Was ist deutsch? Über Dieter Borchmeyers Summe des Deutschtums

Was ist deutsch? Jemand, der 1056 Seiten vollschreibt, um diese Frage zu beantworten, ist es schon einmal ganz sicher. Spätestens mit dieser Leistung hat sich Dieter Borchmeyer die Berufsbezeichnung „Germanist“ auch als Ehrennamen verdient. Jeder, der diese 1056 Seiten freiwillig liest, dürfte aber auch zum Kreis der Verdächtigen gehören. Es erfordert zweifellos deutsche Härte, sich auf die Lektüre so einer teutonischen Riesenschwarte einzulassen. Die schiere Länge ist jedoch nicht die größte Herausforderung. Die schwierigste Hürde ist vielmehr die erste Seite, die unglücklicherweise die unangenehmste des ganzen Buches ist.

Kein Volk der Geschichte hat sich so unaufhörlich mit der eigenen Identität beschäftigt wie das deutsche.

Mit diesem Satz hebt das Werk an. Mit einer hohleren Phrase hätte Borchmeyer nicht beginnen können. Kennt er tatsächlich alle Völker der Welt und der Geschichte gut genug, um ein solches Urteil fällen zu können? Weiß er ganz sicher, dass die Kenianer, die Tadschiken und die alten Phönizier nicht doch noch ein bisschen mehr mit ihrer Identität gerungen haben? So wörtlich war’s gar nicht gemeint? Es sollte nur ein bisschen hyperbolisches Pathos in den ersten Satz, damit er schicksalsschwer klingt? Dummerweise imitiert der Satz auf diese Weise aber eben den deutschen Größenwahn, der eigentlich zu analysieren wäre. Außerdem legt der Autor auch Zeugnis ab von seiner Unkenntnis der modernen Nationalismusforschung, deren Beiträge sich tatsächlich auch im Literaturverzeichnis nicht finden lassen. Die Annahme, die Nation sei immer schon da gewesen und befinde sich bloß noch auf der „Suche nach sich selbst“, ist schon seit bald hundert Jahren widerlegt. Wir wissen heute, dass die Nation selbst erst ein Produkt der Geschichte ist. Der vermeintliche Charakter der Nation, ihre Geschichte, ja weithin selbst ihre Sprache werden erfunden von Menschen, deren politische und ökonomische Interessen zur Bildung eines Nationalstaates drängen. Was Borchmeyer abgeht, ist mithin auch die Einsicht, dass sein eigenes Buch ebenfalls nicht einfach eine sachliche Bestandsaufnahme, sondern ein Beitrag zu eben dieser ideologischen Nationsbildung ist.

Ärgerlich ist auch eine noch im ersten Absatz eingenommene Pose in Sarrazins Manier. Die „bloße Frage nach der deutschen Identität“, heißt es da, habe wegen des Dritten Reiches bis zur Wiedervereinigung zum „Kanon des Verbotenen“ gehört. Es gibt offenbar nicht nur Freudsche, sondern auch Germanistische Versprecher. Ein Kanon des Verbotenen heißt Index. Wenn einem Professor der Literaturwissenschaft das passende Wort nicht einfallen will, dann vielleicht deshalb, weil es der Sache nach ganz und gar nicht passt. Das vermeintlich in die „Tabuzone“ Weggesperrte wurde nämlich sehr wohl auch in der Zeit der deutschen Teilung unablässig bequatscht, gehörte also durchaus zum Kanon, wenn auch nicht dem des Verbotenen. Borchmeyer kann sich und die anderen Nationaldenker nur als Tabubrecher darstellen, indem er die Geschichte fälscht. Er ist es, der zum Beispiel ein für die nationale Debatte so wichtiges Werk wie das mitten in der Zeit des vermeintlichen Totschweigens erschienene Buch Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965) von Ralf Dahrendorf totschweigt.

Das ganze Buch ist jedoch besser als sein Beginn. Natürlich wären noch weitere Schwächen aufzuzählen: Die Geschichte der nationalen Ideologie wird von Borchmeyer betulich und bieder erzählt als das Gespräch der großen Geister über Generationen hinweg: Goethe und Schiller, Fichte und Hegel, Nietzsche und Wagner, Walser und Grass. Die Populärkultur und der politische Diskurs abseits von Philosophie und hoher Literatur spielen kaum eine Rolle. Dass in einer solchen Erzählung Frauen überhaupt nicht vorkommen, versteht sich von selbst. Und dennoch: Wer Gelehrsamkeit alten Stiles erträgt oder sogar eine heimliche Schwäche für sie hat, für den kann die Lektüre sich lohnen. Einen größeren Wissensschatz zu diesem Thema dürfte kein anderer Deutscher aufgehäuft haben. Borchmeyer erzählt die Geschichte des nationalen Gedankens von der Goethezeit bis in die Gegenwart und berücksichtigt dabei fast alle wichtigen Stellungnahmen und Blickwinkel. Auch in politischer Hinsicht zeigt sich Borchmeyer im Laufe des Buches erträglicher, als der Anfang befürchten lässt. Beschränkter und völkischer Nationalismus sind ihm erkennbar zuwider. Eine Neigung hat er für die kosmopolitische Tradition innerhalb der deutschen Geistesgeschichte, wiewohl er auch die Gefahren nicht verkennt, die mit diesem Weltbürgertum verbunden waren und sind.

