Es war zu erwarten, ist aber doch recht schade, dass der eben veröffentlichte zweite Sachsen-Monitor vor allem dazu benutzt wird, ein paar Zahlen herauszuklauben, um mal wieder aufs Neue zu beweisen, wie übel in Sachsen alles ist. Dabei könnten gerade Linke aus den Ergebnissen der Umfrage einiges darüber erfahren, wieso es für sie in Sachsen (und anderswo) so schlecht läuft.
Ist es nicht ganz erstaunlich, dass die größte Sorge der Sachsen der wachsende Gegensatz zwischen Arm und Reich ist? 83 Prozent der Sachsen geben dies an. 94 Prozent der Sachsen halten es für wichtig, dass demokratische Regierungen die soziale Ungleichheit abbauen und nur 20 Prozent sind der Meinung, dies geschehe zurzeit schon in ausreichendem Maße. Knapp die Hälfte der Sachsen meint, es gehe in Deutschland ungerecht zu. 68 Prozent meinen, es gebe keine echte Demokratie in Deutschland, weil die Wirtschaft das Sagen habe und nicht die Parlamente. Es gibt also ohne Zweifel Ansatzpunkte dafür, Menschen von linker Politik zu überzeugen, die ja zuerst auf Gleichheit und Gerechtigkeit zielt. Warum gelingt dies nicht?
Der erste Grund ist der banalste: Die große Mehrheit der Sachsen ist mit ihren persönlichen Lebensumständen zufrieden. 77 Prozent der Befragten halten ihre eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse für sehr gut oder eher gut, nur 22 Prozent sehen sie als eher schlecht oder sehr schlecht an. Es ist das eine, eine abstrakte Ungerechtigkeit zu beklagen, etwas anderes, selbst unter Armut, Ausbeutung, Ungewissheit, Hunger oder Obdachlosigkeit zu leiden. Solange es den meisten leidlich gut geht, lässt sich mit dem Thema soziale Gerechtigkeit kaum jemand mobilisieren. Das schwache Abschneiden der Parteien, die bei den letzten Wahlen auf eine solche Strategie gesetzt haben, belegt dies wohl.
Nun gibt es aber zweifellos auch eine Menge Menschen in Sachsen, denen es tatsächlich nicht gut geht, weil sie arbeitslos sind oder in prekären Verhältnissen leben. Warum können linke Parteien oft nicht einmal deren Unzufriedenheit in Unterstützung umwandeln? Zum einen, weil gerade die Leute, die sich ungerecht behandelt fühlen, die pessimistisch und mit der bestehenden Demokratie unzufrieden sind, seltener zur Wahl gehen oder sich politisch engagieren. Aktiv sind hingegen die Gebildeten, die Besserverdienenden, die Zufriedenen. Zum zweiten: Wenn die Unzufriedenen wählen, dann eher rechte Parteien, ja eine rechtsradikale inzwischen sogar am häufigsten. Wir entdecken hier das, was die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten als „das große Paradox“ bezeichnet hat. Rechts wählen nicht nur bürgerliche Gesinnungsrechte, sondern gerade auch viele Arbeiter, Angestellte und Arbeitslose – oft gegen ihre ökonomischen Interessen. Warum?
Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ist nach den Ergebnissen der Umfrage besonders stark bei jenen, die zugleich eine hohe gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufweisen. Anders ausgedrückt: Für die empfundene Ungerechtigkeit werden kaum die Unternehmer verantwortlich gemacht, eher schon die Politiker, am meisten aber die Ausländer, insbesondere die Muslime, daneben auch die Westdeutschen und die Sozialhilfeempfänger. 76 Prozent derjenigen, die finden, dass es in Deutschland ungerecht zugeht, wollen, dass mehr Geld für die deutsche Einheit und weniger für die Integration von Ausländern ausgegeben wird. Angesichts dieser Stimmungslage ist es nicht verwunderlich, dass eine demagogische Anti-Parteien-Partei Erfolg hat, deren Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage lautet: Ihr braven Sachsen hättet mehr, wenn nicht die Politiker Ausländer ins Land holen würden, die Geld fürs Nichstun bekommen!
Das große Paradox trägt gelegentlich geradezu absurde Züge, so etwa wenn fast ein Drittel der sächsischen Arbeitslosen die Meinung äußert: „Langzeitarbeitslose machen sich auf Kosten anderer ein schönes Leben.“ Na, ihr müsst es ja wissen! So könnte man antworten, ahnte man nicht, dass diese Menschen natürlich nicht von sich selbst sprechen. Sie halten sich für gute, fleißige Arbeitslose, die gerne arbeiten würden. Schmarotzerei und Faulheit sehen sie nur beim schlechten Arbeitslosen, den sie sich vermutlich zumeist als Ausländer vorstellen. Wenn Ausländer arbeiten, ist das allerdings bekanntlich auch nicht gut, denn dann nehmen sie ja den deutschen Arbeitslosen die Arbeitsplätze weg. Wundert sich noch jemand darüber, dass mehr Arbeitslose die AfD als die Linke gewählt haben?
