverschleierung aller Menschen durchsetzt, freie Männer dazu zwingt, sich nach dem Pinkeln die Hände zu waschen, und am Ende vielleicht gar unter dem Vorwand der Hygiene Holger Friedrich seinen Bart abrasiert, in dem bislang so friedlich zwei Beutelmeisen nisten. Sollte die Diktatur aber doch nicht kommen, werden ganz gewiss die deutschen Freiheitskämpfer des Jahres 2020 verkünden, dies sei einzig ihr Verdienst.