Borchmeyer eröffnet sein Buch mit einigen Kapiteln, die sich mit der Entstehung der deutschen Nationalideologie und -mythologie um 1800 beschäftigen. Die romantischen Frühnationalisten entwickeln angesichts der Vielzahl, Unterschiedlichkeit und Machtlosigkeit der deutschsprachigen Staaten ein Programm, nach dem eine deutsche Einheit in Kultur und Blut schon vorhanden sei, die dringend staatlicher Verkörperung bedürfe. Der Hass gegen den französischen Erbfeind und gegen die Juden als Fremde im eigenen Land ist ihnen Mittel zum Zweck. Demgegenüber sehen humanistische und kosmopolitische Denker wie Goethe in der Abwesenheit eines deutschen Zentralstaates geradezu einen Vorteil für die deutsche Kultur, die sich ihrer Ansicht nach durch Weltbürgerlichkeit vor allen anderen auszeichnet. In dieser Idee einer deutschen Berufung lag allerdings, wie Borchmeyer überzeugend nachweist, auch immer schon das Potenzial zum chauvistischen Missbrauch: Die europäische, ja menschheitliche Mission der Deutschen kann zur Rechtfertigung eines deutschen Imperialismus missbraucht werden. Borchmeyer schildert, wie im folgenden Jahrhundert die Deutschen beständig schwanken zwischen einem Nationalismus, der wegen ihres Minderwertigkeitskomplexes besonders aggressiv ist, und einem Kosmopolitismus, der die ganze Welt umarmen möchte, notfalls zwangsweise.

All diese Einsichten sind nicht neu. Ihre umfassende und zugleich detaillierte Zusammenstellung hat aber dennoch ihren Nutzen. Außerdem macht Borchmeyer auf wenig bekannte Verkünder und Kritiker des deutschen Volkscharakters aufmerksam. Bemerkenswerte Gestalten wie Bogumil Goltz oder Erich Kahler dürften bislang allenfalls Kennern bekannt gewesen sein. (Andererseits vermisst man aber auch manchen Akteur, wie etwa Saul Ascher, einen frühen jüdischen Kritiker des deutschen Nationalismus.) Besonders lesenswert sind die Kapitel, in denen Borchmeyer sich auf seine wissenschaftlichen Lieblingsfelder begeben kann. In einem Kapitel über „Deutschtum und Judentum“ erzählt er die Geschichte einer tragischen Verfehlung: Noch bis 1933 waren viele deutsche Juden überzeugt, eine wechselseitige Neigung bestehe zwischen Deutschen und Juden aufgrund des kosmopolitischen Charakters der beiden Völker. Bis zur Selbstopferung im Ersten Weltkrieg trieb viele Juden der Wunsch, als gleichwertige Mitbürger von den Deutschen anerkannt zu werden. Erst die Nationalsozialisten beendeten gewaltsam solche Illusionen. Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit der „deutschen Musik“, deren Weltgeltung für das Selbstbild der Deutschen lange von großer Bedeutung war. Wie Borchmeyer am Beispiel von Richard Wagner zeigt, vermengten sich auch hier humanistische und nationalistische Impulse auf höchst gefährliche Weise. Ein großer Abschnitt ist Thomas Mann gewidmet, der überhaupt der wichtigste Gewährsmann Borchmeyers im ganzen Buch ist. Er schildert die Entwicklung Manns vom rechten Verächter des westlichen Liberalismus in Betrachtungen eines Unpolitischen zum Verteidiger der Demokratie und entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus. Mann dient Borchmeyer so als Vorbild für jene Zähmung der nationalen Gesinnung durch übernationale Kultur, die er dem ganzen deutschen Volk ansinnt.

Ein selbstbewusstes, aber nicht abgeschottetes oder überhebliches Deutschland als „neue Mitte Europas“ – dies ist die politische Wunschvorstellung Borchmeyers. Mit der unvollkommenen, aber doch letztlich glücklichen Wiedervereinigung sieht er dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Er bewegt sich damit im Hauptstrom der Berliner Republik, der den deutschen Sonderweg beenden und Deutschland zur „normalen“ Nation unter anderen machen möchte, um so den militanten Chauvinismus und Rassismus der Vergangenheit endgültig zu überwinden. Wie leicht der vermeintlich gesunde Patriotismus sich in Krisen und Kriegen überall in den guten, alten Nationalismus zurückverwandelt, wird von Borchmeyer nicht bedacht. Auch der Hartnäckigkeit, mit der die Deutschen ihre Nation noch immer als Blutsgemeinschaft verstehen, spielt keine große Rolle in seinen Überlegungen. Menschen deutscher Sprache, die keine Sehnsucht nach Deutschland umtreibt, bleiben ihm letztlich unverständlich. Ihre Haltung wird mit der psychologisierenden Vokabel „Selbsthass“ abgetan. Doch auch wer mit Borchmeyers politischem Deutschtum nichts anfangen kann, sondern sich nur für die Geschichte des deutschen Nationalismus interessiert, wird den Band mit Gewinn lesen. Wer ihn am Stück nicht bewältigt, kann ihn immer noch gut als Nachschlagewerk nutzen. Nationale Begeisterung wird die Lektüre nicht wecken, dazu ist die Darstellung zu ehrlich.