Die Unzufriedenheit mit der Demokratie, das Ungerechtigkeitsempfinden und der Pessimismus sind bei den Sachsen mit niedrigem Bildungsabschluss, niedrigem sozialen Status und niedrigem Lohn am größten. Dass bei eben diesen Sachsen auch die Neigung zum autoritären Denken und zur Feindschaft gegen Minderheiten am größten sind, mag manchen Linken gar nicht beunruhigen: Die Dummen sind eben Rassisten! Ich bin aber klug, darum bin ich keiner! Nachdenklichere Beobachter wird es hingegen traurig stimmen, dass die Linke offenbar zu einer Bewegung der Gebildeten und Besserverdienenden geworden ist, der es immer weniger gelingt, die Unzufriedenheit der Menschen aus Unterschicht und Arbeiterklasse aufzunehmen und in Energie für emanzipatorische Projekte zu verwandeln. Der Rechten ist es gelungen, die Gerechtigkeitsfrage zu okkupieren: Sie hat sie zur Verteilungsfrage im Kulturkampf umgedeutet.
Wie konnte das gelingen? Es liegt in Sachsen (wie im ganzen ehemaligen Ostblock) sicherlich unter anderem daran, dass die Menschen kaum persönlichen Kontakt mit Zuwanderern haben. Selten oder nie Kontakt mit Ausländern haben 53 Prozent der Sachsen am Arbeitsplatz, 70 Prozent in der Nachbarschaft, 73 Prozent im Freundeskreis und 86 Prozent in der Familie. 56 Prozent eben dieser Sachsen halten Deutschland aber für in gefährlichem Maße überfremdet. Angesichts dieser verbreiteten Furcht vor dem, was man gar nicht kennt oder allenfalls aus der Bild-Zeitung zu kennen glaubt, verwundert es nicht, dass fremdenfeindliche Agitation verfängt, zumal sie sich auf Terrorakte und Verbrechen beziehen kann, die wirklich geschehen.
Hinzu kommt ein Mangel an lebendiger Erfahrung mit Demokratie. Dieser Mangel äußert sich in einem vulgären Demokratieverständnis: Wir sind das Volk! Die Politiker sollen machen, was wir wollen! Wenn sie es nicht tun, sind sie Volksverräter, die gestürzt werden müssen! Aus dieser Befindlichkeit erklärt sich der befremdliche Widerspruch, dass zwar 92 Prozent der Sachsen die Demokratie als solche schätzen, sich zugleich aber auch 68 Prozent eine „starke Hand“ und 41 Prozent eine Einheitspartei der „Volksgemeinschaft“ wünschen. Auch diese Vorstellung, der einheitliche Volkswille bedürfe nur einer autoritären Durchsetzung, spielt den Rechtsradikalen in die Hände.
Können denn die Linken irgendetwas ändern und besser machen, um wieder Land zu gewinnen? Ich weiß auch nicht so recht. Vielleicht sollten sie es sich angewöhnen, wieder im Namen aller Arbeitenden, Bürger oder Menschen zu sprechen und weniger als Anwalt einzelner Identitäten. Die Mehrheit gewinnt man vermutlich nicht zurück, wenn man vor allem als Lobbyist von Minderheiten wahrgenommen wird. Und um die Stimmen der Arbeitenden zurückzugewinnen, wäre es möglicherweise klug, wenn die Linke zuerst einmal die Arbeit, die geleistet wird, wieder kräftiger würdigt, bevor sie Utopien des bedingungslosen Einkommens entwirft.
Gibt es Hoffnung für Sachsen? Bei der jüngeren Generation sind die Werte für Menschenfeindlichkeit nicht mehr so erschreckend hoch wie bei der ersten Befragung im Jahr 2016. Die Jüngeren sind es auch, die häufiger Kontakt mit Ausländern haben, was gewiss zum Abbau von Vorurteilen führen wird. Und nach Plänen der Sächsischen Staatsregierung soll nun, schon ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, auch die Erziehung zur Demokratie in den Schulen Einzug halten. Sollte das noch nicht trösten, gelingt dies vielleicht einer letzten Zahl: Jeder zehnte sächsische Beamte kann sich vorstellen, für seine politischen Ziele mit Gewalt zu kämpfen. Die Sachsen, sie sind in besten Händen!
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Hier übrigens das Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen im Jahr 1922: SPD 41,78%, DNVP 19,01%, DVP 18,71%, KPD 10,52%, DDP 8,44%.