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Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Berlin: Rowohlt, 2017, 1056 Seiten, 40 Euro

Termine der Woche

Am Mittwoch (24. April) springe ich spontan ein als Gastautor bei der sehr stimmungsvollen Lesebühne Cottbus. Die Stammautoren sind Udo Tiffert, Andreas Vent-Schmidt, Mathies Rau und Matthias Heine. Los geht es um 20:30 Uhr in der gemütvollen Kneipe Zum Faulen August. Der Eintritt ist frei, Spenden erbeten.

Am Sonnabend (27. April) lese ich beim Frühlingsfest von La Datscha, dem letzten besetzten Haus in Potsdam. Das kollektive Wohnzimmer mit Volxküche, Gartenareal und Havelstrand bietet einen Freiraum jenseits kapitalistischer Verwertungszwänge. Bezahlen muss man daher für die Lesung, die nicht allzu lange nach 15 Uhr beginnen soll, natürlich nix. Lesen wird auch der Kollege Jan Off, der vielleicht sogar noch ein bisschen mehr Punk ist als ich.

Am Sonnabend (27. April) um 20 Uhr muss ich dann aber zurück in Berlin und noch halbwegs nüchtern sein, denn ich amtiere als Featured Poet bei DichterAsse. Auch hier ist der Ort ein ganz besonderer: das Café Y not des CVJM Berlin e.V.

Lassen Sie mich durch, ich bin Argumentationslogiker

Ein junger Mensch, der sich auf den Leidensweg eines Studiums der Philosophie begibt, wünscht sich für seine ersten Schritte auf unbekanntem Terrain einen weisen Ratgeber. Der renommierte Klostermann-Verlag gelangte zu dem Schluss, der Shootingstar Daniel-Pascal Zorn sei geeignet, eine »Einführung in die Philosophie« zu solchem Zweck zu schreiben.

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Der Streit um den *

Seit der Todesstern des Imperiums vor langer Zeit in einer weit entfernten Galaxie sein Unwesen trieb, wurde kein Stern mehr mit solcher Inbrunst gehasst wie das Gendersternchen. Schon deswegen übermannt mich Mitleid mit dem kleinen Racker, der doch gewiss noch nie jemandem etwas zuleide getan hat. Der Asterisk soll, wie dank der erregten Debatte inzwischen wohl jeder Mensch weiß, nach dem Wunsch seiner Fürsprecher und Fürsprecherinnen sprachlich für Geschlechtergerechtigkeit sorgen. Ähnliche Versuche gibt es seit Jahrzehnten, so den BinnenGroßbuchstaben und den Unterstrich im Wort_inneren. Diese Versuche spielten sich aber fast ausschließlich innerhalb der linken Szene ab. Durchsetzen konnten sich diese Sprachformen nicht einmal in den größeren linken Zeitungen und Zeitschriften. Der neue Asterisk, der neben den Frauen auch allen anderen Geschlechtsidentitäten zu ihrem sprachlichen Recht verhelfen soll, wird hingegen inzwischen auch von manchen Kulturinstitutionen, Universitäten und Behörden verwendet. Das weckt den Zorn seiner Feinde.

Jüngst sorgte eine vom Verein Deutsche Sprache initiierte Petition gegen den „Gender-Unfug“ für Aufsehen, die nicht nur von den üblichen Rechten wie Safranski, Patzelt und Maaßen unterzeichnet wurde, sondern auch von Autorinnen wie Judith Hermann oder Katja Lange-Müller, die gewiss keiner dem maskulinistischen Lager zurechnen wird. Es ist einfach so, dass auch in liberalen und linken Kreisen Vorbehalte gegen Spracherfindungen im Dienste der Geschlechtergerechtigkeit verbreitet sind. Sie werden bloß nicht so laut ausgesprochen, aus Angst davor, sich den Applaus der Rechten oder den Zorn der Freunde einzuhandeln.

Der „Generalirrtum“ der Freunde der „sogenannten gendergerechten Sprache“ besteht nach Meinung der Sprachschützer im Glauben, „zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht bestehe ein fester Zusammenhang.“ Man sage doch: „Der Löwe, die Giraffe, das Pferd. Und keinen stört es, dass alles Weibliche sich seit 1000 Jahren von dem Wort ‚das Weib‘ ableitet.“ Dies ist nun allerdings das denkbar schlechteste Beispiel, das die Sprachschützer wählen konnten. Und dies nicht nur, weil es heutzutage gewiss jede Frau stören würde, als „das Weib“ bezeichnet zu werden. Dass wir Weiber und Mädchen wie Sachen anreden, hat sprachgeschichtlich durchaus damit zu tun, dass Frauen früher eben auch wie Sachen behandelt wurden, die verkauft werden konnten, zum Beispiel vom Vater an den Bräutigam. Dass wir „die Frau“ anders ansprechen, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die „vrouwe“ noch im Mittelhochdeutschen ausschließlich die adlige Dame bezeichnete, jene Ausnahmefrau also, der man schon damals eine Persönlichkeit zubilligte. Aber das sind Fragen, welche die Sprachschützer vorsichtshalber gar nicht erst in den Blick nehmen. Sie ignorieren völlig eine unbestreitbare Einsicht: Unsere Sprache ist bis heute stark dadurch geprägt, dass über Jahrtausende nur der Mann als Mensch im vollen Sinne galt, die Frau hingegen als minderwertige Abweichung.

Zwischen dem grammatischen und dem natürlichen Geschlecht besteht gewiss kein „fester“ Zusammenhang. Aber die Sprachschützer mogeln sich an dem Eingeständnis vorbei, dass es einen mehr oder weniger starken Zusammenhang sehr wohl gibt. Stellen wir uns, wenn wir an „die Katze“ denken, nicht eher ein weibliches Wesen vor? Und ein eher männliches, wenn uns „der Hund“ in den Sinn kommt? Ganz sicher malen jedenfalls französische Kinder „la lune“ eher als Frau und „le soleil“ eher als Mann – ganz im Gegensatz zu deutschen Kindern. Und auch Erwachsene werden, wenn sie in einem Geschichtsbuch von der harten Arbeit der Bauern auf den Feldern lesen, ganz unwillkürlich Männer vor sich sehen, nicht aber die Bäuerinnen, deren Arbeit gewiss nicht weniger hart war. Als in der amerikanischen und der französischen Revolution die „Rights of Man“ und die „Droits de l’homme“ verkündet wurden, da handelte es sich nicht nur dem Buchstaben nach, sondern auch in der Tat ausschließlich um die Rechte der Männer. Erst die gendergerechte Erfindung des Wortes „Menschenrechte“ machte es möglich, auch Frauen als Träger dieser Rechte zu denken. Wörter wie „Ärztinnen“ und „Richterinnen“ gab es noch vor kurzer Zeit nicht, eben weil es keine Ärztinnen und Richterinnen gab. Die Wörter zeigen also den Fortschritt. Nichts spricht dagegen, die der deutschen Sprache ureigene Möglichkeit zu nutzen, weibliche Endungen an schon vorhandene Hauptwörter anzuhängen. Seltsamerweise bilden sich die in dieser Hinsicht ziemlich beschränkten Sprachschützer offenbar etwas darauf ein, ausschließlich „Politiker, Behörden, Firmen, Gewerkschaften, Betriebsräte und Journalisten“ anzusprechen.

Ich halte das Ziel der Befürworter und Befürworterinnen der „gendergerechten Sprache“ also für völlig berechtigt. Eine andere Frage ist es, ob alle von ihnen vorgeschlagenen Sprachreformen auch geeignete Mittel sind. Berechtigt ist der Einwand, Formen wie „die Radfahrenden“ seien schlicht falsch. Ein Lesender ist jemand, der eben in diesem Augenblick etwas liest, ein Leser hingegen jemand, der dies schon einmal getan hat und regelmäßig tut. Wenn neuerdings von „Radfahrenden“ die Rede ist, geht es also zumeist in Wirklichkeit um Radfahrer (und Radfahrerinnen). Ebenso zutreffend ist der zweite Einwand, eine völlig geschlechtergerechte Sprache, die immerzu männliche und weibliche Formen gleichberechtigt gebraucht, lasse sich konsequent gar nicht durchhalten. Man käme nicht nur zu absonderlichen Wörtern wie „Bürgerinnen- und Bürgermeister“ oder „Christ*innentum“. Man müsste im Grunde auch in beinahe jedem Satz Pronomen wie „keine*r“ oder „seine/ihre“ gebrauchen. Was für Berufsbezeichnungen noch angemessen und sinnvoll ist, wird auf die ganze Sprache angewandt zur Absurdität. Selbst wenn man der Meinung ist, eine so umgeformte Sprache sei gerechter, sollte man eingestehen, dass dieser Zugewinn mit Verlusten erkauft ist. Die Sprache wird ausladender, verwickelter, unübersichtlicher, verkopfter und hässlicher. Die Schriftsprache entfernt sich von der gesprochenen Sprache, der sie sich doch eigentlich anschmiegen sollte. Der Versuch, Genderzeichen in gesprochene Sprache zu übersetzen, erzeugt nicht eben Wohlklang.

Diese Überlegungen führen mich zu grundsätzlichen Einwänden: Sollten nicht gerade Menschen, die sich politisch für Solidarität einsetzen, möglichst für alle verständlich sprechen und schreiben? Wozu sonst die anderweitigen Versuche mit „einfacher Sprache“? Inwiefern kann dabei eine Ausdrucksweise helfen, zu deren Verständnis man elaborierte Kenntnisse im Feld der feministischen Linguistik benötigt? Sollte nicht auch bedacht werden, dass Umfragen zufolge eine große Mehrheit der Bevölkerung diese Neusprache nicht mag? Man kann natürlich erwidern: Die Leute sind eben noch nicht aufgeklärt genug, man muss ihnen diese Sprache gehörig eintrichtern, bis sie zur Normalität wird. Aber ist das ein emanzipatorischer Ansatz?

Die Freunde der gendergerechten Sprache stammen überwiegend aus akademischem Milieu. Und es scheint mir, als ließe sich aus dieser Herkunft auch ihr Hang erklären, die Sprache sehr zu überschätzen. In manchen Sprachen gibt es überhaupt keine weiblichen Endungen wie im Deutschen. Ist für diese Länder alles verloren? In anderen Sprachen gibt es selbst für die Verben weibliche Formen. Sind diese Länder in Sachen Gleichberechtigung uneinholbar voraus? Gewiss, die Sprache formt das Denken und damit auch das Handeln. Noch mehr aber wird die Sprache geformt durch die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Wer glaubt, die Sprachreform sei das wichtigste Mittel, um die Gesellschaft gerechter zu machen, wird enttäuscht sein zu hören, dass das Esperanto bislang noch nicht den Weltfrieden gebracht hat. Ich glaube: Dürften die Frauen nur erst in Ökonomie, Politik und Kultur gleichberechtigt mitreden, würde sich die Sprache dazu schon finden.

Nichts spricht dagegen, im Rahmen dessen, was sinnvoll und machbar ist, die Geschlechtergerechtigkeit auch in der Sprache walten zu lassen. Aber diese Absicht ist es ganz sicher nicht wert, durch eine unaussprechliche und unverständliche Geheimsprache Menschen zu verschrecken, die in praktischer Hinsicht der Emanzipation durchaus zugetan sind. Viele von denen empfinden den Genderjargon nämlich nicht als inklusiv, sondern als Selbstgespräch einer Kaste von Bildungsprivilegierten, die sich gegenseitig ihrer Awareness versichern.

Wer das Gendersternchen benutzen will, der mag das von mir aus gerne tun. Doch soll auch niemand dafür verdammt werden, es zu unterlassen. Fast möchte ich vorschlagen: Können wir nicht einfach alle schreiben, ohne anderen etwas vorzuschreiben? Das ist allerdings in Deutschland kaum möglich, wo alle immerzu nach dem Kommandohebel schielen, wo in jedem Menschen ein Hausmeister steckt, der Vorschriften machen will. Der Verein Deutsche Sprache macht reinheitsbesessen Jagd auf Anglizismen, aber auch so mancher Freund „gerechter Sprache“ zeigt auf subtilere Weise Unduldsamkeit, indem er Anderssprechende zu Bösewichten erklärt. Gegen eine Zwangsbeglückung, die von uns allen verlangte, dem Genderstern zu folgen wie dem Stern zu Bethlehem, müsste auch ich Einspruch erheben.

Termine der Woche

Am Dienstag (9. April) lese ich als Gastautor was vor bei der ruhmreichen Lesebühne LSD – Liebe Statt Drogen im zauberhaften Schokoladen, der letzten Bastion des Punk in Berlin-Mitte – und das auch noch zur arbeitslosenfreundlichen Zeit 21:30 Uhr. Die Stammautoren sind Andreas „Spider“ Krenzke, Tobias „Tube“ Herre, Uli Hannemann, Eva Mirasol und Ivo Lotion. Als weitere Gäste werden auch noch Michael-André Werner und Sebastian Nitsch erwartet.

Am Donnerstag (11. April) präsentiere ich mit den lieben Kollegen Roman Israel, Max Rademann und Stefan Seyfarth als Dresdner Lesebühne Sax Royal die neuesten Früchte unseres künstlerischen Schaffens in der Scheune. Mit dabei ist wie immer auch ein Gast aus der Ferne, diesmal Jens Rosemann. Er stammt aus Schwarzenberg im Erzgebirge. Nach Jahren in Dresden lebt er inzwischen in Leipzig, wo er als freischaffender Illustrator und Filmemacher arbeitet. Er betreut die Animationsabteilung des Labels Kumpels & Friends. Gemeinsam mit Max Rademann ist er Schöpfer des legendären Animationsfilme um das Erzgebirgs-Duo Peschi & Poschi. Als Gast der Lesebühne Sax Royal präsentiert er einige filmische, musikalische und literarische Perlen seines Werkes. Los geht es um 20 Uhr. Tickets gibt es bis Mittwoch im Vorverkauf oder am Donnerstag am Einlass ab 19:30 Uhr.

Gaucks Wille zur Macht

Wenn die Frauen es nicht auf Führungsposten schaffen, weil sie es nun mal einfach nicht draufhaben, was für Luschen sind dann erst die Ossis? So mancher Mann wiegelte die Forderungen der Frauen nach gleichberechtigter Teilhabe an der Macht bisher schmunzelnd ab: Ihr habt doch alle Chancen, ihr müsst sie nur nutzen! Seit darüber gesprochen wird, dass auch Ostdeutsche so gut wie nie an die Spitze gelangen, nicht einmal in Ostdeutschland selbst, sind einige ostdeutsche Männer vielleicht ein bisschen nachdenklich geworden.

Nicht so Altbundespräsident Joachim Gauck, der gerade verkündete, der mangelnde Erfolg der Ostdeutschen sei darauf zurückzuführen, dass ihnen einfach „dieser absolute Durchsetzungswille“ fehle. Ein Pfarrer, der den Willen zur Macht preist! Hätte das nur der selige Friedrich Nietzsche noch erleben dürfen! Joachim Gauck selbst fehlte der Wille zur Macht allerdings nie. Sonst wäre es dem alten Phrasendrescher gewiss nicht gelungen, sich durch hartnäckiges Intrigieren an die Spitze des Staates zu schleichen. Dort frönte er seiner großen Leidenschaft zum folgenlosen Reden, gewann damit aber merkwürdigerweise die Herzen vieler Menschen gerade im Osten nicht.

Schuld an der Machtlosigkeit der Ostdeutschen ist laut Joachim Gauck auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht etwa die gegenwärtige Elite, sondern immer noch die DDR. Die Menschen im Osten hätten sich damals eine Wettbewerbsmentalität wie ihre Landsleute im Westen „nicht auf natürlichem Wege antrainieren“ können. Joachim Gauck glaubt also, dass man sich etwas, das von Natur kommt, auch noch antrainieren muss? Musste er jahrelang das Atmen und das Trinken üben, bevor es ihm zum ersten Mal gelang? Doch wohl kaum. Ich glaube sogar, dass er schon als Säugling so gehaltreich reden konnte wie heute. Die Härte, die man sich tatsächlich antrainieren muss, um in unserer Gesellschaft den sogenannten Erfolg zu erringen, liegt jedenfalls nicht in der Natur des Menschen.

Wo immer einer nicht über gesellschaftliche Verhältnisse reden möchte, spricht er über den „Willen“ des Einzelnen. Ihr müsst nur ganz doll wollen! So wird jenen beschieden, die es trotz aller Mühe nicht schaffen. Nicht die Hindernisse, die wir euch in den Weg legen, sind verantwortlich für euer Scheitern! Ihr wollt einfach nicht genug! Und prompt hat der Gescheiterte statt dem Willen, zusammen mit anderen die ungerechten Verhältnisse zu ändern, bloß noch ein schlechtes Gewissen wegen seines ganz persönlichen Versagens. Aber vielleicht löst gerade der Überflieger Joachim Gauck das ganze Problem doch noch – als abschreckendes Beispiel, das die Ostdeutschen davon überzeugt, besser auf dem Boden zu bleiben.

Über Eliten

Jeder kann es schaffen! So versichern uns die Eliten, deren Mitglieder zufällig fast ausnahmslos westdeutsch, männlich, weiß und aus gutem Hause sind. Warum nur schafft es nicht jeder? Dazu hat der Elitenforscher Michael Hartmann einiges zu sagen, dessen Buch Die Abgehobenen ich für die Sächsische Zeitung besprochen habe (ABO-TEXT):

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Zitat des Monats März

Daß so viele Menschen selbst die geringfügigen Gedanken, die sie haben, nicht ausdrücken können!

Eckhard Henscheid, Die Vollidioten

Brexit oder Die Freuden der direkten Demokratie

Warum überkommt uns, wenn wir das Treiben rund um den sogenannten Brexit betrachten, in schnellem Wechsel Heiterkeit und Trübsinn? Weil die Querelen die Demokratie in ihrer lächerlichsten und zugleich traurigsten Gestalt zeigen. Sie machen offenbar, wie sehr die Politik bloß ein Ringen um Macht ist, in dem Argumente lediglich als Waffen benutzt werden. Auf die Wahrheit oder Stimmigkeit der vorgetragenen Thesen kommt’s längst nicht mehr an. Was einer heute sagt, hat er morgen schon vergessen. Das Argument, mit dem eben noch für den einen Weg geworben wurde, beweist einen Tag später schon das Gegenteil. Diese Verwirrung entspringt nicht allein der Bosheit oder Dummheit der Politiker, sondern auch der Natur der Sache. Wo immer es um nationale Souveränität geht, bleibt am Ende nur der willkürliche Machtspruch. Der zugleich erregte und öde Streit zersetzt derweil das Vertrauen der Bürger in die Demokratie. Die Sehnsucht nach irgendeinem Gewaltstreich, der die vermaledeite Affäre beendet, verbreitet sich rasend.

Gewöhnlich sind es gerade Linke, die in ihren Programmen für mehr direkte Demokratie werben und Volksabstimmungen auch zu wichtigen politischen Fragen fordern. Wie soll man es nicht lächerlich finden, dass gerade sie die Volksabstimmung zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union ablehnten? Als die Bürger entschieden hatten, entdeckten die Freunde der direkten Demokratie plötzlich deren Nachteile. Das Ergebnis sei ja doch sehr knapp gewesen. Aber wird nicht sonst immer der Wert jeder einzelnen Stimme beschworen? Wozu überhaupt Abstimmungen, wenn knappe Ergebnisse nicht zählen sollen? Soll man Abstimmungen nur noch durchführen über Fragen, bei denen eine klare Mehrheit für eine Antwort sowieso schon gewiss ist? Das Ergebnis der Volksabstimmung wurde auch mit Argumenten wie diesen angefochten: Es habe ja Lügen der Brexit-Befürworter und eine Pressekampagne gegen Migranten gegeben und überhaupt sei die Sache im Grunde viel zu kompliziert gewesen fürs schlichte Gemüt der meisten Bürger. Aber gibt es nicht verlogene Propaganda vor jeder Wahl? Sind die Leute nicht immer gleich doof? Müsste man also nicht die Demokratie im Ganzen abwickeln, wenn man sie in diesem einen Fall nicht mehr gelten lassen will? Hätten die Remainer sich auch über das verblödete Wahlvolk beklagt, wenn die Abstimmung zu ihren Gunsten ausgegangen wäre? Hätten sie in diesem Fall nicht vielmehr die überlegene Weisheit der Bürger gepriesen?

Im allgemeinen Chaos behauptet auch nach der Volksabstimmung noch immer jede Partei, für „das Volk“ zu sprechen. Diese Vereinnahmung des Ganzen durch die verschiedenen Teile ist, obwohl die Logik dabei knirscht, in der Demokratie nicht ungewöhnlich. Im Brexit-Schlamassel ist sie aber auf einen bestimmten Grund zurückzuführen, den schwersten Fehler des ganzen Prozesses. Die Briten wurden gefragt, ob sie die Europäische Union verlassen wollen, aber sie wurden nicht gefragt, in welcher Weise dies im Fall der Fälle geschehen soll. Nachdem das Volk einmal gesprochen hatte, kehrte die Souveränität wieder zu ihrem gewöhnlichen Träger, dem House of Commons, zurück, das seine Hoheit über den Austrittsprozess gegen die widerstrebende Regierung durchsetzte, die den Spaß am liebsten im Alleingang geregelt hätte. So aber kollidieren zwei kaum verträgliche Systeme: die plebiszitäre und die repräsentative Demokratie. Das Volk hat gesprochen, aber was es genau gesagt hat, soll nun ein Parlament bestimmen. Aufgefordert vom Parlament, hat das Volk einen Befehl gegeben. Aber weder ist der Befehl völlig klar noch gibt es eine Instanz, von der die Parlamentarier zum Gehorsam gezwungen werden könnten.

Im Parlament sitzen Fraktionen (und Fraktionen in den Fraktionen), die ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Brexit haben: Die Hard Brexiteers unter den Konservativen wollen den Austritt aus der Europäischen Union dazu nutzen, das Vereinigte Königreich als Steuerparadies, Spekulantenoase und Billiglohnland im globalen Wettbewerb zum Erfolg zu führen: Global Britain. Dazu müssen aber alle rechtlichen und politischen Bindungen an die Europäische Union gekappt, der Binnenmarkt und die Zollunion verlassen werden. Die Freunde eines weichen Brexits bei den Tories und Labour wollen etwas ganz anderes. Ihnen wär’s lieb, wenn sich durch den Austritt möglichst wenig änderte. Sie wollen in der Zollunion, wenn möglich sogar im Binnenmarkt bleiben. Die schottischen Nationalisten der SNP kämpfen gleichzeitig für und gegen den Brexit. Sie wollen die Europäische Union nicht verlassen, denn zusammen sei man ja stärker als allein und Grenzen seien von gestern. Zugleich wollen sie aber das Vereinigte Königreich verlassen, denn allein sei man stärker als unter Fremdherrschaft und es brauche endlich eine Grenze zwischen Schotten und Engländern. Deswegen hat die SNP auch vor dem Referendum nur mit halber Kraft gegen den Brexit gekämpft. Sie wusste: Wenn der in Schottland unpopuläre Austritt durchgeht, erhöhen sich die Chancen, den Exit der Schotten in einem neuen Referendum durchzusetzen. Schottische Nationalisten als glühende Gegner des britischen Nationalismus – auch dies ein Schauspiel, das der Komik nicht entbehrt. Ganz in die entgegengesetzte Richtung marschiert die DUP, die kleine Partei der nordirischen Protestanten, die unter allen Umständen verhindern will, dass die Provinz Nordirland vom Vereinigten Königreich getrennt wird. Die Konservativen sind auf die Stimmen der DUP angewiesen, sie müssen deshalb das künftige Verhältnis zwischen Nordirland und Irland klären. Nur leider gibt es für dieses Problem keine Lösung, wenn das Vereinigte Königreich die europäische Zollunion verlässt. Dann nämlich gibt es eine Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland. Und eine Grenze, an der nicht kontrolliert wird, ist keine Grenze. Eine Grenze, an der kontrolliert wird, widerspricht aber dem Friedensabkommen, das den Bürgerkrieg in Nordirland beendet hat. Gegen den Plan, dann eben Nordirland als eigenes, quasi-irisches Zollgebiet zu behandeln, wehrt sich die DUP, die darin den ersten Schritt zur verhassten Wiedervereinigung Irlands sieht.

Was sich aus all diesen völlig gegensätzlichen Wünschen ergibt, ist der Alptraum jeder Demokratie: eine negative Mehrheit. Die Parlamentarier sind sich einig bloß darin, was sie nicht wollen: den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal. Er bietet keine Lösung für die Nordirland-Frage, deren Beantwortung durch den sogenannten Backstop in eine unbestimmte Zukunft verschoben wird. Den einen ist der Bruch mit der EU überdies zu hart, den anderen nicht hart genug. Die Remainers sind sowieso gegen jeden Deal, weil sie hoffen, ein Scheitern könnte dazu führen, dass es sich die Briten bei einem zweiten Referendum noch einmal anders überlegen. So fordern die einen, den Willen der britischen Nation zu respektieren, und den Austritt endlich zu beschließen, und die anderen fordern, den Willen der britischen Nation zu respektieren, und sie vor dem Austritt noch einmal zu befragen. Und die Schotten meinen, sie seien sowieso eine ganz eigene Nation, die sich um die Meinung der restlichen Briten nicht kümmern müsse. Welch befriedende Wirkung die direkte Demokratie doch entfaltet! Wie sie die Risse in der Gesellschaft kittet, allgemeine Versöhnung auch nach härtestem Streit stiftet!

Ergibt sich aus diesem ganzen Elend irgendetwas Segensvolles? Abgesehen von ein paar heiteren Stunden, die man in der Betrachtung der unterhaltsamen Sitzungen des britischen Unterhauses verbracht hat? Einige Lehren lassen sich aus dem Geschehen doch ziehen. Vor allem eine: Es ist mit der direkten Demokratie nicht so einfach und gut bestellt, wie es manch Basisdemokrat und manche Basisdemokratin gerne hätte. Und dies in sehr grundsätzlichem Sinne. Kann es so etwas wie eine direkte Demokratie überhaupt geben? Die Vorstellung, unmittelbare Selbstregierung des Volkes sei möglich, gründet auf sehr fragwürdigen Voraussetzungen. Zum einen schon auf der, das Volk wisse, was es wolle. Weiterhin muss man auch davon ausgehen, im Volk lasse sich, wenn schon keine Einstimmigkeit, dann doch eine Mehrheit für eine klare Entscheidung in jeder Frage finden. Was aber, wenn keine angebotene Möglichkeit eine Mehrheit findet? Und gibt es in der Sphäre der Gesellschaft überhaupt so etwas wie Unmittelbarkeit? Selbst in der direktesten der Demokratien, der Versammlung aller Bürger einer Gemeinde auf dem Marktplatz, formt sich der Wille der Mehrheit erst in der Debatte, die weniger durch die kollektive Weisheit als durch die Lautstärke, das rednerische Geschick und das Charisma der parteiischen Agitatoren bestimmt wird. In unserer modernen, kapitalistischen Massengesellschaft macht der Einfluss der Medien (also wörtlich: der Mittler) eine unmittelbare Willensbildung des Publikums erst recht zur Illusion.

Unmöglich können die Leute über alles Bescheid wissen, weshalb sie sich oft irren und manchmal täuschen lassen. Es gibt schwierige Probleme, die sich nicht auf einfache Alternativen eindampfen lassen, in einer Volksabstimmung kann man aber nur schlichte Entscheidungsfragen stellen. Das funktioniert beim Rauchverbot oder der Umgehungsstraße, bei der Zukunft der Menschheit wird’s schwierig. Und selbst wenn das Volk es schafft, sich umsichtig und frei zu entscheiden, steht schon fünf Minuten nach der Entscheidung die Frage im Raum: Hat es jetzt eigentlich immer noch die gleiche Meinung? Was ist, wenn neue Tatsachen bekannt geworden sind, wenn Lügen enthüllt wurden, die das Volk getäuscht haben könnten? Was ist mit den Bürgern, die seit der vergangenen Abstimmung volljährig geworden sind? Was mit denen, die seitdem eingebürgert wurden? Was ist mit den Einwohnern ohne Stimmrecht? Auf einige diese Fragen lassen sich vielleicht technische Antworten finden, aber klar scheint mir: Es ist Selbsttäuschung, sich von Volksabstimmungen ohne umfassenden gesellschaftlichen Wandel eine Verwirklichung der demokratischen Idee zu erhoffen. Die plebiszitäre Demokratie ist auf andere Art nicht weniger fehlerhaft als die repräsentative. Die vermeintlich direkte Selbstregierung umgeht die Korruption von Eliten, aber die Manipulation durch Interessengruppen findet andere Wege. Wer sich besinnungslos dem Glauben an die Reinheit des unverdorbenen Volkswillens hingibt, endet früher oder später enttäuscht in Menschenverachtung.

Endet die Geschichte namens Brexit nun als Komödie oder Tragödie? Traurig ist auf jeden Fall die Einsicht: Wie viel politische Kraft lässt sich in nationalen Souveränitätskämpfen vergeuden, die besser der sozialen Emanzipation gewidmet wäre! Aber der Brexit selbst wird, davon bin ich überzeugt, am Ende doch noch gelingen. Und zwar durch einen parlamentarischen Kompromiss über Fraktionsgrenzen hinweg, der einen weichen Austritt bringt. So könnte auch die repräsentative Demokratie noch ihre Ehre retten. Die plebiszitäre hingegen, die von den autoritären Kräften unserer Zeit als Zukunftsmodell angepriesen wird, hätte vor allem ihre Defekte offenbart. Das wäre vielleicht kein glückliches, aber auch nicht das schlechteste Ende.

Termine der Woche

Am Freitag (29. März) bin ich erstmals als Autor zu Gast im Periplaneta Literaturcafé Berlin. Es wird ein literarisch-musikalischer Abend: Der Liedermacher Christoph Theussl, stammend aus Österreich und zugange in München, u.a. bei der Lesebühne Schwabinger Schaumschläger, spielt einige seiner größten Hits, und ich lese ein paar neue und alte Geschichten. Das wird fesch! Los geht es um 20 Uhr.

Am Sonnabend (30. März) bestreite ich gemeinsam mit den Kollegen Wolfgang Schaller, Jens-Uwe Sommerschuh und Peter Ufer, die allesamt wie ich für die Sächsische Zeitung schreiben, eine satirische Lesung im Tom-Pauls-Theater in Pirna. Musikalisch werden wir begleitet von der fetzigen Boogie-Kapelle 2Hot. Los geht es um 19:30 Uhr.